Vati ist heut böse
von Christian Rakow
Berlin, 15. Juni 2018. Dimitrij Schaad, der Edelspielmacher und Diskursjongleur des Gorki-Theaters, der wie kaum ein zweiter schwere Dinge leicht wirken lassen kann, hat gerade einen unbarmherzigen Besetzungszettel. Jüngst in Yael Ronens Walk on the Dark Side spielte er einen egomanischen Astrophysiker, der über Leichen geht und seine Familie psychisch abwrackt. Und heute ist er der autoritäre Vater und ehemalige zaristische Polizeichef Iwan Kolomijzew aus Maxim Gorkis Drama "Die Letzten" (von 1907, uraufgeführt 1910 durch Max Reinhardt am Deutschen Theater Berlin).
Dieser Iwan nimmt seinen Bruder Jakow aus, hält seine Frau unter der Knute, dressiert seine Kinder und verheiratet sie contre coeur. Eine Tochter hat er einst im Suff die Treppe runtergeworfen, sodass sie nun körperlich versehrt ist. Aus dem Beruf ist er ausgeschieden, weil zwei Gefangene unter Gewaltanwendung seiner Polizisten gestorben sind. Iwan selbst wurde unlängst angeschossen. Von einem Terroristen, wie er sagt. Der Mann, den er dafür zur Rechenschaft ziehen will, ist vermutlich unschuldig. Kurzum: Es ist eine Vater-Rolle, aus deren Schlechtigkeit man schwer herauskann. Also, sagt sich Dimitrij Schaad im Verbund mit Regisseur András Dömötör, muss man so richtig tief hinein.
Vor einem riesigen Glaskasten, der die ganze Breite des Bühnenportals einnimmt, baut sich Schaad als Iwan auf. Auf einem Stuhl, eine Häkelarbeit auf dem Schoß, ein Strickkleid auf den Hüften. Seine Perücke: halb Bommelmütze, halb Altfrauen-Dutt. Vati und Mutti in einem. Drinnen im Glaskasten turnt eine Gespensterschar von Kindern, mit punkigen Grünspanperücken und Glitzer-T-Shirts (Kostüme: Amit Epstein). Schaad gibt den diabolischen Märchenonkel: "Wenn Ihr nicht schlaft, kommt der Sandmann und wer die Augen nicht schließt, der wird schon sehen, wie der Sandmann ihm den heißen Sand in die Augen streut und die Augen rollen heraus."
Puppentheater mit Kindertotenseelen
Man könnte aus Maxim Gorkis düsterer Bestandsaufnahme des vorrevolutionäre Russland zahlreiche Linien in heutige Polizeistaaten Marke Türkei, Marke Putin-Russland ziehen, oder vor der eigenen Tür kehren und die Gewalt um Protestereignisse wie jüngst beim Hamburger G20-Gipfel in den Blick nehmen. Aber solche konkreten Bezüge interessieren Dömötör nur am Rande, ein paar Trump-Anspielungen kullern schon auch, aber eher lustlos.
Dömötör biegt Gorkis Realismus auf Psychogroteske um, die entfernt nach modernisiertem Strindberg ausschaut. Seine Version von "Die Letzten" zeigt die finale Degenerationsstufe des Patriarchats: Vatis finsteres Puppentheater mit echten Kindertotenseelen. "Meine Kleinen, meine Gnome, mein Volk." Aus allen Ecken strecken Iwans Kinder ihre kajalschwarzen leblosen Augen entgegen. Die verwahrlosten "Kleinen" spielen sich die Rollen der Mutter und des reichen und gutmütigen, aber siechen Onkels gegenseitig vor: die Mutter mit schnell übergeworfenem roten Brokatkleid; den Onkel mittels eines mannshohen Teddys. Das alles in einem pastelligen, kühlen Stubensetting (von Bühnenbildnerin: Magda Willi) zu psychotisch eintönigen Klangeinspielungen (Sounds: Tamás Matkó).
Aber so überzeugend es gedacht ist, den Zwang zur Infantilität in dieser Familie mit einem Kuscheltierspiel-im-Spiel zu reflektieren, so behäbig nimmt es sich in der Umsetzung aus. Teddy liegt bräsig rum, lässt sich schwer bewegen und noch schwerer beleben. Überhaupt ist man froh, wenn Till Wonka als verlotterter Sohn Alexander mal kernig schmarozerhaft um die Ecke lugt oder den XXL-Teddy in Wrestling-Manier niedercatcht. Mareike Beykirch gibt der zynischen ältesten Tochter Nadeshda einen Hauch von Vamp auf der Grufti-Party. Aber das ist es auch schon mit spielerischen Glanzpunkten. Abseits von Dimitrij Schaad. Der kann als Mischung aus Dr. Evil (Austin Powers) und Fantomas mit seinem Iwan bis zum Anschlag in die Slapstick-Bösewichtelei abtauchen. Mal knutscht er feucht die Kinder ab, dann zelebriert er seine Vision des Sandmanns unter Bohrmaschinen-Einsatz (wovon nicht zu viel verraten sein soll, weil diese Szene im Finale dann doch der sehenswerte und unvergessliche Splatter-Moment dieser Inszenierung ist).
Jedoch ein Schaad allein macht noch keine Sommerbrise. Und eine Familie, die wie eine Nachgeburt aus Fritzls Gruselkeller wirkt, gibt noch keine irgendwie tragfähige Kritik des Patriarchats. "Vati, du weißt es doch. Du musst es doch wissen. Ich meine, spätestens wenn du allein bist und scheißt, dann weißt du es doch, dass du krank bist. Du bist eine Krankheit und du steckst die Welt an, Vati", heißt es im Finale. Krank war dieser Vati durchaus. Ziemlich. Aber den Beweis, dass er damit die Welt anstecken kann, blieb er schuldig.
Die Letzten
von Maxim Gorki
Deutsch von Werner Buhss
Regie: András Dömötör, Bühne: Magda Willi, Kostüme: Amit Epstein, Musik & Musikalische Einrichtung: Tamás Matkó, Dramaturgie: Holger Kuhla.
Mit: Dimitrij Schaad, Till Wonka, Mareike Beykirch, Lea Draeger, Aram Tafreshian, Vidina Popov, Ruth Reinecke, Knut Berger.
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause
www.gorki.de
Es sei ein Abend zur rechten Zeit, schreibt Patrick Wildermann auf tagesspiegel.de (16.6.2018). Regisseur Dömötör spüre der Kernfrage des Dramas nach: "Was für eine Generation wächst heran, wo es kein humanistisches Fundament mehr gibt und keinen Glauben (auch bei Gorki ist es eine Jugend ohne Gott), wo die Eltern keine Moral vorleben, sondern rohe Kleinbürgerlichkeit?" Die Antwort sei ein Alptraum. Und weiter: "Gut, das Kinderzimmerformat hat auch Tücken." Bei aller Stimmigkeit liege die Gefahr der Verzwergung nahe. Besonders der Jakow-Teddy nehme der Geschichte einige Härte.
"Gut eindreiviertel Stunden dauert das Spiel von Autokrat und chorischem Kinderuntertanenvolk, als Thema mit Variationen, dann hat Dömötör mit cleverer Regie und Spielleitung sein Bühnenbildsetting bis zur Neige erschöpft." Eberhard Spreng vom Deutschlandfunk (16.6.2018) sah "eine lustige Kinderzimmer-Horrorshow". Es sei ja nett, dass das Gorki-Theater den 150. Geburtstag seines Namenpatrons mit dieser Arbeit ehre, aber Strahlkraft in unser sich im Schatten neuer Tyrannenherrschaften wieder verdüsterndes Zeitalter habe diese Produktion trotz aller Aktualisierungsversuche kaum.
"Das Potential zur Familientragödie wird von Dömötör verschenkt zugunsten einer kurzatmigen Verbeugung vor dem dominierenden Gewaltbegriff unserer Zeit", schreibt Simon Strauss in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (19.6.2018). "Denn Gewalt muss für die Theoretiker und Meinungsmacher momentan immer irgendetwas mit Sex zu tun haben, sonst ist sie nicht interessant." Und genau davor, also nicht interessant zu sein, scheine diese Inszenierung panische Angst zu haben. Einzig Dimitri Schaads "unberechenbares Mienen- und Körperspiel hat etwas 'Clockwork Orange'-haft Gefährliches, etwas von dem witzigen Wahnwitz, den die Inszenierung im Ganzen mit ihrer grellen Zeichentrickästhetik nicht zustande bringt."
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