Großes kündigt sich an

von Wolfgang Behrens

16. Mai 2018. Als ich noch ein Kritiker und sogar noch Redakteur bei nachtkritik.de war, ließ Kay Voges, Intendant des Schauspiels Dortmund, einmal anfragen, ob er nicht auf einen Plausch in der Redaktion vorbeikommen könne. Nach der allfälligen Auskunft, dass es keine nachtkritik.de-Redaktion gebe (also nicht als konkreten Ort in Gestalt eines eigenen Büros – die Redaktionstreffen finden bis heute in den privaten Wohnungen statt), verabredete man ein Gespräch auf neutralem Terrain. Während einer Redaktionssitzung legten wir fest, wer von uns diesen Termin wahrnehmen solle. Das Los fiel auf mich.

"Wie komme ich zum Theatertreffen?"

Voges und ich trafen uns eines Morgens im Café der Berliner Akademie der Künste. Voges' Auftritt war durchaus eindrucksvoll: Den Augenringen zufolge hatte er seit Wochen nicht geschlafen, und er trug einen recht fadenscheinigen Pullover. Keine Frage also: ein großer Künstler! Am eindrucksvollsten aber war seine völlig unvermittelte Gesprächseröffnung: "Herr Behrens, wie komme ich zum Theatertreffen?"

Ich hätte antworten können: "Kaufen Sie sich doch eine Eintrittskarte, Herr Voges!", aber natürlich wusste ich, dass das nicht die eigentliche Absicht war. Voges' Pech war bloß, dass er an den Falschen geraten war: Damals, 2013, hatte noch kein nachtkritik-Redakteur je einen Sitz in der Theatertreffen-Jury innegehabt. Und ich im Speziellen war eher geeignet, Juroren aus der Jury herauszuschreiben als Regisseure ins Theatertreffen-Tableau hinein. Meine unverbindliche Antwort lautete daher: "Keine Ahnung."

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Voges erzählte mir dann noch auf wirklich mitreißende Weise von seiner kurz bevorstehenden Inszenierung von Thomas Vinterbergs "Das Fest", in der sie etwas wirklich Besonderes probieren wollten, und warb recht offensiv darum, besprochen zu werden. Mich immerhin hat er so rumgekriegt, aber der Planungsdienst (der bei nachtkritik.de monatlich rotiert) für Februar 2013 beschloss, in Dortmund doch lieber den Live-Code von Daniel Hengst besprechen zu lassen, der einen Tag vor der Voges-Inszenierung Premiere hatte. Das klang einfach diskursförmiger als die x-te Produktion von "Das Fest", welches ja landauf landab so ziemlich jedes Theater irgendwann einmal ins Programm nimmt. Ich war von Voges immerhin derart korrumpiert, dass ich diese Entscheidung noch einmal zu drehen versuchte, allerdings ohne Erfolg.

Die weitere Geschichte ist bekannt: Auch ohne nachtkritik-Rezension wurde "Das Fest" für den Theaterpreis "Der Faust" nominiert, Voges' Das goldene Zeitalter gastierte bereits ein Jahr später beim Heidelberger Stückemarkt, und 2017 war es dann endlich so weit: Mit der Borderline Prozession wurde Kay Voges zum Theatertreffen eingeladen. Er hatte es tatsächlich geschafft! Sorry, Herr Voges, dass ich persönlich dazu keinen Beitrag leisten konnte …

"Diesmal wird es wirklich toll! Ihr müsst kommen!"

Die Episode illustriert ein grundsätzliches Problem: Es gibt Momente, in denen man am Theater merkt, dass etwas Besonderes gelingt. Und selbstverständlich stellt sich dann das Bedürfnis ein, dass dieses Besondere auch wahrgenommen werde – und zwar möglichst überregional. Als ich noch ein Redakteur war, sind daher nicht eben wenige Mails eingetrudelt, in denen Regisseur*innen, Dramaturg*innen, Pressereferent*innen oder wer auch immer ihre Produktionen bewarben: "Diesmal wird es wirklich toll! Ihr müsst kommen!" Ich habe diese Mails in der Regel genervt weggeklickt oder – im besten Fall – genervt beantwortet. Es war halt nicht unterscheidbar, ob da nur routinemäßig die Werbetrommel gerührt wurde oder ob sich da wirklich etwas Großes ankündigte, das nun nie im Lichte einer Nachtkritik in die Öffentlichkeit treten würde. Und wir Redakteur*innen pochten ohnehin auf die Unbestechlichkeit unserer Auswahl und – das Argument schlechthin! – auf die einzuhaltende Kostendisziplin.

In dem Wissen um diese Dinge schied ich von nachtkritik.de mit dem Versprechen, niemals eine solche Mail zu schreiben, in der ich den Ex-Kolleg*innen nahelegte, doch bitte unbedingt diese oder jene Wiesbadener Produktion ins nachtkritische Programm zu nehmen. Ich hielt mich an dieses Versprechen genau einen Monat lang: Dann jedoch erschien mir die allererste Produktion, die ich dramaturgisch betreute, vom Ansatz her so besonders, dass ich eine Mail schrieb, in der ich darlegte, warum diese Inszenierung ganz selbstverständlich von nachtkritik.de besprochen werden müsse. Ich erhielt eine genervte (und übrigens abschlägige) Antwort.

Aber ich werde nicht aufgeben! Wenn ich demnächst mal wieder in Berlin bin, werde ich die beiden Chefredakteur*innen um ein Gespräch ersuchen. Und ich werde mit der Tür ins Haus fallen: "Jetzt mal unter uns, Leute, ihr müsst es doch wissen: Wie kommt Wiesbaden zum Theatertreffen?"

 

Wolfgang Behrens, Jahrgang 1970, ist seit dieser Spielzeit Dramaturg am Staatstheater Wiesbaden. Zuvor war er Redakteur bei nachtkritik.de. Er studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Mathematik in Berlin. Für seine Kolumne "Als ich noch ein Kritiker war" wühlt er u.a. in seinem reichen Theateranekdotenschatz.


Zuletzt erstellte Wolfgang Behrens eine kleine Gruppenkunde der Gattung 'Theaterkritisierende*r'.

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Kommentare  
Kolumne Wolfgang Behrens: 50 Prozent
Wie ein bekannter Künstler mal sagte: Die Energie muss man verteilen, 50% Kunst und 50% Marketing.
Der 100%-Künstler wird nicht gesehen
Kolumne Wolfgang Behrens: das Debakel
Dachte ich mir schon, dass das wie für #1, für eine Menge jüngere Künstler durchgeht. Das wäre dann schon das vollständige Debakel.
Kolumne Wolfgang Behrens: Markt vor Inhalt
#2
Es ist genau umgedreht. Die jungen Künstler lernen Marketing von der Pike auf, weil es ja so wichtig ist und vergessen, was sie eigentlich vermarkten möchten.
Das ist das momentane Debakel. Markt vor Inhalt.
Kolumne Wolfgang Behrens: Zukunft
Es gibt 100%ige Künstler_innen wie es 100%ige Dramatiker_innen gibt. Sie kümmern sich nur nicht um ihre Vermarktung, daher kennen wir sie nicht.

Sie schreiben an der "Zukunft des Dramas", von dem wir Gegenwärtige nichts wissen.
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