Märchenerzählen heute

von Gabi Hift

Berlin, 7. Juni 2018. Zwei Uhr Nachts. Burger King hat Sperrstunde, die Belegschaft räumt auf, plötzlich ein Aufschrei: Mitten im Dreck zwischen Pappbechern und Kaugummi liegt ein neugeborenes Baby.

Versuchsanordnung zum Thema Vorurteile

In "Phantom (Ein Spiel)" von Lutz Hübner und Sarah Nemitz sollen fünf Schauspieler*innen ein Stück entwickeln, das mit der Aussetzung des Babys endet. Einzige Vorgabe: Eine Frau mit Kopftuch wurde beobachtet, die allein hereingekommen und bald wieder gegangen ist, eventuell eine Romni, sie könnte das Phantom gewesen sein. Es gibt also zwei Geschichten, die der unbekannten Frau "mit südländischem Aussehen", und die der Schauspieler, die zusammen eine Geschichte erfinden, dabei immer wieder in Klischeevorstellungen über Immigrantinnen stolpern und sich das gegenseitig vorwerfen.

Sie nennen die Frau "Blanca", streiten drüber, ob es eine Roma-Frau gewesen sein kann ("Die lieben doch Kinder! Die haben doch selber immer ganz viele." "Die kaufen angeblich sogar welche." "Das ist aber jetzt nicht dein Ernst."), einigen sich drauf, dass sie aus Bulgarien gekommen ist, ein Cousin hat ihr einen lukrativen Job in Deutschland versprochen, die Familie hat zusammengelegt – Fahrtkosten, Papiere – der Kerl ist mit dem Geld verschwunden, Blanca steht ohne ein Wort Deutsch und ohne Papiere da.

PHANTOM GRIPS 6 560 David Baltzer x Amelie Köder, Frederic Phung, Lisa Schulze, Christian Giese © David Baltzer

Das Tasten und Ausprobieren sei nötig, "weil wir etwas verhandeln, das von unserer Lebenswelt sehr weit entfernt ist", sagt Autor Lutz Hübner in einem Interview, das der Pressemappe beiliegt. Im Gripstheater in der Pause sieht die Welt von Blanca aber gar nicht weit weg aus. Direkt vor der Tür ein Burger Laden, ein Späti, REWE ist auch noch offen, Bettler mischen sich unters Publikum. Und das ist äußerst divers – im Gegensatz zu den Schauspieler*innen: Gerade bei dem Thema fällt es auf. Die Jugendlichen im Publikum mit "südländischem Aussehen" würden sich sicher freuen, wenn sie auf der Bühne repräsentiert wären.

"Wie gefällts Ihnen?" fragt mich ein Mädchen und sagt selbst: "Ich versteh ja das Hin und Her nicht, wieso immer eine Andere Blanca ist, und dann findet die eine auch noch blöd, was die Andere gesagt hat. Wenn es gar nicht wirklich ist, ist es auch nicht wirklich schlimm."

Blanca wird zu Santa Blanca

Nach der Pause laufen die verschiedenen Varianten dann aber doch auf eine Geschichte hinaus: Blanca, jetzt durchgehend gespielt von Luisa-Charlotte Schulz, trifft in der Kleiderkammer ein hochschwangeres deutsches Mädchen. Die ist zwar rassistisch, aber auch einsam und verängstigt und lässt Blanka bei sich wohnen. Diese Annika (schillernd gespielt von Lisa Klabunde) ist eine extrem klischierte Hartz IV Schlampe, hilflos und berechnend, schrecklich und süß. Sie hängt an Marco (Frederic Phung), einem widerlichen Mistkerl, der sie behandelt wie Dreck. Blanca macht ihn zur Schnecke, sagt ihm, die Männer in Bulgarien seien bessere Männer, die hätten nämlich noch Ehre, und kriegt dafür Szenenapplaus. Am Horizont taucht die Hoffnung auf ein Happy End auf: Thelma und Louise mit Baby und ohne Tod. Aber das Baby muss ja mutterseelenallein im Fastfood Restaurant enden.

PHANTOM 3 560 KoederGieseKlabundeSchulzPhung David Baltzer xIn dramatischem Blaulicht: Amelie Köder, Christian Giese, Lisa Klabunde, Luisa-Charlotte Schulz
© David Baltzer

Die Lösung: Annika hat es ausgesetzt und kriecht zu ihrem fiesen Marco zurück, Blanca hält zum Abschluss einen Monolog, der einem leider ganz schön moralinsauer aufstößt: Sie sagt, sie sei glücklich, weil sie jetzt die Tür aufgestoßen hat, durch die sie zwar selber nie gehen wird – aber ihre Kinder werden es besser haben, und die Nachkommen werden sie "Santa Blanca" nennen. Diese allzu simple Umkehrung der gängigen Vorurteile – nicht die durch und durch anständige, stolze, arbeitsame Roma-Frau hat das Baby ausgesetzt, sondern die schmarotzende deutsche Hartz IV Schlampe, die sich weder um sich selbst noch um ein Kind kümmern kann – hat der Abend als Ende nicht verdient.

Grips-Munterkeit meets düstere Märchenwelt

Petra Zieser, die selbst Schauspielerin in der Urfassung der Linie 1 in den 80ern war, inszeniert (bis auf das Ende) mit viel Gefühl für den alten Brechtischen Grips-Stil. Die Schauspieler*innen fühlen sich sichtlich wohl, sie brillieren jede*r auf seine und ihre eigene Weise und finden dabei auch einen schönen gemeinsamen Ton, so eine Art Grips-Munterkeit: Ärmel aufkrempeln und die Szene wuppen.

Schroff dazwischen stehen zwei Märchen. Am Anfang "Hänsel und Gretel", finster und grausam. In der Mitte die Geschichte von den Willis, den Geistern der gestorbenen Bräute, die auf dem Kirchhof tanzen. Sie werden eingeblendet in Gestalt zweier großartiger Graphic Novel Animationsfilme (von Gregor Dashuber) – düster, mit einzelnen grellen Farbflecken, brutal, unheimlich. In ihnen sind der Abgrund, die Verzweiflung, der Sex, die Gewalt – alles, was sonst im Stück nicht vorkommt.

PHANTOM 5 560 PhungKlabundeKoeder David Baltzer xDas böse Märchen in den Vordergrund gerückt © David Baltzer

Die Filme stehen völlig unverbunden zwischen den Szenen, wirr, irritierend, schön. Sehr mutig von der Regie, sie so monolithisch und erklärungslos mitten hinein zu setzen. Noch Stunden später hat man das nebeneinander im Kopf – wie das nicht zusammenpasst. Unklar und interessant.

Phantom (Ein Spiel)
von Lutz Hübner und Sarah Nemitz
Regie: Petra Zieser, Bühne: Mathias Fischer-Dieskau, Kostüme: Marie Landgraf, Sounddesign und Musik: Michał Krajczok, Animation: Gregor Dashuber, Dramaturgie: Ute Volknant, Theaterpädagogik: David Vogel.
Mit: Christian Giese, Lisa Klabunde, Amelie Köder, Frederic Phung, Luisa-Charlotte Schulz.
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, eine Pause

www.grips-theater.de

 

In unserer Video-Interview-Reihe "Neue Dramatik in zwölf Positionen" sprechen Sarah Nemitz und Lutz Hübner über den Wert von Geschichten und Einfühlung  

 

Kritikenrundschau

"'Phantom (Ein Spiel)' ist eine sehr spielerische Reflexion über unsere Klischees und Wertevorstellungen. Und damit weniger ein Stück über die Fremde, deren Vita da imaginiert wird, als über uns und unsere Rollenzuweisungen, wie 'die da' zu sein hat", schreibt Peter Zander in der Berliner Morgenpost (9.6.2018).

"Da wird ein Klischee nach dem anderen rausgehauen, aber kaum je unterlaufen", beklagt Ute Büsing vom RBB (08.06.18). Schon in der Stückvorlage fehle die Tiefenschärfe. Aber dann setze Regisseurin Petra Zieser auch noch auf starke Typisierung der Figuren, anstatt sie differenziert agieren zu lassen.

"Immer wieder fallen die Spielerinnen und Spieler aus den Rollen und verhandeln die Klischeefallen, in die sie gerade zu tappen drohen. Das holpert anfangs noch ein bisschen. Gewinnt dann aber eine große Sogkraft", schreibt Patrick Wildermann im Tagesspiegel (10.6.2018). Es werde "Einfühlungskitsch vermieden" und "nicht das bittere Sozialmärchen des gefallenen Mädchens erzählt". Petra Zieser "inszeniert dieses Stück für den Abendspielplan mitreißend und drängend, mit einem hervorragenden Ensemble".

Der Stoff sei "klasse", schreibt Christian Rakow in der Berliner Zeitung (12.6.2018), aber leider verpassten Hübner und Nemitz das, wofür sie sonst immer stünden: "mitreißendes emotionales Theater, schnelle wendungen, dialogische Szenen, Zeitgeistdramatik mit Klartextfaktor". Die Schauspielerinnen säßen meistens Klischees auf, Regisseurin Zieser lasse den "offenkundig an Brecht geschulten Humor" des Stückes "ungeborgen".

 

 

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