Chekhov. Fast and Furious - Das junge Performancekollektiv Superamas befragt und feiert die Möglichkeiten des Theaters bei den Wiener Festwochen
Theater oder Parkgarage?
von Andrea Heinz
Wien, 15. Juni 2018. Normalerweise, sagt ein junges Mädchen nach der Vorstellung, fände sie Theater ja scheiße. Normalerweise. Aber was das Performancekollektiv Superamas an diesem Abend aus dem sehr klassischen Theaterstück "Onkel Wanja" gemacht hat, ist eben kein "normales" Theater. Über sechs Monate lang haben sie mir vier Gruppen junger Erwachsener in Amiens und Maubeuge, Reykjavik und Wien Tschechows Klassiker befragt und mit den insgesamt rund 60 Teilnehmer*innen eine eigene Version entwickelt: "Chekhov Fast & Furious". Nicht nur um eine junge, aktuelle Sichtweise auf den Klassiker ging es Superamas dabei, sondern auch um eine Erforschung der Theaterproduktion an sich. Ganz platt formuliert: Wie machen Menschen Theater?
Fragen, die niemand gestellt hat
Bei der Uraufführung im Rahmen der Wiener Festwochen stehen die 12 jungen Erwachsenen der Wiener Gruppe auf der Bühne, die anderen drei Gruppen werden immer wieder auf Video zugespielt. Noch bevor jedoch der Vorhang aufgeht, gibt es zuerst einmal ein vorgezogenes Nachgespräch. Drei Superamas-Mitglieder beantworten Fragen, die niemand gestellt hat. Warum ausgerechnet dieses Stück, lautet eine der imaginären Fragen. Nun ja, so die leicht ironische Antwort, die Leute kaufen halt zuerst einmal die Klassiker, man muss da eben auch ökonomisch denken. Die Produktionsstätte Theater, sie wird hier von allen Seiten befragt.
Als der Vorhang sich hebt, gibt es eine kurze Szene aus "Onkel Wanja" – danach aber entwickelt sich der Abend immer weiter weg vom Ausgangstext. Wer das Stück sehen will, er wird hier enttäuscht. Stattdessen sieht man in Videoaufzeichnungen, wie eine Gruppe darüber diskutiert, was sie im Text entdecken, was sie auf der Bühne darstellen will. Empathie fällt als Schlagwort, Intimität, missglückte Kommunikation, von der sie dann in eigenen Geschichten Beispiele geben. Eines der Mädchen sitzt im Rollstuhl und zeigt, wie die Menschen ihr vor lauter Hilfsbereitschaft und Mitgefühl so rein gar keine Hilfe sind. Geschichten von Mobbing werden erzählt und schließlich solche von unerwiderter Liebe, von Illusionen und falschen Vorstellungen – natürlich ein großes Thema, in "Onkel Wanja" wie im Leben.
Der Wert des Theaters
Zwischendurch tauchen in einer absurden Szene wieder die Superamas-Mitglieder auf, als Wanja und andere Figuren aus dem Stück diskutieren sie über ihr Theater, schlechte Auslastungszahlen, missglückte Rettungsversuche und den letzten Ausweg: Aus dem Haus eine Parkgarage machen. Der Gewinn ist einfach höher, ganz zu schweigen von der Auslastung – 24/7! Wanja ist hier plötzlich ein idealistischer Schauspieler, der sein Herzblut in das Theater investiert hat und nicht bereit ist, es an eine Parkgarage zu opfern. Es geht hier wohl um ein weiteres Thema, das die Gruppe im Stück gefunden hat: Die Frage nach dem Wert einer Anstrengung, eines Engagements. So sprunghaft, assoziativ geht der Abend weiter. Eine der Gruppen aus Frankreich rappt im Video, in Wien wird sehr viel (und toll choreographiert!) getanzt. Immer mehr Themen tauchen auf: Liebe, Glück, Traurigkeit, Selbstbewusstsein, Selbstfindung. Schließlich gibt es einen fünfminütigen Slot für Improvisation, in dem sich einer der jungen Männer sämtliche Kleider vom Leib reißt, warum auch nicht?
Tatsächlich wirkt der ganze Abend ein bisschen wie eine Improvisation zu Motiven aus "Onkel Wanja". Es ist, einerseits, spannend zu sehen, was junge Erwachsene in diesem Klassiker sehen, wo sie sich wiedererkennen, welche Fragen das Stück bei ihnen aufwirft. (Wenig verwunderlich in seinem Idealismus dagegen, was sie zur Produktionsstätte Theater sagen – auf die Realo-Diskussion der Herren, in der diese den Cirque du Soleil und höhere Abo-Preise als Lösung für sinkende Auslastung ventilieren, reagieren sie entnervt: Bringt das Theater näher zu den Menschen!)
Das "Wie" entscheidet
Andererseits aber fehlt dem Abend eine Dramaturgie, eine Linie. Zu beliebig wirken so die einzelnen Passagen, zu undeutlich bleibt, worum es der Gruppe nun wirklich geht. Was die Zuschauer*innen von diesem Abend mitgenommen haben, welche Gefühle, wurde zu Beginn in der "Nachbesprechung" ins Publikum gefragt. Ein solches Gefühl aber bleibt nach Ende des Stückes nicht, keine Gedanken zu "Onkel Wanja", zu Liebe, Glück oder Traurigkeit. Was von diesem Abend hängen bleibt, ist etwas anderes: die Lebenslust, Energie, Präsenz und Spielfreude der Menschen auf der Bühne. Es ist das Wie, das diesen Abend ausmacht, weniger das Was. Ob das eine Antwort auf die Frage ist, wie man Theater machen sollte, sei dahin gestellt. Aber es ist eine Freude, diesen Menschen beim Spielen zuzuschauen.
Chekhov Fast & Furious
von Superamas
Koproduktion der Wiener Festwochen, Maison de la Culture d´Amiens, Reykjavík Dance Festival, Manège Maubeuge, apap - advancing performing arts project
Regie, Bühne, Ton, Video: Superamas, Kostüme: Sabine Desbonnets mit dem 2. Semester des Kollegs der Modeschule Michelbeuern HLMW9 Wien (Monika Hartl, Hlazun Yuliya, Kmak Patrycja, Kuratova-Roither Maria, Ismael Maryam, Hofbauer Johanna, Katrin Hupf), Superamas, Lichtdesign: Henri-Emmanuel Doublier.
Von und mit: Yuria Knoll, Peter Alexander Kopciak, Richi Kuong, Johanna Mettnitzer, Naemi Latzer, Miriam Rosenegger, Gudrun Schmidinger, Katharina Senzenberger, Joseph Cyril Stoisits, Maya Unger, Maria Winkler, Lin Wolf, weiteren jungen Erwachsenen aus Amiens, Reykjavik, Maubeuge und Superamas.
Englisch, Französisch, Deutsch und Isländisch mit deutschen Übertiteln
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.festwochen.at
Hans Haider von der Wiener Zeitung (16.6.2018) sah die "erste synchrone europäische Zentralmatura im Neigungsfach Bühnenspiel!" Nur Pädagogen könne diese Melange von stilvollem Stillstand in russischen Landadelshäusern und der Superaction nach der Peitsche von Rob Cohen im Film einfallen. "Viele Wiener beißen gerne an, weil sie meinen, endlich kommt nun am letzten Tag der Festwochen das große Theater, das sie heuer vermissten. Dann ist die Schul’ aus und sie gehn enttäuscht nach Haus."
"Das ist kein bloßer Trend, sondern eine echte Errungenschaft: Immer öfter wirken Kinder oder Jugendliche bei Performances für Erwachsene mit", hält Helmut Ploebst im Standard (18.6.2018) dagegen. "'Chekhov – Fast & Furious' besticht durch Biss, eine raffinierte Dramaturgie, die starke Präsenz der Youngsters und die peinvolle Darstellung der versagenden Erwachsenenwelt durch die Mitglieder des Superamas-Kollektivs."
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