Die Absurdität des "Aber"

von Johanna Lemke

Halle, 29. Juni 2008. Wie gut, dass wir nicht mehr darüber diskutieren müssen, ob die Kunst sich einem Thema wie dem Holocaust komödiantisch nähern darf. Ist es doch längst Konsens, dass gerade das Lachen über Krieg, über Verfolgung und Leid manchmal ernsthafter sein kann als die devoteste Betroffenheit.
Aber ist es wirklich Konsens?

Einen kurzen Moment der Irritation gibt es doch, als der junge Mann die Bühne der Werft, der kleinen Spielstätte der Kulturinsel Halle, betritt, sich als Niels vorstellt und beginnt, sich in aller Form und fast genüsslich zu entschuldigen. Für den Holocaust, für die brennenden Asylbewerberheime Anfang der 90er, für die Diskriminierung von Minderheiten sowieso.

Darf hier gelacht werden? Das Publikum wartet nicht lange. Es kichert und gluckst, bricht schallend heraus, fast erleichtert, diesen Typen vorgeführt zu bekommen, der paradigmatisch für die "dritte Generation" nach dem Holocaust steht: politisch-korrekt die kollektive Schuld eines jeden akkumulierend, um Verzeihung bittend für das, was er selbst nicht getan und nicht einmal erlebt hat. Denn Niels wird das Stigma eines Angehörigen des Tätervolkes nicht los, so sorgsam er es auch in verblichene Plattitüden verpackt.

Jenseits von Freund, Feind und Vorurteil

Die israelische Regisseurin Yael Ronen gehört einer Generation an, die einen anderen Weg der Aufarbeitung sucht als den der Opferhaltung. 1975 geboren, zählt sie zu jenen kriegsmüden Israelis, die kritisch der Politik ihres Landes gegenüber stehen, die ihr Erbe mit Witz und Ironie angehen und die eine Auseinandersetzung jenseits verbohrter Freund-Feind-Schemata fordern.

Für "Dritte Generation" hat Ronen zwölf junge Schauspieler gefunden und ist mit ihnen ein mutiges Experiment eingegangen: jüdische Israelis, in Israel lebende Palästinenser, Deutsche aus beiden Hälften des ehemals geteilten Landes. Sie alle haben bisher vier Arbeitswochen lang eng miteinander gearbeitet, ihre Familiengeschichten auseinander gepflückt, haben ihren Vorurteilen nachgespürt.

"Dritte Generation" ist an diesem Sonntag, an dem kurz darauf Fußball-Deutschland in noch immer ein wenig befremdlicher Manier die Fahnen schwenken und dennoch gegen Spanien verlieren wird, noch kein Theaterstück. Es ist die erste Präsentation einer Probenarbeit, die im Herbst in der Berliner Schaubühne als fertige Inszenierung zu sehen sein wird. Der hier gezeigte Zwischenstand ist das Ergebnis einer zunächst einmal sehr privaten Arbeit an der Geschichte jedes einzelnen Darstellers.

Wir machen uns nackt

Es sind zwölf Menschen Mitte 20, die sich auf der Bühne ent- und manchmal in den zahllosen Schichten der eigenen Identität verblättern. Die ihre eigenen Familiengeschichten von den anderen in symbolischen Posen und Szenensplittern erzählen lassen. Da fällt ein Basketball als rothaariges Kind aus der stehend gebärenden Mutter, da spielt eine Israelin den Nazi-Großvater der Deutschen. Über die Vorhaut eines jeden männlichen Darstellers wissen wir auch bald Bescheid, und es stellt dies gleichsam das entscheidende Zeichen dieser Inszenierung dar: wir machen uns hier vor euch nackt, seht was ihr wollt in uns, aber dann nehmt uns auch ganz.

An der Frage der Schuld entzündet sich jede Szenenfolge, jeder Blick, der zwischen den im Halbrund aufgestellten Stühlen getauscht wird, bisweilen voller Argwohn und Abscheu, dann wieder ernsthaft verzeihend: "It's okay, forget about it", sagt der Jude voller Unverständnis zum in Betroffenheit erstarrten Nils.

Ohne sich der Diffusität der Begriffe "Schuld" oder "Vergebung" hinzugeben, verwandeln die Zwölf ihre ganz realen Erfahrungen. Sie vergegenwärtigen keine Plattitüden, sondern führen alltägliche Situationen vor, die gerade deswegen so ehrlich wirken. Das "Aber" wird immer mitgedacht: ohne israelische Siedlungspolitik kein palästinensischer Terrorismus, ABER ohne den Holocaust keine Siedlungspolitik! Die Mauer ist wirklich, wirklich schlimm, ABER seit sie steht, gibt es weniger Selbstmordattentate! – die Absurdität des Relativen macht an manchen Stellen schier irr. Und lässt immer wieder laut auflachen, vor Erleichterung, weil in jedem Wort noch ein Nebensatz steckt.

Irrweg auf schmalem Grat

An die Grenzen des Möglichen gerät das Projekt ausgerechnet dort, wo es nun tatsächlich um das Erlebte der Großeltern-Generation geht. Meist gelingt es, die Grausamkeit so zu erfassen, dass das Lachen im Halse stecken bleibt. Als in einer veralbernden Performance das Leid einer Überlebenden des Holocaust persifliert wird und der Saal sich vor Jubel kaum noch halten vermag, ist der Grat zur Verhöhnung der Opfer ein ganz schmaler. Dann wird die ein oder andere empörte Beschwerde derjenigen Älteren im Publikum laut, für die Humor keine Methode der Verarbeitung darstellt. Es ist eben Komik doch die feinste aller theatralen Disziplinen, weil sie mit dem Mittel der Verkleinerung und an der Grenze zur Geschmacklosigkeit auch mal einen Irrweg einschlägt.

 

Dritte Generation/ Erste Präsentation
Regie: Yael Ronen, Dramaturgie: Amit Epstein, Irina Szodruch, Video: Erez Galonska.
Mit: Judith Strößenreuter, Karsten Dahlem, Patrick Güldenberg, Niels Bormann, Rawda, Muhammad Dabdoub, Rabie Khoury, George Iskandar, Orit Nahmias, Ayelet Robinson, Ishai Golan, Roi Miller.

www.theaterderwelt.de/2008

Mehr zu Yael Ronen im Nachtkritik-Archiv: über ihre Dresdner Antigone und Vorberichte zu Dritte Generation können Sie hier und hier lesen.

 

Kritikenrundschau

Das Projekt "Dritte Generation" sei die "mit weitem Abstand beklemmendste und befreiendste, erschütterndste und erheiterndste Position" im Festival-Programm von Theater der Welt, schreibt ein begeisterter Andreas Hillger in der Mitteldeutschen Zeitung (online: 30.6., 19:30h). Das "Prinzip der kabarettistischen Szenen, die sich aus einer Art Therapie-Kreis entwickeln" sei "genial einfach: Die Darsteller gehen in jede demagogische Falle, um sie unbrauchbar zu machen – und sie treten auf alle ideologischen Minen, um sie durch Detonation zu entschärfen." Für politische Konfliktlagen finde Ronen "sinnliche Entsprechungen". "Argumente und Mentalitäten" würden hier gedreht und gewendet "bis dem Zuschauer schwindlig wird – und er erkennt, dass auch in der Mitte keine Wahrheit liegt". Der Humor wirke dabei "mehr als grenzverletzend", eine Szene sei "kalkulierte Provokation". Auch wenn die Floskel "Let's not compare" "zum Running Gag der Inszenierung" werde: "Dieser Abend hält jeden Vergleich aus!"

Irene Bazinger dagegen schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (5.7.) ausgesprochen enttäuscht über diesen als "heimlichen Höhepunkt des Festivals" gehandelten Abend. Ein Conférencier trage die Biographien vor, die dann in comichaften, angestrengt witzigen Sketchen illustriert würden. Kurze Spielszenen widmeten sich Begriffen wie "Schuld, Opfer oder Rassismus". Theoretisch sei das kein schlechter Ansatz, jedoch in Halle aus Sicht der Kritikerin "derart unverbindlich und dilettantisch" in Szene gesetzt "wie ein Nachmittags-Talk im Privatfernsehen".

Bei Yael Ronens "polemische Gruppenperformance (...) über eine in Posen und leeren Ritualen erstarrte Holocaust-Bewältigung" unterhalte sich das Publikum, so Till Briegleb in seinem Halle-Überblicks-Artikel für die Süddeutsche Zeitung (7.7.), "zwar gut mit der satirischen Verzeichnung von Vorurteilen". Jedoch werde "nicht im Entferntesten die Verstörung" erreicht, "die etwa das Akko-Theater von David Maayan mit seinen konfrontativen Aufführungen zu diesem Thema ausgelöst hat". Dennoch überzeugt ihn Ronens israelisch, palästinensisch, deutsche Schauspieler-Gruppe "durch erfrischende Tabulosigkeit im Umgang mit den gegenseitigen Feindbildern und den Fetischen jenes Opferkults, aus dem politische Ideologien ihre Energie ziehen". Nur "wirklich provokant oder Widerspruch fordernd" geraten "Ronens Witzchen, Pantomimen, Therapiesitzungen und rassistischen Entgleisungen im Theaterrahmen" für ihn nicht.