Die Stimme einer Frau

von Rico Stehfest

27. Mai 2018. Ein Nischendasein, heißt es aus allen Richtungen, habe der Roman der amerikanischen Autorin und Filmemacherin Chris Kraus seit seiner Veröffentlichung 1997 gefristet. Nun wird er weltweit "gehypt": Es galt wohl eine Zeit lang als schick, sich selbst mit dem Buch in der Hand abzulichten. Amazon hat aus dem Stoff gleich eine Serie gemacht (die direkt nach der ersten Staffel wieder eingestampft wurde, aber sei’s drum).

Warum Chris Kraus‘ scheinbares feministisches Manifest gerade jetzt wiederentdeckt wird? Zeitgeist. #metoo? Vielleicht auch ein bisschen. Aber der wahre Grund liegt nicht darin, dass der Roman gerade in eine Stimmung passt. Ihm liegt vielmehr eine Frage zugrunde, die über den rein weiblichen oder eben feministischen Ansatz hinausweist: Wessen Stimme wird unter welchen Voraussetzungen gehört und wer bestimmt diese Bedingungen?

Projekt Liebe

Eine vollkommen erfolglose Experimentalfilmerin namens Chris Kraus verliebt sich nach zwölf Jahren monogamer Beziehung zu dem Intellektuellen Sylvère Lotringer in dessen Kollegen Dick. Die unglücklich Verliebte beschließt, ihrem Subjekt der Begierde von nun an Briefe zu schreiben, die sie allesamt nicht abschickt. Wir reden hier noch vom Zeitalter der Faxe und eins wird dann doch abgeschickt, aber an die falsche Nummer. Auch Sylvère verfasst anfangs auch noch seine ganz eigenen Zeilen an Dick. Korrespondenz als Gemeinschaftsprojekt.

Chris zerfrisst sich über den Zeitraum von zwei Jahren, in denen sie alles auf Dick zu projizieren scheint, emotional innerlich selbst, verlässt irgendwann Sylvère, wodurch sie sich zwar etwas freischwimmen kann, aber an ihrem "Projekt" festhält. Eine Bühnenadaption scheint ein Ding der Unmöglichkeit zu sein. Denn der Text bietet Briefe, Tagebucheinträge, augenscheinliche fiktive Prosaabschnitte, trotzdem sowas wie eine Erzählerdistanz und löst Textgattungen schließlich irgendwann komplett auf. Chronologie? Ein bisschen, aber nicht verlässlich. Am Ende steht ein Traktat für die Stimme der Frau.

ilovedick9687 560 sebastianhoppe uDrei sind sie: Birte Leest, Holger Hübner, Viktor Tremmel © Sebastian Hoppe

Die Wucht der Aufgabe scheint auch Regisseurin Anna Sina Fries bewusst zu sein. Gleich von Beginn an stürmen die Darsteller mit anderthalbfacher Sprechgeschwindigkeit auf den Zuschauer zu. Und das wird nicht besser. Klar, es gibt ja eine Menge zu sagen. Die Figur der Chris (Birte Leest) wird zwischen den beiden männlichen Figuren zerrieben. Die beiden intellektuellen Männer von Welt zeigen auch ihre chauvinistische Deppen-Seite (was sie so bei Kraus nicht tun), und alles gerät zu einer hektischen, zerfaserten Komödie.

Diese Ansätze hat Kraus‘ Roman auch. Allerdings ist das Komische nur einer und bei weitem nicht der entscheidende Aspekt. Für mehr hat die Inszenierung allerdings keine Zeit. Also ragt am Ende, symbolisch gesprochen, nur die zur Siegesgeste erhobene Faust von Chris aus der verwüsteten Bühne mit ihren Podesten, Ebenen, Treppen und Türen. Und die schlanken, hohen Kakteen (Ein Symbol, ein phallisches!) stehen stumm in der Gegend rum. An der Stelle darf man sich fragen, wie sinnvoll dieser heute wirklich kaum mehr wirksame Kinnhaken ist, wenn man bedenkt, dass die Großartigkeit der Romanvorlage eben darin besteht, Sexualität und vor allem das weibliche sexuelle Begehren gerade nicht zu sublimieren.

ilovedick9705 560 sebastianhoppe uBirte Leest und Holger Hübner im Bühnenbild von Moïra Gilliéron © Sebastian Hoppe

Anna Sina Fries’ Abend ist ein Parforce-Ritt durch den Stoff. Es gilt einzig und allein, die konstruierte Handlung, die ja eigentlich nur Vehikel der subjektiven Reflexionen der weiblichen Figur ist, über die Bühne zu zerren. Da muss jede Aussage zwangsläufig zu kurz kommen. Gezeigt wird lediglich eine Frau, die als solche nicht ernst genommen wird, trotzdem aber an ihrem Ideal, die eigene Stimme durchzusetzen, festhält. Das ist nicht mal in Ansätzen so komplex wie die textliche Vorlage.

Die Frau behält das letzte Wort

Es reicht nicht, Sylvère und Chris auf der Couch lümmeln zu lassen oder sie zum Frontalunterricht aufzureihen. Auch hektisches Rennen nach dem klingelnden Telefon ist nur eine dünne Geste der Verzweiflung. Die Dramatisierung des Stoffes erfolgt nur in Ansätzen, indem sich die Inszenierung der Metaebene bedient: der zweite Teil sei ja so komplex, man habe deshalb beschlossen, ihn vorzulesen. Das Publikum dürfe sich deshalb noch mal was zu trinken holen.

Immerhin behält Chris, ganz im Gegenteil zur textlichen Vorlage, das letzte Wort. Das ist nicht zu verachten, dreht es doch letztendlich wirklich den Spieß um und macht sie zur souveränen Person, zur souveränen Frau, die tatsächlich den Männern gegenüber Oberwasser behält. Sie nennt den ganzen Schabernack "performative Philosophie". Das klingt einerseits reflektiert, bedient sich andererseits aber auch wieder nur der Rhetorik, wie sie von den Männern vereinnahmt worden ist.

 

I love Dick
nach dem Roman von Chris Kraus aus dem amerikanischen Englisch von Kevin Vennemann
Regie: Anna Sina Fries, Bühne: Moïra Gilliéron, Kostüme: Barbara Lenartz, Sounddesigner: Matthias Prinz, Licht: Olaf Rumberg, Dramaturgie: Katrin Schmitz, mit Birte Leest, Holger Hübner und Viktor Tremmel.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.staatsschauspiel-dresden.de

 

Kritikenrundschau

"Etwas mehr Empathie und etwas weniger Ideologie, dann hätte es was werden können", äußert sich Matthias Schmidt im MDR (28.5.2018). Er vermisse "die Menschen hinter den Figuren auf der Bühne". Die performative Öffnung gegen Ende war ihm "zu sehr der erhobene Zeigefinger".

"Ein End-Spiel, das es in sich hat", findet Gabriele Gorgas in den Dresdner Neuesten Nachrichten (29.5.2018). An Einfällen mangele es der Inszenierung nicht. Offensichtlich solle der gerühmte Sprachwitz des Romans szenisch assoziiert werden. "Was auch für Irritationen sorgen kann. Oder zuweilen erfrischend ist, wenn im 'rasenden Stillstand Chris überlegt, wie und ob überhaupt es auf der Bühne weitergehen soll."

Als "performatives Großstadttheater" habe "I love Dick" seinen Platz im Spielplan absolut verdient, meint Rafael Barth in der Sächsischen Zeitung (29.5.2018). In Dresden lasse sich gut nachvollziehen, "wie eine Frau die Stufen der Selbstermächtigung nimmt". Gags "und weitere Zutaten aus Kunst und Popkultur lockern gekonnt die Theorieschleifen des Akademikermilieus". Am Ende setze Fries auf einen Bruch: "Wie ungleich Frauen und Männer am Theater Entscheidungen verhandeln, zeigt, wie sehr das Thma brennt."

Kommentare  
I love Dick, Dresden: weibliche* Autorinnen
liebes team von nachtkritik,

habt ihr eigentlich keine weiblichen* autorinnen, die über einen solchen abend schreiben können? ich habe nach der premiere mit keiner einzigen frau* gesprochen, die nicht begeistert und bewegt war.

(Werte Chris, Sie wissen, dass wir bei Nachtkritik die Stimmenvielfalt suchen. Frauen über Männerabende, Männer über Frauenabende, mitunter auch Männer über alles Mögliche und Frauen über alles Mögliche. Im Ernst: Wir glauben, dass eine Kritik nicht der Abschluss des Gesprächs über den Abend ist, sondern der Startpunkt. Und es wäre wunderbar, wenn Sie Stimmen aus den Gesprächen über diesen Abend einspeisen könnten. Mit freundlichen Grüßen,
Christian Rakow / Redaktion)
I love Dick, Dresden: emotionale Ehrlichkeit
Der Abend hätte in der ersten Hälfte in triviale Plattheiten kippen können. Ja. Er tut es aber nicht.
Der Einsatz von Kakteen und deren phallischer Symbolqualität (die in der Serie sicherlich unangenehm plakativ verwendet worden ist) ist fragwürdig. Ja. Die dadurch entstehende einengende Bildgewalt auf der Bühne ist dennoch nicht zu unterschätzen.
Die "Großartigkeit der Romanvorlage" herauszuarbeiten, ist schwierig. Ja.

ABER die Inszenierung funktioniert großartig. Und zwar, und das wird in der Kritik völlig außer Acht gelassen, durch die absolut herausragende Leistung von Birte Leest!
Sie schafft es, den Abend zu tragen. Sie schafft es mit ihrer unverkennbaren emotionalen Ehrlichkeit, auf der Bühne so zu agieren, dass die inneren Kämpfe des Charakters für das Publikum sicht- und greifbar werden und vermindern so die Komplexität des Stoffes keineswegs.

Ein großes Kompliment für eine lang ersehnte, wirklich gelungene Dresdner Inszenierung zum Abschluss der Spielzeit!

K
I love Dick, Dresden: plump
Phallische Symbole sind plumper Sexismus und menschenverachtend! Würden es weibliche Genitalien sein, die hier zur Schau gestellt werden, um sie mit einem dummdreisten Bedeutungssigel zu versehen, dann wäre #metooschonwieder der nächste Aufschrei! Wird Zeit, dass auch die Frauen sich mal loslösen von den jämmerlichen Einsichten irgendwelcher Aposte*linne des 20. Jahrhunderts!
I love Dick, Dresden: Karikaturen
Die -übrigens sehr unterhaltsame- Serie spielt sich zeitlich begrenzt und ausschliesslich in Marfa, Texas ab. Dies erlaubt ein ausgebreitetes Spiel mit der Landschaft und ihrer Symbolik, nicht nur als sexuelle Metapher sondern als Herzstück der Armericana-Mythologie. Die inhaltliche Frage zur weiblichen Stimme findet ihren Widerklang in Fragen wem das Land gehört, wie es genutzt wird, wer es nutzen darf etc. Das wird sowohl textlich als auch visuell verhandelt, von leise bis überzeichnet. Kurze Einspieler z.B. vom Objekt der Begierde Dick als selbstinszenierten Malboro-Mann und fantasierte Bilder als Kalenderkitsch-Modell mit nacktem Oberkörper und Lamm auf den Schultern sind bewusst karikatural. Gleichzeitig ist es ein Kommentar auf die Wirkung dieser allumgegenwärtigen Bildsprache.

Will sagen: Die Kakteen können das natürlich nicht alles transportieren, sie sind aber definitiv nicht fehl am Platz. Ich sehe sie als karikaturale Ergänzung, das Offensichtliche mitten in den Raum zu stellen. Sie sind nicht subtil, allein der Titel "I love Dick" ist es ja auch nicht.

@3 es werden ja nicht Genitalien zur Schau gestellt (und wenn schon), eigentlich lustig daß Sie diese Verwechslung machen. Haben Sie auch etwas gegen Früchte, Blumen, Wasserbecken?
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