Rampe Mitte

von Shirin Sojitrawalla

Berlin, 14. Mai 2018. Liebe Damen und Herren, liebe Wiebke Puls, zur Eröffnung des diesjährigen Theatertreffens, nach sieben Stunden "Faust, ließen sich die Schauspieler und Schauspielerinnen ausgiebig feiern. Alexander Scheer ging im Eifer der stehenden Ovationen so weit, die Zuschauer in der ersten Reihe abzuklatschen. Auch die anderen wirkten weniger wie herkömmliche Schauspieler, sondern wie Rockstars, von denen man sich einen Starschnitt an den Schrank kleben möchte.

Ins Offene, ins Ungewisse

Die Frage ist: Was sind das eigentlich für welche, Schauspieler?

Schauspieler und Schauspielerinnen sind Leute, die sich vorwagen: auf die Bühne, ins Scheinwerferlicht, an die Rampe, ins Offene, ins Ungewisse auch. In Yael Ronens Inszenierung "Point of no Return", deren Ausgangspunkt der Amoklauf von München im Juli 2016 ist, gibt es diesen bezeichnenden Moment, in dem Wiebke Puls sich politisch unkorrekt fragt, warum sie am Abend des Amoklaufs nicht auf der Bühne gestanden habe. Scheinbar empört wendet sie sich ans Publikum und zickt: Sie alle kennen mich – Rampe Mitte!

Ein Kippmoment, in dem das Bühnen-Ich von Wiebke Puls mit den Eitelkeiten ihres Berufsstandes spielt, die wiederum mit den Anforderungen der Tagespolitik kollidieren.

Ungeheure Strahlkraft

Rampe Mitte. Diese Position hat sich Wiebke Puls in den vergangenen 20 Jahren erspielt: im Schauspiel Hannover, am Deutschen Schauspielhaus Hamburg und an den Münchner Kammerspielen, dessen Ensemble sie seit 2005 angehört.

Das Spiel von Wiebke Puls zeichnet sich dabei durch eine ungeheure Strahlkraft aus, die eine grundlegende Liebe zum und Lust am Spielen aussendet, egal was oder wem sie ihre Stimme und Gestalt leiht: Derzeit steht sie etwa als saukomische Madame Ratinois in "Trüffel, Trüffel, Trüffel", als rotgesichtige Zukunftsgestalt in Ersan Mondtags "Das Erbe", oder gemeinsam mit der gehörlosen Schauspielerin Kassandra Wedel im Projekt "Luegen" und natürlich, wie eben gesehen, als herausragend vielseitige Mutter in "Trommeln in der Nacht" auf der Bühne.

trommeln in der nacht3 560 Julian Baumann uAufrecht im Zentrum: Wiebke Puls in der zum Theatertreffen eingeladenen Münchner Inszenierung "Trommeln in der Nacht" von Christopher Rüping © Julian Baumann

In diesen Stücken wagt sie sich auf ganz unterschiedliche Weise vor. Das geht nicht ohne Wagemut, und das ist bloß ein viel schöneres Wort für die allseits geforderte Risikobereitschaft. Wiebke Puls umgeht das Risiko nicht, sondern verlangt geradezu nach einem Spiel, das sich Gefährdungen aussetzt.

Womöglich auch deswegen, weil das der Preis ist für das Privileg "spielen zu dürfen“. Denn daran, dass das Spielen ein Privileg ist, lässt Wiebke Puls auf der Bühne keinen Zweifel. Auf die Frage, welche Rolle sie auf keinen Fall spielen wolle, antwortete sie vor vielen Jahren einmal: "Ich kann mir nicht vorstellen, eine Rolle kategorisch abzulehnen. Das Privileg meines Berufs ist es doch, alles spielen zu dürfen; der Grund meines Berufs, alles spielen zu wollen."

Bereit sich neu zu justieren

An den Münchner Kammerspielen hat sie mittlerweile unter drei sehr verschiedenen Intendanten gewirkt, angefangen bei Frank Baumbauer über Johan Simons bis zu derzeit Matthias Lilienthal. Keine Selbstverständlichkeit. Das zeugt auch von der Bereitschaft, sich immer wieder neu einzulassen, sich neu zu justieren, sich und sein Spiel in Frage stellen zu lassen, auch da wagemutig zu sein. Gut möglich, dass Wiebke Puls auch dem nächsten Intendanten der Münchner Kammerspiele, der dann hoffentlich einmal eine Intendantin sein wird, zur Verfügung steht.

Sicher ist, dass sie sich auch weiterhin ins künstlerische Experiment begeben wird.

Dabei zeigt sich der Wagemut von Wiebke Puls auch in der Art, wie sie ihre Figuren immer wieder mit Grandezza an die Ränder ihrer Existenz führt. Zurzeit beweist sie das in Nicolas Stemanns Version von Strindbergs "Der Vater" aufs Tollwütigste. Ort des Geschehens: Rampe Mitte. In einem waghalsigen Schlussmonolog zertrümmert sie das Mobiliar und zieht unterschiedliche Stimmen in ihrer eigenen zusammen, von kindlich kehlig bis breitbeinig brutal. Eindeutige Geschlechteridentitäten jagt sie zum Teufel, treibt ihre Figur nach allen Regeln der Kunst in den Wahnsinn und rührt sich und uns zu Tränen damit.

Es ist einer jener Glücksmomente im Theater, in denen das Privileg "spielen zu dürfen" mit dem Privileg "zuschauen zu dürfen" in eins fällt.

Ich bedanke mich bei Wiebke Puls für manchen Glücksmoment und gratuliere, auch im Namen von Yvonne Büdenhölzer und Wolfgang Horn zum diesjährigen 3sat-Preis. Extrem herzlichen Glückwunsch!


Die Laudatio wurde am 10. Mai 2018 im Deutsches Theater Berlin im Anschluss an das Theatertreffen-Gastspiel von "Trommeln in der Nacht" gehalten.

 

Shirin Sojitrawalla Dirk Ostermeier uShirin Sojitrawalla, Jahrgang 1968, lebt als freiberufliche Journalistin und Theaterkritikerin in Wiesbaden. Sie arbeitet unter anderen für nachtkritik.de, DIE ZEIT, die taz, den Deutschlandfunk, Theater der Zeit, dpa und Lesart. Seit 2016 ist sie Mitglied der Jury des Berliner Theatertreffens. In der Jury des 3sat-Preises war sie gemeinsam mit Yvonne Büdenhölzer (Leiterin des Berliner Theatrtreffens) und Wolfgang Horn (ZDF-Redaktion Musik und Theater).
Foto © Dirk Ostermeier

 
Hier geht's zur Dankesrede von Wiebke Puls bei der Verleihung des 3sat-Preises.

 

 

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