Gemetzel im Zuckergusswerk

von Sabine Leucht

München, 29. Juni 2008. Auf den ersten Blick sieht es nach voreiligem Triumphgeheul aus, wenn am Abend des EM-Finales ein Stück mit dem Titel "Am Ziel" Premiere hat. Auf den zweiten Blick ist zwar Deutschland noch immer im Endspiel, das Stück aber hat Thomas Bernhard geschrieben – und da wird besagtes "Ziel" allenfalls ein Zwischenstopp sein: eine Stolperfalle auf dem Weg zum nächsten großen Irrtum.

Keine drei Stunden nach dem Ende des früh gestarteten Theaterabends ist für die deutschen Fußballer der große Traum zu Ende. Für den Schriftsteller in Bernhards Stück ist der Traum namens "erster Erfolg" gerade wahr geworden, während für die Mutter etwaige Träume schon früh zerschellten. Da war der verhasste Mann, der zu allen Gelegenheiten "Ende gut, alles gut" sagte, der greisenhafte Sohn, der nach sehr intensiven Vernichtungsphantasien und sehr wenig Liebe sehr früh starb – und das Ganze passierte ihr nur, weil der Mann ein Haus am Meer aufbieten konnte und ein Gusswerk, das einen gewissen Wohlstand versprach.

Königin der Grausamkeitsroutine

Das Wort "Gusswerk" kommt Cornelia Froboess im Münchner Residenztheater oft und jedesmal anders über die Lippen. Mal wie der blanke Hohn und mal wie der Name einer exquisiten Köstlichkeit: "Ich bin an dem Wort 'Gusswerk' hängen geblieben", stellt die Mutter am Ende fest. Denn wie für ihren Autor sind auch für sie die Worte die wahren Lockstoffe einer Welt, die einen beständig aufs Glatteis führt.

Und die Worte, sie sind hier in guten Händen: Die Froboess kann mit und hinter ihnen so viel Gift und routinierte Bosheit auflodern lassen, dass es einen schaudert. Sie kann glasklar artikulieren, irre komisch und so elegant wie entspannt kaltschnäuzig sein. Ihre Mutter ist eine wahre Königin der gewohnheitsmäßigen Grausamkeit, wie sie da – zurückgelehnt in ihrem Sessel, einen mächtigen Pelzkragen um den Hals – ihre Dauertiraden in Umlauf bringt und hält.

Die Tochter, die Bernhard dieser Monologisiererin als fast stumme Rolle zur Seite gestellt hat, hat sie zur Dienerin degradiert und durch einen Mix aus Demütigungen und Bevormundung um ihr Eigenleben gebracht. Es ist wie immer bei Bernhard: Dem Monster im Zentrum muss einer sekundieren, damit es in allen Facetten schimmern kann.

Verbales Gemetzel in grün

In diesem Fall gibt es zwei Sekundanten und man muss leider sagen, dass sowohl Stephanie Leue als Tochter als auch Dirk Ossig als der "dramatische Schriftsteller" auch darstellerisch sehr im Hintergrund bleiben. Leue steht beim anfänglichen Kofferpacken und späteren Wieder-Auspacken nur ein schmales Repertoire von Wut-, Verdruss- und Genervtheitsgesten zur Verfügung, später darf sie hoffnungsfroh erstrahlen, weil der Schriftsteller Interesse an einem gemeinsamen Spaziergang anmeldet. Mutter und Tochter haben das vermeintliche Talent nämlich in ihr Haus am Meer eingeladen, ohne so recht zu wissen, warum.

Als die drei in Richung Meer aufbrechen, bricht auch Stefan Hageneiers Bühne auf. Bislang ohne Tiefe und in sterilem Schwarzweiß, gibt die nach vorne gewölbte Rückwand mit einer langsamen Drehung den Blick in die Tiefe des Raumes frei. In grünen statt in schwarzen Lettern wird der "Abend desselben Tages" angekündigt. Ein Abend "am Meer", wo sich grüne Windmühlenflügel drehen. Doch die frische Farbe entpuppt sich als Fata Morgana und das verbale Gemetzel geht wie zuvor auf der Vorderbühne weiter. Meer hin oder her: Hier ändert sich nichts mehr.

Echtwelt-Anbindung nicht nötig

"Am Ziel", 1981 von Claus Peymann bei den Salzburger Festspielen uraufgeführt, kombiniert wie die häufiger gespielten Stücke des Österreichers Theater-, Publikums-, Österreich- und allgemeinere Menschenschelte. Und der "dramatische Schriftsteller", was bei Froboess mehr und mehr wie ein Schimpfwort klingt, steht wie ein Magnet im Zentrum all dieser Schimpfkanonaden. In München wirkt sein Weltekel so angeschafft wie seine Künstler-Sturmfrisur, sein Ennuy ist Pose und sein Mundwerk lahmt gewaltig. Fast findet man die ganz authentisch angeekelte Mutter im Vergleich dazu sympatisch. Spritziger ist sie auf jeden Fall.

Thomas Langhoff, Regisseur des auf zwei Stunden beschleunigten Abends, erweist sich einmal mehr als der rechte Mann für fein nuanciertes (und auf wenige Figuren zentriertes) Schauspielertheater, das keine Anbindung an die aktuelle Wirklichkeit benötigt. Und wenn der Siebzigjährige beim Schlussapplaus seine gute Freundin Cornelia sichtlich stolz herzt, drückt man ob der Bejahrtheit auch dieses Regiestiles gerne das ein oder andere Auge zu.

 
Am Ziel
von Thomas Bernhard
Regie: Thomas Langhoff, Ausstattung: Stefan Hageneier.Mit: Cornelia Froboess, Stephanie Leue, Dirk Ossig.

www.bayerischesstaatsschauspiel.de


Kritikenrundschau

"Das groteske Gruseln", mit dem Regisseur Thomas Langhoff Thomas Bernhards "unehrenhafte Vertreibung des Dramatikers von der Bühne" in Am Ziel überzeichne, sei das Schlussbild einer "konzentrierten, feinsinnig verspielten und lautstark gefeierten" Inszenierung am Münchner Residenztheater, findet Teresa Grenzmann von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (1.7.2008). Zu bewundern sei hier vor allem Cornelia Froboess "in einer ihrer arrogantesten und süffisantesten Rollen". "Mafiosahaft" regiere ihr "Mutterdrachen aus Blässe" und "Noblesse", während die Tochter nur reagiere. Sie solle zwar bei Langhoff "genauso gefeiert werden, doch dazu motzt Stephanie Leue allzu brav". Überdies dauere es ganze vierzig Minuten, bis der Regisseur ihr einmal "die Dominanz der Szene" überlasse. Die "Regieglücksmomente" findet Grenzmann "allzu sparsam eingestreut" und erklärt die Bühne, riesige Kleiderschränke "in einem phantastischen Drehbühnen-Zylinder", zu Langhoffs drittem Protagonisten: dem "einzig wirklich überraschenden".

Für Christopher Schmidt von der Süddeutschen Zeitung (1.7.) ist es ein Stück mit "Schwächen", das Langhoff nun entsprechend inszeniere als "handfeste, aber nur mäßig unterhaltsame Typenkomödie". Er versuche erst gar nicht, "den kleinen Zeh in die eisige Tiefenströmung zu strecken, die zumindest manchmal unter der Oberfläche spürbar ist". "Höhere Ambitionen" beschränkten sich auf Stefan Hageneiers Bühnenbild. Der "Wille zur Verniedlichung" sei Regie-"Konzept", wobei Froboess "die Sottisen der Mutter im Dutzend augenzwinkernder auf Lager" habe. Auch wenn Schmidt die Aufwertung der Tochter gefällt, agiert ihm Leue "viel zu selbstbewusst, um deren innere Not glaubhaft zu machen". Dirk Ossig versuche dabei als Schriftsteller "einen schnoddrigen, schmutzigeren Ton in die blitzsauberen Pointenstafetten zu bringen" und blicke  "regelrecht entgeistert" auf das Geschehen, "als wundere er sich, wie unangefochten man hier Klamotte spielt". "Viel zu lieb" sei Langhoff zu Bernhards "Mutterbestie", die er "auf komödiantische Schonkost" setze.

Christine Diller hat sich, wie sie für die Frankfurter Rundschau (1.7.) schreibt, nach einem "Orkan" gesehnt, der die "ganze abgestandene Bebilderung verwirble" und die "bildungsbürgerliche, konsensfähige Ironie endlich als Wurfgeschoss gen Publikum jage". Auf der Bühne scheine die Zeit stehen geblieben, "irgendwo bei der Ästhetik der 80er und der fast gemütlich und liebenswert gewordnen Provokation der Bernhard-Jahre". "Wunderbar" erscheint der Kritikerin allerdings, wie Ossig den "lebensüberdrüssigen, unlustigen Dichter" spielt. Leue werde die Klamotte nicht erspart, "dass man sie deshalb für ein bisschen doof hält, schmälert leider ihre Tragik". Die beanspruche Froboess ohnehin für sich und feiere Bernhards "grandios komponiertes, fein variiertes Sprachwerk, indem sie mit den Lippen die Worte formt, noch ehe sie sie ausspricht und zu Hülsen verkommen lässt" – "eine einzige Froboess-Gala". Doch letztlich ist an dieser Inszenierung "zuviel operettenhaft Harmloses (...) kleben geblieben. Es fehlen ihr neue Bezugsebenen, die über ihre Entstehungszeit hinausweisen".

Von einer "bravourösen Leistung" der Froboess und des ganzen Teams und darauf folgenden "Jubelstürmen" schreibt Gabriella Lorenz in der Abendzeitung (online, 30.6., 17.45 h). Die Froboess spiele eine "Kannibalin", die wie "eine Spinne im Netz" dem jungen Erfolgsdramatiker das Mark aussauge. Stephanie Leue als Tochter zeige "schnelle Wechsel zwischen verinnerlichtem Grimm und erotischer Hoffnung auf den jungen Mann". Langhoff betone "das Komödiantische", und Cornelia Froboess spiele "die gewaltige Suada der Mutter mit allen Facetten zwischen pointierter Bosheit, scharfzüngiger Kritik, unverhohlener Despotie, kokettem Selbstmitleid und unstillbarer Lebenssucht". "Differenziert und überwältigend präsent" halte sie zwei Stunden lang einen "perfekten Spannungsbogen, der so reißfest ist wie ein Spinnenfaden".

   

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