Im Krisengebiet

von Esther Slevogt

31. Mai 2018. Manchmal reibe ich mir die Augen in meinem bürgerlichen Heldenleben. Bei der Lektüre der aktuellen Ausgabe des berühmten Investigativ-Magazins DER SPIEGEL zum Beispiel. Hat man dort doch ungeheuerliche Vorgänge am Schauspiel Köln aufgedeckt. Machtmissbrauch, Mobbing, ja, sogar Zerstörung von Requisiten!

Der Ruf nach dem pater familias

Es hätte beispielsweise die Schauspielerin und Regisseurin Melanie Kretschmann, die auch Ehefrau des Intendanten Stefan Bachmann ist und überhaupt im Fokus der Ermittlungen des SPIEGEL steht, wiederholt Unwahrheiten über den Partner der Regisseurin Angela Richter verbreitet, kann man da lesen "und Bachmann habe dies nicht gestoppt". Die beherzte Verteidigung angegriffener Kolleg*innen und die Maßregelung der außer Rand und Band geratenen Gattin wurden vom SPIEGEL in Köln auch noch in weiteren Fällen vermisst.

Ja, was denn nun? Einerseits wird immer gezetert, das alte Intendantenpatriarchentum gehöre abgeschafft. Aber wenn der Intendant in Konfliktfällen nicht gleich als autoritärer pater familias den Rohrstock schwingt, ist es auch wieder nicht richtig. Und wieso können sich die Leute eigentlich nicht selbst verteidigen? Gibt's an unseren Theatern denn bloß Duckmäuser*innen, die schon der Wutanfall einer Intendantengattin in die Knie zwingt? "Irgendjemand muss das stoppen, es verfolgt uns schon seit Jahren", wird Angela Richter zitiert. In Köln habe jeder Angst, der Nächste zu sein – liest man und wundert sich. Denn das klingt, als gehe heuer der Haarmann mit dem Beilchen im Kölner Schauspielhaus um.

Der Untertanengeist

An dieser Stelle möchte ich auch einmal fragen, auf welchem Wege denn bitte schön aufgeklärte und egalitäre Kollektivstrukturen an Theatern entstehen sollen, wenn das Gros der Mitarbeiter*innen offenbar nach wie vor zutiefst von deutscher Untertanenmentalität geprägt ist – und lieber zum SPIEGEL oder anderen Medien petzen geht, statt die Sache selbst in die Hand zu nehmen, um in direkter Auseinandersetzung die Verhältnisse zu klären.

kolumne 2p slevogtIst es wirklich unmöglich, sich im Theater an der Schaffung von Strukturen zu beteiligen, in der Schieflagen regulierbar sind? Die vom SPIEGEL und seinen Zuträger*innen behauptete Angstblase besteht zu einem hohen Prozentsatz aus Untertanengeist. Aus mangelndem Mut und fehlender Courage. Das behaupte ich an dieser Stelle jetzt einfach mal.

Doch statt vielleicht einmal eine reflexive Sendepause einzulegen, wird die Hysterieschraube in den Medien sogleich weitergedreht und der Untergang des Stadttheaters herbeikommentiert. Aber es ist halt gerade en vogue, das Thema. Da möchte sich offenbar jede*r ein #MeToo-Bändchen ums Handgelenk winden, und mag es auch noch so winzig sein.

Konzeptknechte und Todesfabrikanten

Überhaupt kommen einem die Meldungen aus dem Theaterwesen in der letzten Zeit zunehmend surreal vor. Der eine findet, deutsche Schauspieler seien nur mehr abgerichtete Apparate, Konzeptknechte der Regie, aber keine Menschen mehr. Der nächste setzt das gut ausgestattete, ja luxuriöse deutsche Stadttheatersystem mit den Todesfabriken der jüngeren deutschen Vergangenheit gleich. Und verabschiedet fast zeitgleich dazu ein Manifest, das er als Leitlinie für das Stadttheater der Zukunft verstanden wissen will.

Darin wird unter anderem die Forderung aufgestellt, mindestens eine Produktion pro Saison müsse "in einem Krisen- oder Kriegsgebiet ohne kulturelle Infrastruktur geprobt oder aufgeführt werden". Denn grundsätzlich gehe es im Stadttheater der Zukunft nicht mehr nur darum, die Welt darzustellen. „Es geht darum, sie zu verändern. Nicht die Darstellung des Realen ist das Ziel, sondern dass die Darstellung selbst real wird.“ So nämlich lautet Paragraf 1 des Genter Manifests von Milo Rau. Ist das wirklich so? Muss es im Theater nicht eher darum gehen, im Modus des Spiels neue Wirklichkeitsmodelle für die Zukunft zu erproben und erst einmal zur Diskussion zu stellen?

Zweifel ist wertvoller als ein Manifest

Wenn man die aktuellen Wortmeldungen und Krisenbeschwörungen aus dem Betrieb addiert, könnte man als Außenstehende*r leicht zu dem Ergebnis kommen, das deutsche Stadttheatersystem sei bereits selbst ein Krisen- und Kriegsgebiet. Insofern müsste Milo Rau also gar nicht mal weit reisen. In den Kongo oder so. Er ist ja schon da. "Manchmal ist schon der Zweifel an einem Gedanken wertvoller als ein ganzes politisches Manifest", hat in einem Interview neulich Sophie Passmann zu Protokoll gegeben. Diesen Satz würde man den Dogmatikern, selbsternannten Weltverbesserern und Untergangsapologeten mit ihrem Wahrheitsalleinvertretungsansprüchen gern ins Poesiealbum schreiben.

Woher kommt dieser Selbsthass der Branche, der gerade mit großer Zerstörungslust und ideologischen Vorschlaghammern aus der zierlichen wie bedrohten Spezies unserer Stadttheaterchen Horroranstalten des öffentlichen Unrechts macht? Sind sie denn alle noch zu retten? Oder handelt es sich hier am Ende um eine toxische Wirkung des Miefs in der Theaterblase, die einigen Protagonisten die Sinne trübt und sie völlig aus dem Verhältnis geratene Zerrbilder produzieren lässt? Dann bitte schleunigst einmal die Fenster öffnen und lüften.

Und vielleicht auch sonst mal einen Blick nach draußen wagen. Denn die Gefahr ist groß, dass mit derart destruktiven Kampagnen die Geschäfte der Herren Haselbach und Co. befeuert werden: das an Theatersprachen und Theaterformen so reiche Stadttheatersystem als feudale Struktur von gestern zu denunzieren, um es am Ende sturmreif für den neoliberalen Um- oder Abbau zu schießen.

 

Esther Slevogt ist Redakteurin und Mitgründerin von nachtkritik.de und außerdem Miterfinderin und Kuratorin der Konferenz Theater & Netz. In ihrer Kolumne Aus dem bürgerlichen Heldenleben untersucht sie: Was ist eigentlich mit der bürgerlichen Öffentlichkeit und ihren Repräsentationspraktiken passiert?

 

Zuletzt berichtete Esther Slevogt vom Einbruch des Dysfunktionalen ins Alltagsleben.

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