Heiligabend bei den Rassisten

von Sascha Westphal

Recklinghausen, 8. Juni 2018. Der Blick fällt auf eine schon vor langer Zeit verblühte Landschaft. Rechts steht ein ehemals weißer, von Rostspuren gezeichneter Kasten, dessen große Fenster und gläserne Schiebetür an einen Bahnsteig-Warteraum oder auch an eine heruntergekommene Pförtnerloge erinnern. Links erhebt sich eine einzelne Straßenlaterne, die nur noch schwaches Licht spendet. Im Hintergrund zwei mit löchrigem Kunstrasen bedeckte Hügel. Und über die Rückwand ziehen fortwährend dunkelgraue Wolken. Ein Land also, in dem niemals die Sonne aufgeht und alles nur noch vor sich hin verrottet.

So in etwa stellt sich die Ausstatterin Anouk Schiltz allem Anschein nach die ostdeutsche Provinz, genauer gesagt das kleine, etwa 45 Bahnminuten von Dresden entfernte Lampertswalde, vor. Klischees über Klischees. Da wundert es dann auch keinen Theaterbesucher im tiefen Westen Deutschlands oder gar in Luxemburg, dass die Menschen dort in dieser abgehängten Region mit Vorliebe schwarze Studenten oder Schutzsuchende verprügeln und an Montagabenden in Dresden als besorgte Bürger durch die Straßen ziehen. Das alles wäre fast schon wieder komisch, wenn dieser graue Raum des Schreckens nicht als Bühnenbild für Lars Werners Stück "Weißer Raum" herhalten müsste.

weisser raum 2 560 Hans Juergen Landes uLampertswalde bei Nacht © Hans Jürgen Landes

Natürlich erfordert die ehemalige Industriehalle, in der Anne Simon das mit dem Kleist-Förderpreis für junge Dramatik prämierte Stück zur Uraufführung bringt, Abstraktionen und Reduktionen. Aber diese Mehrzwecklandschaft ist vor allem eine Wertung. Sie manipuliert den Blick auf Lars Werners Figuren und ihre Handlungen. Sie werden von vornherein als tumbe Rechte abgeschrieben. Dabei enthält sich das Stück jeder simplen Bewertung. Werner will Strukturen sichtbar machen und einfach demonstrieren, wie sich Menschen in ihnen verfangen und schuldig werden.

Beinahe altmodisch

Es beginnt an einem Heiligabend auf dem Bahnhof von Lampertswalde. Der Gleiswärter Uli hört, wie eine Frau um Hilfe ruft und stürzt sich auf deren Angreifer, einen schwarzen Nordafrikaner. Uli hat schon einmal einen Job aufgrund einer rassistisch motivierten Gewalthandlung verloren. Nun überwältigt er den mutmaßlichen Vergewaltiger nicht nur, sondern erschlägt ihn gleich. Trotzdem wird er als Held gefeiert. Nur die Journalistin Marie, das andere Opfer auf dem Bahnsteig, hegt Zweifel an Ulis Motiven. Sie recherchiert und stößt dabei auf ein rechtsradikales Netzwerk, in dem Ulis Sohn Patrick, der wegen eines Angriffs auf einen Araber im Gefängnis sitzt, die Fäden zieht. Patrick ist es auch, der Uli zu einer Galionsfigur seiner Pegida-artigen Bewegung macht.

Die meisten der in den vergangenen Jahren mit dem Kleist-Förderpreis bedachten Texte hatten eher experimentellen Charakter. Stücke wie Wolfram Lotz’ Debüt "Der große Marsch", Thomas Köcks "paradies fluten" und Franziska vom Heedes Tod für Eins Achtzig Geld verweigerten sich klassischen Erzählhaltungen oder brachen sie zumindest konsequent auf. Im Vergleich zu ihnen wirkt Lars Werners "Weißer Raum" fast schon altmodisch. Als bewusst realistisch gehaltener Theatertext, der eine höchst brisante Geschichte erzählt und aktuelle politische Entwicklungen beleuchtet, steht Werners Stück eher in der Tradition der angelsächsischen Well-Made-Plays. Zudem kann man es sich, und das ist als Kompliment gemeint, hervorragend als Film vorstellen. Die Geschichte vom unaufhaltsamen Aufstieg eines zu Gewaltausbrüchen neigenden Gleiswärters gewährt wie Lucas Belvaux’ Das ist unser Land! einen überaus aufschlussreichen Einblick in die Funktionsweisen moderner rechtsradikaler Bewegungen.

weisser raum 1 560 Hans Juergen Landes uEin konspiratives Treffen? © Hans Jürgen Landes

Aber genau das scheint Regisseurin Anne Simon nicht sonderlich gereizt zu haben. Sie setzt das Stück eben nicht als düsteren Politthriller in Szene, der schließlich auch die unheilvollen Verbindungen zwischen dem Verfassungsschutz und den rechten Brandstiftern thematisiert, sondern geht von Anfang an auf Distanz zu der von Werner porträtierten Welt. Dass ihr Ensemble zu Beginn die Halle König Ludwig 1/2 von draußen betritt, lässt sich durchaus metaphorisch verstehen. Die zwei Schauspielerinnen und drei Schauspieler nähern sich dem Text von außen, sie streifen sich die Rollen über wie Klamotten, die ihnen offensichtlich nicht passen, und fallen dementsprechend immer wieder aus ihnen heraus. Diese ständig auf die Spielsituation verweisende Art der Darstellung zerstört aber nicht nur die Atmosphäre der Bedrohung, die Werner so geschickt in seinem Text aufbaut. Sie raubt auch den Figuren jegliche Relevanz.

Keine Abgründe

So treffen Dominik Raneburger, der mit Patrick das "Gehirn" der Bewegung spielt, und Nina Schopka als linksliberale Journalistin Marie ausgerechnet in ihren großen weltanschaulichen Monologen konsequent den falschen Ton. Ihr hysterisches Auftreten untergräbt die Texte, die plötzlich viel zu offensichtlich und belehrend klingen. Dabei könnte Patrick durchaus auch ein politischer Verführer sein, der einen langsam in sein Gedankengebäude hineinzieht. Aber Anne Simon will das Publikum nicht mit seinen eigenen Abgründen konfrontieren. Ihr reicht es, dessen Klischeevorstellungen zu bedienen. Also nimmt Dominik Raneburger einen Dialog zwischen Marie und ihrem Redakteur Jochen, in dem der Begriff "Imam" fällt, zum Anlass für einen billigen Gag. Er nimmt ein schwarzes Tuch, legt es sich so über Kopf und Schultern, dass er nichts mehr sieht, und stolpert prompt über einen Rollstuhl. Daraufhin lachen seine Mitspielerinnen und Mitspieler erst einmal, bevor Martin Olbertz darauf verweist, dass so etwas aber nicht politisch korrekt ist. Es ist halt alles nur ein Spiel einiger sich über die Niederungen des deutschen Rechtsextremismus erhaben fühlender Theaterleute. Dazu passt dann auch, dass Olbertz, der den Rassisten und Totschläger Uli noch recht differenziert porträtiert hat, sich schließlich in eine Kunstrasenbahnen hüllt und Hölderlins "Hyperion an Bellarmin" rezitiert. Diese Verwandlung erschließt sich zwar nicht, aber als Künstler fühlt man sich mit Hölderlins Versen natürlich wohler als mit Ulis Brandreden.

 

Weißer Raum
von Lars Werner
Uraufführung
Koproduktion der Ruhrfestspiele Recklinghausen mit dem Théâtre National du Luxembourg und dem Kleist Forum Frankfurt/O.
Regie: Anne Simon; Ausstattung: Anouk Schiltz; Licht: Daniel Sestak; Dramaturgie: Ruth Heynen.
Mit: Martin Olbertz, Nina Schopka, Dominik Raneburger, Pascale Noe Adam, Pitt Simon.
Dauer: 1 Stunde 35 Minuten, keine Pause

www.ruhrfestspiele.de
www.tnl.lu/de

 

Kritikenrundschau

"Irgendwie dreht sich alles im Kreis in diesem klaustrophobischen, sozialen Biotop, das Lars Werner hier in einer Mischung aus Psychogramm und Milieustudio durchaus detailscharf abbildet", schreibt Stefan Pieper in der Recklinghäuser Zeitung (11.6.2018). Das Ensemble sorge mit mimischer Konsequenz für kritische Distanz zu den Figuren. "Aber es bleibt in der hier vorgeführten Ausschließlichkeit doch zu viel Schwarz-Weiß-Malerei bestehen." Und weiter: "In diesem Stück bleiben die Zuschauer zu sehr eben genau das, nämlich unbeteiligte Zuschauer, die aus einer bildungsbürgerlichen Komfortzone auf 'die da unten' blicken."

Das Stücke stelle unbequeme Fragen, so Marion Gay im Westfälischen Anzeiger (11.6.2018). In einem Geflecht aus Lügen und Schuld verstricken sich die Figuren, in Ausflüchten und Selbsttäuschungen. Immer wieder koche Gewalt hoch. "Die Ambivalenz macht die Kraft des Stückes aus."

 

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