Der Fremde bleibt fremd

von Andreas Schnell

Oldenburg, 24. Juni 2008. Am Anfang: ein Altersheim. Ein Klavier, ein paar Stühle. Gebrechliche Menschen schleppen sich auf die Bühne, darunter eine Klavierspielerin. Ein alter Mann hat einen Luftballon bei sich. Einen von der Art, wie sie auch im Foyer und in der Bar der Oldenburger Exerzierhalle herumliegen. Die alte Dame spielt ein paar Töne, dann bricht sie über den Tasten zusammen. Aus dem Off vermeldet eine Stimme, die Mutter sei gestorben. Es handelt sich um Meursaults Mutter.

Nach dem Tod die Sonnenbrille

Dann taucht auch er auf: in Badehose mit Sonnenbrille, bereit für einen Tag am Strand, als ihn die Nachricht vom Tod seiner Mutter erreicht. Doch er will sie nicht noch einmal sehen. Macht sich lieber über die alten Leute lustig und geht mit Marie, einer ehemaligen Kollegin, schwimmen, ins Kino, ins Bett, wie wir annehmen müssen.

Im Folgenden sehen wir Meursaults Alltag. Sein Nachbar, der Zuhälter Raymond wendet sich mit dem Anliegen an ihn, für ihn einen Brief zu schreiben. Er hat Ärger wegen einer ehemaligen Geliebten, einer Maurin, die er verprügelt hat. Als Meursault, Raymond und Marie an den Strand fahren, geraten sie an eine Gruppe Araber, die sich an Raymond wegen der Verprügelten rächen wollen. Es kommt zum Handgemenge. Später kehrt Meursault allein an den Ort des Kampfes zurück und erschießt den Araber, der Raymond angegriffen hat.

Im zweiten Teil werden wir Zeuge des Gerichtsverfahrens gegen Meursault. Sein Verteidiger will für Meursault Trauer um seine Mutter als strafmildernd geltend machen, scheitert aber an dessen Gleichgültigkeit. Meursault wird zum Tode verurteilt. 

Badehose, arabische Musik, das Publikum als Jury 

Vor acht Jahren urteilte ein Kritiker anlässlich einer Aufführung in München: "Camus' 'Fremder' als Drama – Nur ein Bastard". Da durfte man gespannt sein, ob Albrecht Hirche es in Oldenburg besser machen würde. Er hat zumindest eine ganze Menge Ideen, die er mit seinem kleinen Ensemble umsetzt. Das Bühnenbild in der Exerzierhalle ist in seiner Einfachheit und Vielseitigkeit gelungen. Es gibt ferner komödiantische Exkurse wie den sächselnden Rechtsanwalt (ausgesprochen beweglich und gewitzt: Denis Larisch).

Die verschiedenen Episoden fließen mitunter elegant ineinander. Hirche versucht sich an Schockmomenten, er lässt laute Musik während des Bühnenumbaus spielen, arbeitet mit Stroboskop sowie allerlei Klischees (Araber mit Kopftuch, mehr oder weniger latent homosexuelle Gefängniswärter) und macht überhaupt viel Remmidemmi. Sogar noch für die Pause war dem Regisseur etwas eingefallen: arabische Musik. Schließlich spielt "Der Fremde" in Algerien.

Weniger wäre mehr gewesen

Was indes bei alledem unterzugehen droht, war: der Fremde. Der hat es in einem Roman gewiss einfacher. Da kann er monologisieren, wie es ihm beliebt. Hier aber muss sich Meursault (Vincent Doddema) immer wieder gegen allerlei Gepolter durchsetzen. Erst am Ende geraten seine Betrachtungen – unterlegt mit existenzialistischem Jazz – erfreulich kongruent zu seiner stets behaupteten Gleichgültigkeit. Man will es ja nicht allzu oft sagen, das von dem Weniger, das mehr gewesen sein könnte, aber hier trifft es leider zu. Da wandelt im ganzen ersten Teil die Mutter im Hintergrund wie ein Schatten, der Meursaults Haltung erklären könnte. Aber wie er das tun könnte? Wir wissen es auch am Ende nicht.

Der Luftballon? Die Fragilität und Leere der menschlichen Existenz? Wer weiß. Dass die Gerichtsverhandlung eine Farce ist, machen die allesamt lächerlichen Figuren schon deutlich: der im Halbdunkel Freudensprünge vollführende strenge Oberstaatsanwalt, der eine Art Hessisch sprechende Untersuchungsrichter (beide: Jens Ochlast), die grenzdebile Gerichtssekretärin (Rika Weniger). Und als sich das Verfahren etwas beruhigt hat, erlebt die Inszenierung einen ihrer besten Momente: Das Theaterpublikum wird zur Jury. Wir alle also als die Gesellschaft, die rechtschaffen über den armen Meursault richtet.

Kein Lob der Gleichgültigkeit 

Oder ist er vielleicht gar nicht arm dran? Wie er da Dinge sagt wie: "Alle vernünftigen Menschen wünschen sich doch den Tod derer, die sie lieben." Und: "Bei der Vorstellung, eine Hinrichtung zu sehen und sich danach übergeben zu können, steigt mir eine Woge giftiger Freude ins Herz." Seine eigene Hinrichtung aber bleibt Meursault so gleichgültig wie alles andere. Und uns leider irgendwie auch. Zu fremd bleibt uns der Fremde. Dabei hätten wir ihm gerne länger zugehört. Leider ist er in Oldenburg nicht recht dazu gekommen. Zu vieles lenkte von ihm ab, was nicht zu Ende geführt wurde.


Der Fremde
nach dem Roman von Albert Camus
Regie: Albrecht Hirche, Bühne und Kostüme: Alain Rappaport, Dramaturgie: Jörg Vorhaben.
Mit: Vincent Doddema, Denis Larisch, Jens Ochlast, Norbert Wendel, Rika Weniger, Ingeborg Meyer.

www.staatstheater.de

 

Mehr von Albrecht Hirche: bei den Kleist-Festtagen im Oktober 2007 inszenierte er Oliver Schmaerings Hermanns Schlacht.

 

 

Kritikenrundschau

Reinhard Tschapke von der Nordwest-Zeitung (26.6.) findet die Inszenierung in der Exerzierhalle "eher quälend". Man hätte "ein wenig Prosa" aus dem Roman "geschnippelt" und lasse sie "albern" aufsagen. "Trockenschwimmer" seien zu sehen, die man "schon mal gesehen" hätte: "im Kindergarten". "Wo steht eigentlich, dass Schauspieler alles machen müssen, was sie machen sollen?" Der Abend schwanke "zwischen anbiedernder Einfachkomik und aufgesetztem Ernst".

In der Welt (26.6.) schrieb MN, dass es prima sei, wie der Intendant Markus Müller die Exerzierhalle als Nebenspielstätte hergerichtet hätte, dass es aber "betrüblich" wäre, was Albrecht Hirche dort nun veranstalte. Hirche sei ein Regisseur "des sehr bewegten, bis zum Kasperlhaften übersteigerten Grotesktheaters, der dem unaufgeregt erzählenden, jeder Reflexion sich enthaltenden Stationendrama eines sich und der Welt gegenüber Gleichgültigen permanent in die Parade fährt." Einmal hätte das Publikum sogar im Chor sagen sollen: "Guten Morgen Herr Oberstaatsanwalt!" Alles sei "zu laut, zu überdreht und banal".

 

Der Fremde bleibt fremd

von Andreas Schnell

Oldenburg, 24. Juni 2008. Am Anfang: ein Altersheim. Ein Klavier, ein paar Stühle. Gebrechliche Menschen schleppen sich auf die Bühne, darunter eine Klavierspielerin. Ein alter Mann hat einen Luftballon bei sich. Einen von der Art, wie sie auch im Foyer und in der Bar der Oldenburger Exerzierhalle herumliegen. Die alte Dame spielt ein paar Töne, dann bricht sie über den Tasten zusammen. Aus dem Off vermeldet eine Stimme, die Mutter sei gestorben. Es handelt sich um Meursaults Mutter.

Nach dem Tod die Sonnenbrille

Dann taucht auch er auf: in Badehose mit Sonnenbrille, bereit für einen Tag am Strand, als ihn die Nachricht vom Tod seiner Mutter erreicht. Doch er will sie nicht noch einmal sehen. Macht sich lieber über die alten Leute lustig und geht mit Marie, einer ehemaligen Kollegin, schwimmen, ins Kino, ins Bett, wie wir annehmen müssen.

Im Folgenden sehen wir Meursaults Alltag. Sein Nachbar, der Zuhälter Raymond wendet sich mit dem Anliegen an ihn, für ihn einen Brief zu schreiben. Er hat Ärger wegen einer ehemaligen Geliebten, einer Maurin, die er verprügelt hat. Als Meursault, Raymond und Marie an den Strand fahren, geraten sie an eine Gruppe Araber, die sich an Raymond wegen der Verprügelten rächen wollen. Es kommt zum Handgemenge. Später kehrt Meursault allein an den Ort des Kampfes zurück und erschießt den Araber, der Raymond angegriffen hat.

Im zweiten Teil werden wir Zeuge des Gerichtsverfahrens gegen Meursault. Sein Verteidiger will für Meursault Trauer um seine Mutter als strafmildernd geltend machen, scheitert aber an dessen Gleichgültigkeit. Meursault wird zum Tode verurteilt. 

Badehose, arabische Musik, das Publikum als Jury 

Vor acht Jahren urteilte ein Kritiker anlässlich einer Aufführung in München: "Camus' 'Fremder' als Drama – Nur ein Bastard". Da durfte man gespannt sein, ob Albrecht Hirche es in Oldenburg besser machen würde. Er hat zumindest eine ganze Menge Ideen, die er mit seinem kleinen Ensemble umsetzt. Das Bühnenbild in der Exerzierhalle ist in seiner Einfachheit und Vielseitigkeit gelungen. Es gibt ferner komödiantische Exkurse wie den sächselnden Rechtsanwalt (ausgesprochen beweglich und gewitzt: Denis Larisch).

Die verschiedenen Episoden fließen mitunter elegant ineinander. Hirche versucht sich an Schockmomenten, er lässt laute Musik während des Bühnenumbaus spielen, arbeitet mit Stroboskop sowie allerlei Klischees (Araber mit Kopftuch, mehr oder weniger latent homosexuelle Gefängniswärter) und macht überhaupt viel Remmidemmi. Sogar noch für die Pause war dem Regisseur etwas eingefallen: arabische Musik. Schließlich spielt "Der Fremde" in Algerien.

Weniger wäre mehr gewesen

Was indes bei alledem unterzugehen droht, war: der Fremde. Der hat es in einem Roman gewiss einfacher. Da kann er monologisieren, wie es ihm beliebt. Hier aber muss sich Meursault (Vincent Doddema) immer wieder gegen allerlei Gepolter durchsetzen. Erst am Ende geraten seine Betrachtungen – unterlegt mit existenzialistischem Jazz – erfreulich kongruent zu seiner stets behaupteten Gleichgültigkeit. Man will es ja nicht allzu oft sagen, das von dem Weniger, das mehr gewesen sein könnte, aber hier trifft es leider zu. Da wandelt im ganzen ersten Teil die Mutter im Hintergrund wie ein Schatten, der Meursaults Haltung erklären könnte. Aber wie er das tun könnte? Wir wissen es auch am Ende nicht.

Der Luftballon? Die Fragilität und Leere der menschlichen Existenz? Wer weiß. Dass die Gerichtsverhandlung eine Farce ist, machen die allesamt lächerlichen Figuren schon deutlich: der im Halbdunkel Freudensprünge vollführende strenge Oberstaatsanwalt, der eine Art Hessisch sprechende Untersuchungsrichter (beide: Jens Ochlast), die grenzdebile Gerichtssekretärin (Rika Weniger). Und als sich das Verfahren etwas beruhigt hat, erlebt die Inszenierung einen ihrer besten Momente: Das Theaterpublikum wird zur Jury. Wir alle also als die Gesellschaft, die rechtschaffen über den armen Meursault richtet.

Kein Lob der Gleichgültigkeit 

Oder ist er vielleicht gar nicht arm dran? Wie er da Dinge sagt wie: "Alle vernünftigen Menschen wünschen sich doch den Tod derer, die sie lieben." Und: "Bei der Vorstellung, eine Hinrichtung zu sehen und sich danach übergeben zu können, steigt mir eine Woge giftiger Freude ins Herz." Seine eigene Hinrichtung aber bleibt Meursault so gleichgültig wie alles andere. Und uns leider irgendwie auch. Zu fremd bleibt uns der Fremde. Dabei hätten wir ihm gerne länger zugehört. Leider ist er in Oldenburg nicht recht dazu gekommen. Zu vieles lenkte von ihm ab, was nicht zu Ende geführt wurde.


Der Fremde
nach dem Roman von Albert Camus
Regie: Albrecht Hirche, Bühne und Kostüme: Alain Rappaport, Dramaturgie: Jörg Vorhaben.
Mit: Vincent Doddema, Denis Larisch, Jens Ochlast, Norbert Wendel, Rika Weniger, Ingeborg Meyer.

www.staatstheater.de

 

Mehr von Albrecht Hirche: bei den Kleist-Festtagen im Oktober 2007 inszenierte er Oliver Schmaerings Hermanns Schlacht.

 

 

Kritikenrundschau

Reinhard Tschapke von der Nordwest-Zeitung (26.6.) findet die Inszenierung in der Exerzierhalle "eher quälend". Man hätte "ein wenig Prosa" aus dem Roman "geschnippelt" und lasse sie "albern" aufsagen. "Trockenschwimmer" seien zu sehen, die man "schon mal gesehen" hätte: "im Kindergarten". "Wo steht eigentlich, dass Schauspieler alles machen müssen, was sie machen sollen?" Der Abend schwanke "zwischen anbiedernder Einfachkomik und aufgesetztem Ernst".

In der Welt (26.6.) schrieb MN, dass es prima sei, wie der Intendant Markus Müller die Exerzierhalle als Nebenspielstätte hergerichtet hätte, dass es aber "betrüblich" wäre, was Albrecht Hirche dort nun veranstalte. Hirche sei ein Regisseur "des sehr bewegten, bis zum Kasperlhaften übersteigerten Grotesktheaters, der dem unaufgeregt erzählenden, jeder Reflexion sich enthaltenden Stationendrama eines sich und der Welt gegenüber Gleichgültigen permanent in die Parade fährt." Einmal hätte das Publikum sogar im Chor sagen sollen: "Guten Morgen Herr Oberstaatsanwalt!" Alles sei "zu laut, zu überdreht und banal".

 
Kommentare  
Hirches Camus: Sternstunde der Equilibristik
Weniger wäre mehr gewesen... dem stimme ich nicht zu. Ist mir zu bulimisch gedacht. In Oldenburg war eine Sternstunde der Equilibristik zu sehen: 30 Teller in der Luft und jeder konnte es sehen. Wenn „Vieles“ elegant und handwerklich gut verbunden ist, nenne ich es komplex. Rasantes Ensemblespiel.
Hirches Camus: Nur Kulturpädagogik
wieder einmal konnte man sich von der flachheit eines regisseurs überzeugen, der eben nur kulturpädagogik studiert hat und sich ansonsten in der theorie bewegt. alles in allem: viel lärm um nichts. grüße aus dem prenzlauer berg
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