Harter Schnitt

13. Juli 2018. Fristlos gekündigt wird Adolphe Binder, seit 2017 Intendantin des Tanztheaters Wuppertal Pina Bausch. Das teilte der Beirat der ehemaligen Pina Bausch-Kompanie heute Abend in einer Presseaussendung mit. Auch der Geschäftsführer Dirk Hesse nimmt Ende des Jahres seinen Abschied.

Notwendig geworden sei die Entscheidung, "um die Handlungsfähigkeit dieser einzigartigen kulturellen Einrichtung wiederherzustellen", schreibt der Beirat zur Trennung von Binder. Beschlossen wurde diese in einer Sondersitzung am heutigen Freitag.

Lange Liste mit Vorwürfen

Bereits vergangene Woche forderte die Geschäftsführung des Tanztheaters Wuppertal die fristlose Entlassung der Intendantin. Vorgeworfen wurde Adolphe Binder laut Wuppertaler Rundschau, dass sie ihre Aufgaben als Intendantin nicht wahrgenommen und immer wieder eigenmächtig gehandelt habe. Auch ihr Verhalten gegenüber Mitarbeitern habe Geschäftsführer Dirk Hesse kritisiert; fünf Abmahnungen verzeichne dessen Liste von Vorwürfen, welche der WR vorgelegen habe. Zudem soll Adolphe Binder bislang keinen wirtschaftlich und künstlerisch tragfähigen Spielplan für die Saison 2018/19 vorgelegt haben, wie Wiebke Hüster in der FAZ vergangene Woche von der nicht-öffentlichen Beiratssitzung berichtete.

Laut WR wollte der Beirat die schwerwiegende Entscheidung vergangene Woche nicht übereilt treffen. Heute nun ermächtigte das Kontrollgremium mit nur einer Gegenstimme die Geschäftsführung, Binder die außerordentliche Kündigung auszusprechen. Regulär würde ihr Vertrag noch bis Ende Juli 2022 laufen.

Störungsreiche Binnenbeziehungen – und eine Kampagne?

Der Kündigung voraus gegangen sind offenbar intern "heftige Auseinandersetzungen" zwischen der Intendantin Adolphe Binder und ihrem Vorgesetzten, dem Geschäftsführer Dirk Hesse. Dabei soll es auch um den Spielplan 2018/19 gegangen sein, berichtete die Wuppertaler Rundschau. Ebenso soll das Verhältnis von Beginn an "nicht störungsfrei" gewesen und mehrere Mediationsversuche gescheitert sein, so die Westdeutsche Zeitung.

Bereits während ihrer Zeit als Künstlerische Direktorin der Göteborg Operans Danskompani habe es laut Wuppertaler Rundschau in Zusammenhang mit Adolphe Binder Gerüchte um Mobbing und Günstlingswirtschaft gegeben. Binder habe dies stets abgestritten; das Göteborger Ensemble habe die Vorwürfe auf Nachfragen auch nicht bestätigt – so wie der Süddeutschen Zeitung und Deutschlandfunk Kultur zufolge auch die Tänzer*innen der Wuppertaler Kompanie. In der WR sprechen Ensemblemitglieder stattdessen von fehlender Transparenz und Kommunikation seitens der Geschäftsführung und verteidigen Binder gegen die erhobenen Vorwürfe.

Offenbar seien hier Personalinterna gezielt an die Öffentlichkeit weitergegeben worden, so die Süddeutsche Zeitung. An welchen Stellen die Verabschiedung eines Spielplans für die Saison 2018/19 blockiert worden sei, sei unklar: "Hesse war, wie es aus informierten Kreisen heißt, etliche Wochen krank geschrieben und wurde vertreten", so die SZ. "Dass eine erfahrene Managerin wie Adolphe Binder nicht in der Lage sein sollte, eine Saison zu planen, erscheint fragwürdig."

Neue Ordnung, um Bauschs Erbe zu bewahren

Einleiten möchte der Beirat des Tanztheaters laut eigenem Bekunden nun "einen Prozess der kritischen Reflexion und Weiterentwicklung des Tanztheaters". Begleiten und moderieren soll ihn ein Expertengremium, dem "herausragende Fachleute aus dem In- und Ausland angehören" sollen. Zugesagt hat seine Mitwirkung offenbar bereits Alistair Spalding, der Künstlerische Direktor des Sadler's Wells Theatre London. Erarbeitet werden sollen Vorschläge für die Neugestaltung der Führungs- und Leitungsstruktur beim Tanztheater Wuppertal und das Anforderungsprofil für die zukünftige künstlerische Leitung. Umfassen soll es sowohl die Bewahrung und Pflege des künstlerischen Erbes von Pina Bausch als auch die künstlerische Weiterentwicklung der Kompanie "als bedeutendes Ensemble des zeitgenössischen Tanzes", so der Beirat.

Im Zuge der aktuellen Ereignisse wird auch der Geschäftsführer Dirk Hesse seinen Vertrag, der Ende des Jahres ausläuft, nicht verlängern. Nachdem nach Pina Bauschs Tod zunächst Dominique Mercy und Robert Sturm an der Spitze des Wuppertaler Tanztheaters standen, hatte Hesse es seit 2011 gemeinsam mit dem Tänzer Lutz Förster geleitet und ist der Vorgesetzte der Intendantin. Spätestens zum September soll er auf Verlangen des Beirats einen Spielplan vorlegen, der "geeignete Stücke Pina Bauschs" sowie die beiden neuen Stücke aus dieser Spielzeit enthalten und "dem zehnten Todesjahr Bauschs (2019) sowie dem zehnjährigen Bestehen des Pina-Bausch-Archivs Rechnung tragen soll", wie es in der Presseaussendung heißt.

Bekenntnis zur Tanztheater-Institution

Sowohl der Beirat als auch die Stadt Wuppertal und das Land Nordrhein-Westfalen bekennen sich laut Presseaussendung zur Institution des Tanztheaters Wuppertal, das die Choreographin Pina Bausch von seiner Gründung 1978 bis zu ihrem Tod 2009 leitete. Ihre Werke bilden die Grundlage des Repertoires. Adolphe Binder hatte zuletzt zwei neue Stücke für das Ensemble in Auftrag gegeben, "Seit sie" von Dimitris Papaioannou und "Neues Stück II" von Alan Lucien Øyen. Ebenfalls umgesetzt werden soll die Errichtung eines schon länger geplanten Pina Bausch Zentrums im Wuppertaler Schauspielhaus.

(Tanztheater Wuppertal Pina Bausch / WR / WZ / FAZ / SZ / eph)

 

Adolphe Binder: "Vorwürfe unhaltbar"

15. Juli 2018. In einem offenen Brief hat Adolphe Binder die gegen sie erhobenen Vorwürfe als unhaltbar zurückgewiesen. Insbesondere verwahrt sie sich dagegen, keinen Spielplan für die Spielzeit 2018/19 erstellt zu haben. Vielmehr habe sie bereits im vergangenen Jahr unter Einbeziehung der verschiedenen Abteilungen des Tanztheaters einen solchen Spielplan mit Schwerpunkt auf Pina Bauschs 10. Todesjahr erarbeitet, der der Geschäftsführung ebenso wie dem Beirat auch vorliegen würde. Diverse Gastverträge seien ebenso lange fest verabredet und von der Geschäftsführung bestätigt worden. Darüber hinaus kritisierte Binder den aus ihrer Sicht ungeregelten, sich widersprechenden Zustand, "dass nämlich die Intendanz zwar das alleinige Entscheidungsrecht in allen künstlerischen Angelegenheiten haben soll", während doch sämtliche Kompetenzen unbegrenzt nur bei der Geschäftsführung liegen würden.

(sle)

 

Mehr zum Thema: Adolphe Binder klagt im Juli 2018 vor dem Arbeitsgericht gegen ihre fristlose Kündigung. – Über den Fall Wuppertal sprechen im Theaterpodcast des Monats September 2018 Susanne Burkhardt und Elena Philipp mit der Tanzjournalistin Dorion Weickmann. – Noch vor der Verhandlung am Arbeitsgericht beruft die Stadt im November 2018 eine Interims-Intendanz für das Tanztheater Wuppertal.


Presseschau 

Wuppertals Kulturdezernent Matthias Nocke sagt im Gespräch auf Deutschlandfunk Kultur (13.7.2018), er sei "seit einem Dreivierteljahr mit diesem Konflikt befasst" gewesen und beschreibt den Konflikt nicht als Streit zwischen Kunst und Kommerz, Traditionalismus und Modernisierung oder in ähnlichen Gegenüberstellungen, sondern als eine "komplexe Angelegenheit, die viel mit Kommunikation und Psychologie zu tun hat". Beim "Grad der Zerrüttung", der in diesem Konflikt eingetreten sein, habe gegolten, "die akute Gefahr abzuwenden, zu einer Implosion des Tanztheaters und dieses einmaligen Kulturgutes beizutragen", so Nocke. "Das war jetzt, wenn sie so wollen, das Ziehen der Reißleine", denn das Tanztheater sei "keine Selbsterfahrungsgruppe".

Eine "sehenswerte erste Spielzeit" habe Adolphe Binder hingelegt, kommentiert Elisabeth Nehring für den Deutschlandfunk (14.7.2018) die Wuppertaler Fall. Der "Geburtsfehler" läge in der arbeitsrechtlichen Konstruktion der Wuppertaler Theaterleitung, nach der die Intendanz der Geschäftsführung unterstellt ist. "Das hieß für Adolphe Binder: alle künstlerischen Entscheidungen mussten vom Geschäftsführer abgesegnet werden. Damit diese Konstruktion was taugt, müssen sich zwei Menschen schon sehr gut verstehen. In diesem Fall aber war sie das Einfallstor für den Zersetzungsprozess, der nun in der fristlosen Kündigung mündete." Im WDR 5 (16.7.2018) führt Elisabeth Nehring ihre Eindrücke weiter aus und erläutert, dass vor allem die "Kommunikationsprobleme" innerhalb der Theaterleitung als Kündigungsgründe für Adolphe Binder aufgeführt würden. Nehring macht ihre Einschätzung, dass der Neustart unter Binder tatsächlich erfolgreich verlaufen sei, vor allem an der "offensichtlich sehr guten und vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen der neuen Intendantin und einem Großteil des Ensembles" fest.

Adolphe Binder ist in den Augen von Katrin Bettina Müller von der taz (14.7.2018) "ein Opfer des Wunsches von Beirat, der Stadt Wuppertal und des Landes Nordrhein-Westfalen geworden, vor allem Ruhestörung zu vermeiden. Man hat ihr kaum Zeit gegeben, die nicht einfache Aufgabe zu bewältigen, einen Übergang von der Ikone Pina Bausch zu neuen Anfängen zu moderieren." Müller stuft die bisherigen neuen Tanzarbeiten in Wuppertal als moderaten "Übergang von Vertrautem zu anderen Erzählweisen" ein ("Das schien zwar noch nicht glänzend, aber so weit, so gut."). Sie berichtet vom Zuspruch der Tänzer*innen für Binders Arbeit und verweist auf einen FAZ-Text der Tanzkritikerin Wiebke Hüster, mit dem die Angriffe auf Binder vorbereitet wurden (die Kritikerin "schien durch gute Kontakte zur Geschäftsführung des Wuppertaler Tanztheater schon zu wissen, mit welchen Argumenten Dirk Hesse beim Beirat auf deren Kündigung drängte").

Von einer "brutalen Selbstzerfleischung" berichtet Manuel Brug für die Welt (14.7.2018) in einem Beitrag unter der Überschrift "Intrigen ruinieren das berühmteste Tanztheater". Auch Brug hebt auf die Rolle der Presse in dem Personenkonflikt zwischen Hesse und Binder ab. Teile der Presse hätten zu einem Zeitpunkt, da die Tanzkompagnie im Ausland weilte, Interna und Vorwürfe gegen die Intendanz publik gemacht: "Binder durfte sich nicht äußern, und manche Journalisten machten sich nur allzu gerne zu willfähigen Vollstreckern." Tatsächlich habe es entgegen den Vorwürfen der Geschäftsführung einen mit den Tänzer*innen abgestimmten Spielplan gegeben. Geschäftsführer Dirk Hesse hatte ihn nur nicht genehmigt.

"Ob und wie viele der Vorwürfe gegenüber Adolphe Binder berechtigt sind, lässt sich aus der Distanz schwer ergründen", schreibt Lilo Weber in der Neuen Zürcher Zeitung (15.7.2018). "Tatsache ist, dass sich, nachdem die schmutzige Wäsche in aller Öffentlichkeit gewaschen worden war, Frieden zwischen Intendanz und Geschäftsleitung kaum mehr hätte einstellen können. Es gibt in diesem Konflikt nur Verlierer – in erster Linie leider das Tanztheater Wuppertal."

"Es ist nationales Kulturerbe, das hier auf dem Spiel steht", schreibt Sandra Luzina im Tagesspiegel (16.7.2018) und macht den Konflikt vor allem an der problematischen Doppelstruktur aus Geschäftsführung und Intendanz klar. "Eine Geschäftsordnung, die die Leitungsaufgaben klarstellt und die es früher auch bei der Tanztheater GmbH gab, habe sie seit Frühjahr 2016 immer wieder gefordert, erklärt Binder, doch es wurde keine erlassen." Adolphe Binders Arbeit wird von der Kritikerin positiv bewertet. Die "erfahrene Kulturmanagerin und ausgewiesene Tanzexpertin" habe "die Weichen in Richtung Zukunft gestellt", "neue Tänzer engagiert und zwei Uraufführungen von internationalen Gastchoreografen herausgebracht". Das Tanztheater sei für die New Yorker Bessie-Awards nominiert worden. "Dass Binder nun gehen muss, ist ein herber Rückschlag."

In einem Kommentar in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (17.7.2018) wirft Jürgen Kaube – unter seinem Kürzel kau – der gekündigten Intendantin Adolphe Binder vor, mit ihrem Offenen Brief den Anspruch auf die Geschäftsführung erhoben zu haben. Nach dem Motto: "Meine Pläne, geprüft und in letzter Instanz bejaht – durch mich." Binder sei gleichwohl die Wuppertaler Entscheidungsstruktur bei Amtsantritt bekannt gewesen. Und: "Wichtiger ist: Gibt es irgendwo im Bereich staatlich finanzierter Kunst eine Einrichtung, in der es keiner organisatorischen, ökonomischen und rechtlichen Prüfung unterliegt, was eine künstlerische Leitung plant oder auch zu planen unterlässt?"

Im Interview mit tanzweb.org äußert sich erneut Kulturdezernent Matthias Nocke. Er verteidigt die Konstruktion, dass Adolphe Binders Entscheidungen von Geschäftsführer Dirk Hesse bestätigt werden müssten. "Es ist keineswegs ein verrücktes Konstrukt." Der Beirat werde sich aber "nochmals kritisch mit den Leitungsstrukturen beschäftigen". Nocke betont indes, Binder habe als Intendantin und künstlerische Leiterin des Tanztheaters autonom über jede künstlerische Frage entscheiden können. "Allein, man muss auch entscheiden. Man muss Entscheidungen treffen und Dinge fertig machen, – so würde ich das formulieren wollen." Adolphe Binders Aussage, sie habe durchaus einen Spielplan konzipiert, weist Nocke zurück: "Es handelt sich hierbei lediglich um einen Spielplanentwurf und Frau Binder ist auch mehrfach aufgefordert worden, dreimal um präzise zu sein, diesen zu vervollkommnen und einen, mit allen Departements der Compagnie abgestimmten Spielplan vorzulegen. Das ist zu meinem großen Bedauern bisher noch nicht erfolgt." Das sei aber nicht Kern des Konflikts gewesen und der Grund für Binders Aus liege auch nicht in einem Machtkampf zwischen ihr und Geschäftsführer Dirk Hesse. "Es handelt sich hier nicht um ein Zweipersonenstück, sondern tatsächlich um einen Konflikt, der alle Departements der Compagnie durchzieht, und nicht um einen Konflikt zwischen Kunst und Kommerz, es ist auch nie um Geld gegangen und es handelt sich auch nicht um einen Konflikt zwischen Traditionalisten, die sich in besonderer Weise dem Werk von Pina Bausch verpflichtet fühlen auf der einen Seite und Modernisierern, die Neuinszenierungen in den Vordergrund stellen wollen auf der anderen Seite. Das ist alles nicht der Fall, sondern es ist in der Tat ein sehr komplexer und vielschichtiger Konflikt, der überwiegend psychologischer Natur ist und der vor Allem etwas mit Kommunikation zu tun hat."

"Die Stadt hat in der Sache komplett versagt." Bertram Müller, Vorstand des Dachverbandes Tanz, kritisiert im Gespräch mit der Wuppertaler Rundschau (21.7.2018) das Organisationsmodell des Tanztheaters. "Es ist kurios, dass die Geschäftsführung hier auch die Entscheidungshoheit über alle künstlerischen Entscheidungen hat." Es fehle zudem eine Geschäftsordnung, die klare Zuständigkeite regele. Müller fordert, dass die Stadt jetzt die Fakten auf den Tisch legt, "was wirklich die Ursachen des Konflikts und der Kündigung sind".

Recherchen von Nicole Bolz in der Wuppertaler Rundschau (22.11.2018) belegen, dass Stadtvertreter gegen Adolphe Binder gearbeitet haben – mit Verzögerungen im Betriebsablauf oder gezielten Falschinformationen. Mehr in der Zusammenfassung.

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