Öxit, Wixit und ein grünes Paradies

von Theresa Luise Gindlstrasser

Wien, 25. Mai 2018. Die Humanist*innen haben gewonnen. Das heißt: Wir drei aus der grünen Gruppe "für eine bessere Welt!" konnten das simulierte Wien für unsere Entscheidungen begeistern. Bei "Vienna – All Tomorrows" am Volkstheater Wien ist’s 2023, Österreich hat den Öxit hinter sich und Wien macht sich an den Wixit heran. Ein Stadtstaat muss gestaltet werden. Drei politische Gruppierungen mit je drei Spielenden rivalisieren um die Algorithmus-Gunst und betreiben Stadtstaat-Politik.

Vienna2 560 Reinhold Bidner uStadtstaat-Politik in rot-grün-blau: Spieler*innen in "Vienna" © Reinhold Bidner/Volkstheater

Das Volkstheater nennt die Veranstaltung eine "spekulative Simulation". Nach einem Konzept von Georg Hobmeier ist in Zusammenarbeit mit der Dramaturgin Anita Augustin ein 240 mögliche Entscheidungsfragen umfassendes Game Theater entstanden. Hobmeier und Reinhold Bidner, verantwortlich für visuelle Gestaltung und Video, arbeiten auch im Netzwerk gold extra zusammen. Bekannt wurde diese österreichische Künstler*innengruppe vor allem mit dem Computer-Spiel "Frontiers", in dem eine Flucht nach Europa aus unterschiedlichen Perspektiven modifiziert werden kann.

Gestaltung des politischen Tagesgeschäfts

Erstmal bin ich fröhlich, in die Humanist*innen-Gruppe gelost worden zu sein. Wir stehen für Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit, Tierschutz und Basis-Demokratie. Mein Kostüm ist grün und weit. Wir halten unser Tablet bereit. Volkstheater-Schauspieler Thomas Frank präsentiert als Nachrichtensprecher im "Wiener Audio-Visuellen-Medien-Kanal" die Ausgangssituation: Michael Häupl, SPÖ-Politiker und bis 24. Mai 2018 Bürgermeister von Wien, übernimmt 2023, nach schwerem Unfall und Umbau zum Cyborg, repräsentative Funktionen im Stadtstaat Wien. Eine paritätische Kommission, bestehend aus den Humanist*innen, den blau leuchtenden Technokrat*innen und den rot gekleideten Autoritären, organisiert das politische Tagesgeschäft.

Vienna3 560 Reinhold Bidner uTech ist Top? Das gilt es zu entscheiden © Reinhold Bidner/Volkstheater

Der neun mal neun Meter große Stadtplan von Wien am Boden des Volx Margareten legt in der Draufschau am Tablet drängende Fragen offen, die von uns zu beantworten sind. Eine Künstler*innengruppe besetzt eine U-Bahn Station. Räumen oder nicht? Wir klicken: Wir entscheiden für die Kunstfreiheit, das werden wir noch öfter tun. Auf großer Leinwand erscheint ein News-Hinweis und informiert über unzufriedene Wiener Linien-Kund*innen. Aber wir scheinen im Sinne unserer Zielgruppe oder unseres politischen Auftrags gehandelt zu haben, denn das grüne Rating geht eins nach oben. Die Sicherheit der Stadt bleibt in Ordnung, ebenso Infrastruktur und Stimmung. Nur der Faktor Gesundheit fällt rapide.

Im Wettlauf mit dem Entscheidungs-Stress

Kein Wunder. Denn im ersten gemeinsamen Plenum entscheiden Technokrat*innen und Autoritäre bei bestehender Arbeits-Knappheit für die 60-Stunden Arbeitswoche. Dieser Moment der gemeinsamen Diskussion offenbart das Aufregendste und das Ärgerlichste an der gesamten Produktion. Aufregend ist, dass die Diskussionen stets zwischen Autoritären und Humanist*innen aufflammen, die moralisch elastischen Technokrat*innen geben das Zünglein an der Waage. Wir argumentieren und argumentieren, versuchen die Technokrat*innen von der Sinnhaftigkeit einer 20-Stunden Arbeitswoche zu überzeugen. Aber: Die im öffentlichen Diskurs weitaus präsenteren "autoritären" Floskeln geben der roten Gruppe überwältigend viel asoziales, elitaristisches Sprachmaterial an die Hand, um die Blauen zu überzeugen.

Vienna 560 Reinhold Bidner uAuf dem Tablet: national-elitaristisches Sprachmaterial © Reinhold Bidner/Volkstheater

Beziehungsweise: Vielleicht hätten wir nur etwas mehr Zeit gebraucht. Denn das Ärgerlichste an "Vienna – All Tomorrows" ist der Stress. In knappen 60 Minuten vergehen 25 Jahre. Es gibt Bürgerkrieg in Europa, Wixit-Jubiläums-Hymne und immer wieder Nachrichten-Sendung. 2048 ist Schluss. Irgendjemand hat dann gewonnen. Erst spät verstehen wir, dass jede Frage nur einmal auf der Stadtkarte aufploppt, dass also wer schneller ist, mehr Fragen beantworten kann, mehr Entscheidungen im Sinne der eigenen Fraktion treffen kann. Die Diskussionen werden kürzer, schließlich wird nicht mehr argumentiert, wir wollen einfach "eine bessere Welt!".

Und die haben wir bekommen. Nadine Quittner verkündet im Nachrichtensprech ein grünes Paradies. Bei "Vienna – All Tomorrows" wird Game-Logik um Augmented Reality-Elemente und Kostümparty-Rollenspiel-Charme ergänzt. Es geht um moralische Herausforderungen und strategisches Denken. Gruppendynamiken und Rhetorik. Und um Schnelligkeit. Dafür ist der Wein im grünen Paradies dann auch alkoholfrei. Wenn das der Man-bringe-den-Spritzwein-Michi-Häupl wüsste!

 

Vienna – All Tomorrows
Konzept und Leitung: Georg Hobmeier
Text: Georg Hobmeier und Anita Augustin, Programmierung: Christian Knapp, Visuelle Gestaltung/Bühne: Clemens Scott, Visuelle Gestaltung/Video: Reinhold Bidner, Kostüme: Geraldine Massing, Soundgestaltung: Wobblersound, Mitarbeit Gamedesign: Angie Hanko, Dramaturgie: Veronika Maurer.
Im Video: Nadine Quittner, Thomas Frank.
Dauer: circa 60 Minuten

www.volkstheater.at

 

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