Der Mensch, ins Verhältnis gesetzt

von Sarah Heppekausen

Bochum/Essen/Herne, 14. Mai 2018. Da ist diese zarte Figur, ein gebrechlicher Mann, vielleicht 20 Zentimeter groß, sein Rücken ist gebeugt, leicht bucklig, sein Gesicht ist schmal, die Augen groß. Bei aller Fragilität ist er doch kraftvoll, weckt mit seiner Berührung einen viel größeren, doppelt so großen, schwereren Mann, der am Boden hockt mit seinen vielen Bündeln und Tüten. Und dann ist da "Punch Agathe" – der vermutlich weltgrößte Kaspar, 18 Meter hoch, weiblich, schwarz. Punch Agathe thront bei der Eröffnung des Figurentheaterfestivals Fidena über dem Vorplatz des Bochumer Schauspielhauses. Ihre Finger rot lackiert, ihre Stiefel goldfarben. Sie positioniert sich offensiv, unübersehbar, eine bombastische Superheldin.

Es sind zwei Extreme, die ganz gut die permanente Stimmungsschwankung bei der Jubiläumsausgabe der Fidena beschreiben. Zauberhafteste Feinstarbeit trifft Vorschlaghammer, auf Rührung folgt Party, auf stummes Puppenspiel folgt textbasiertes Theaterstück. Für Festivalleiterin Annette Dabs ist die alle zwei Jahre stattfindende Fidena Barometer für Entwicklungen im Figurentheater. Zum Jubiläum ist die Ausgabe mit über 30 Produktionen besonders groß. Das Festival wurde 1958 gegründet, Fritz Wortelmann lud damals vor allem internationale Solo-Puppenspieler ein. Annette Dabs, die 1997 die Leitung übernahm, weitete das Spektrum der eingeladenen Künstler*innen und Genres aus. Und propagierte in den vergangenen Jahren ganz gezielt städteübergreifende Kooperationen (zum Beispiel mit dem Essener Grillo Theater oder der Ruhrtriennale), Performances im öffentlichen Raum und große Produktionen auf großen Bühnen (zum Beispiel im Schauspielhaus Bochum). Die Folge: ein größeres Bewusstsein für die Möglichkeiten dieser Sparte. Jetzt ist das Figurentheater kein Stiefkind der Theaterszene mehr. Zumindest Objekte sind auf den großen Bühnen mittlerweile angekommen.

Fidena das kleine Theater Ende Welt2 560"Das kleine Theater am Ende der Welt" © Ezéquiel Garcia-Romeu

Die zarte, gebeugte Männerfigur aus dem "Kleinen Theater vom Ende der Welt" vom französischen Théâtre de la Massue braucht nur eine ganz kleine Bühne. Regisseur und Puppenspieler Ezéquiel Garcia-Romeu bespielt eine Art Kasten, in den die Zuschauer hineinblicken wie in eine Beobachtungsstation. Düster ist es hier. Die Figur des Verwalters dieses Laboratoriums hat etwas Echsenhaftes. Seine Augen leuchten. Jede Bewegung hat eine Folge, jedes Drücken oder Drehen erzeugt ein Geräusch, eine Berührung erweckt Leben. "Das kleine Theater vom Ende der Welt" zeigt anmutige, auch verstörende Kreaturen und bietet eine bewegende Lehrstunde über Mechanik und über das Sein, das ein Werden und Vergehen ist.

Integration von Marionetten auf der Schauspielbühne

Der argentinische Autor und Regisseur Mariano Pensotti ist einer der bekannteren Theatermacher, der für sein Stück "Loderndes Leuchten in den Wäldern der Nacht" eben auch Marionetten auf die große Bühne holt. Die Inszenierung spielt auf gleich mehreren Ebenen, zeigt Puppenspiel, Schauspiel und Film und verschachtelt das alles ineinander bis die Themen sich überschneiden und die Figuren wiederkehren. Da ist die Revolutionshistorikerin Estelle, die zur Frauenrechtlerin Alexandra Kollontai forscht und ihre Tochter vor frauenverachtenden TV-Jobs warnt. Sie schaut das Theaterstück über die Guerillakämpferin Sonja, die aus Kolumbien zurück nach Deutschland kommt, wo ihre Familie gerade ein Musical über sie produziert. Die wiederum schauen den Film über eine feministische Fernsehmoderatorin aus Buenos Aires, die sich mit den strippenden Nachfahren russischer Emigrant*innen trifft. Einer von denen ist Kollontais Enkel. Und überhaupt landet man mit dem Problem der Ausbeutung dann wieder bei der russischen Revolutionärin.

Fidena mariano pensotti 560 c grupo marea"Loderndes Leuchten ..." von Mariano Pensotti © Grupo Marea

Pensottis künstlerisch kluge und absolut faszinierende Arbeit ist ein gelungenes Beispiel für die Integration von Marionetten auf der großen Schauspielbühne. Hier sind die Puppen (meist) Ebenbilder der Performer. Sie sind Abbilder, ein Ich, das sich auf der Bühne beobachten lässt. Wie das Stück im Stück (im Stück) offenbaren die Puppen eine zweite, tiefere Schicht. Das ist doch ein guter Trick, um die Gesellschaft zu analysieren und die eigene Rolle zu überprüfen, ohne im Behauptungstheater stecken zu bleiben.

Festivalmotto: "resist!"

Fidena Plakat 280Das Festival Plakat © FidenaAuch thematisch präsentiert Pensotti das offenkundige Anliegen der diesjährigen Fidena. 100 Jahre russische Revolution waren der Anlass für "Loderndes Leuchten", unser Umgang mit politischen Idealen sein Untersuchungsfeld. Das Festivalmotto heißt "resist!" – Notwendigkeit zum und Lust am Widerstand demonstrieren die Festivalmacherinnen immer und überall durch selbstgestrickte pinke Mützen. Die Pussy Hats sind Symbol des Protests gegen die Politik Donald Trumps, für Frauen- und Menschenrechte. Politisches Theater füllt entsprechend das Festivalprogramm, von der als akrobatisch, humorvoll und Gedanken provozierend angekündigten deutschen Erstaufführung von "23 Thoughts About Conflict" des israelischen Künstlerkollektivs Worst Case Scenario, in der vier Performer die unglaublichsten – tatsächlich geschehenen – Konflikte aus einem Jahr, aus ihrem Alltag im Nahen Osten präsentieren. Bis zum blasphemischen "Babylon" des weltweit präsenten Puppenspielers Neville Tranter, das sich mit dem Thema Flucht bitterböse und mit Klappmaulpuppen auseinandersetzt.

Der bislang vergebliche Widerstand kolumbianischer Bauern gegen die größte Steinkohlemine der Welt, die auch deutsche Kraftwerke beliefert und der Landbevölkerung jegliche Lebensgrundlage zerstört, wird in "Carbon" – ein Fidena-Auftragswerk – (mit)verhandelt. Die Kompanie Cie. Freaks und Fremde begibt sich auf eine Weltreise der Kohle, zitiert aus der Bibel von der Erschaffung der Erde, erzählt vom Schweinehirten in Witten, der die Steinkohle entdeckte und spielt O-Töne über Aufstieg und Fall des Bergbaus im Ruhrgebiet ein. Überhaupt wird viel erzählt, getönt, gewerkelt, eingespielt (Filme), dokumentiert und bebildert. "El hombre" – die Puppe, die für den Menschen im allgemeinen stehen soll – geht da irgendwie unter. Diese Kunst-Collage im engen, stickigen schwarzen Zelt verhaspelt sich zum Theaterzirkus.

Bezaubernd bis erschreckend

Da ist der ganz große Aufschlag bei der Eröffnungsparade von Stefanie Oberhoff und der australischen Kompanie Snuff Puppets mit Punch Agathe, mit lebensgroßen Krokodilen und Nilpferden, mit Maulwürfen und Mutanten, mit kruden Geschöpfen und lauter Kapelle doch beeindruckender in seiner verstörenden Direktheit, in seinem Rebellentum, das sich weithin Aufmerksamkeit einholt.

Fidena reconciliation attempt 560"Reconciliation attempt ..." von Jakob und Pieter Ampe © Phile Deprez

Aufmerksamkeit für ein Festival, für eine Theaterszene, die sich so vielschichtig mit dem Menschen auseinandersetzt, kann es gar nicht genug geben. Jakob und Pieter Ampe brauchen in ihrer großartigen Performance "Jake's and Pete's Reconciliation Attempt for the Disputes from the Past" nur sich und ein paar Holzkisten, um mehr über die Beziehung zwischen Brüdern im engeren, Menschen im weiteren Sinne zu "erzählen" als manch mehrstündiges Erzähltheater. Hier sind es die Kisten, die als Objekte dazwischengeschaltet sind, zwischen Mensch und Geschichte, zwischen Körper und Figur. Mal sind es Puppen, mal ist es Materie, die den Menschen im Figurentheater ins Verhältnis setzt. Das ist – in den gelungenen Arbeiten – mal bezaubernd, mal erschreckend, immer berührend.

Das kleine Theater vom Ende der Welt
Konzept, Ausstattung, Puppen, Spiel: Ezéquiel Garcia-Romeu, Dramaturgie: Laurent Caillon, Technik/Maschinerie: Thierry Hett, Sound: Samuel Sérandour, Kostüme: Cidalia da Costa, Myriana Stadjic.
Dauer: 1 Stunde, keine Pause

Punch Agathe – Parade
Leitung: Stefanie Oberhoff, Andy Freer, Stéphane Hisler, Justin Kabangu; Musik: Tim Isfort, Florian Walter, Johannes Werner, STROMBO, Chanting Compression Corps, BelaKongo.
Mitwirkende: Juliane Bröcker, Claude Bwendua, Léa Duchmann, Mirjam Ellenbroek, Giovanna di Filippo, Judith Franke, Coral Gadish, Ali Goss, Mireille Hisler, Huguette Hugembo, Johanna Yasirra-Kluhs, Cèlia Legaz, Mehdi Pinget, Yvonne Dicketmüller, Studierende des Studiengangs Figurentheater der HDMK, Stuttgart u.v.a.

Loderndes Leuchten in den Wäldern der Nacht
Text und Regie: Mariano Pensotti, Bühne und Kostüme: Mariana Tirantte, Musik: Diego Vainer, Licht: Alejandro Le Roux.
Mit: Patricio Aramburu, Esteban Bigliardi, Inés Efrón, Susana Pampin, Laura López Moyano.
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

Carbon – Eine kleine Weltreise der Kohle
Von und mit: Sabine Köhler, Heiki Ikkola. Sounddesign und Live-Musik: Dr. Daniel Williams.
Dauer: 1 Stunde, keine Pause

Jake's and Pete's Reconciliation Attempt for the Disputes from the Past
Konzept, Performance: Jakob Ampe, Pieter Ampe, Mentor: Alain Platel, Szenographie: Jelle Clarisse, Kostüme: An Breugelmans, Produktion: CAMPO, Gent.
Dauer: 1 Stunde, keine Pause

www.fidena.de

 

 

 

 

 

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