Eine rauschende Kriegsnacht

von Barbara Petsch

Wien, 13. Juli 2018. Er gilt mit seinen 60 Jahren noch immer als Enfant Terrible der Wiener Theaterlandschaft - und etwas kindlich Anarchisches hat Paulus Mankers Kunst. Er lebt seiner Fantasie, hat sich in fast allen Genres versucht, mal mit mehr, mal mit weniger Fortüne, ist aber auch ein Profi. Der Sohn des legendären Volkstheaterdirektors Gustav Manker pflegt sein Image als wilder Mann. Um die Werbetrommel für seine neue Produktion "Die letzten Tage der Menschheit" von Karl Kraus zu rühren, war Manker in den letzten Wochen medial stark präsent, kritisierte die türkis-blaue Regierung, schwärmte inmitten der hitzigen Debatte um den 12-Stunden-Tag in Österreich von seinem 18-Stundentag und versprach baldige Heirat, am Ort seiner jüngsten Performance, einer ehemaligen Industriehalle, 40 Minuten von Wien entfernt, in Wiener Neustadt, das vor allem für seine Militärakademie bekannt ist.

Um Krieg geht es in "Die letzten Tage der Menschheit" von Karl Kraus, um die Ahnungslosigkeit, Dummheit und den Zynismus, die Europa in den I. Weltkrieg stolpern ließen. "Die Schlafwandler" nannte der britisch-australische Historiker Christopher Clark sein Buch über die damaligen Macht-Konstellationen. Auch Kraus' Werk, ein Wälzer von etwa 770 Seiten, hat etwas Traum- und Alptraumhaftes.

Fackelpanorama in der alten Industriehalle

Manker zeigt 75 von 220 Szenen in einer ehemaligen Rüstungsindustriehalle, in der im II. Weltkrieg Häftlinge des KZ Mauthausen untergebracht waren. Das verwahrlost wirkende Areal erweist sich als idealer Abenteuerspielplatz für Altbub Paulus. Es ist unfassbar, dass es ihm gelungen ist, diesen gewaltigen Raum zu besiedeln, zu adaptieren, die behördliche Genehmigung durchzudrücken – und sein Spektakel stattfinden zu lassen. Zentral ist ein Wagen, der auf Schienen durch die Halle läuft, darauf ein Stahlgestell mit bunten Lämpchen. Die Pyrotechnik wird stark strapaziert, andauernd flackert irgendwo ein Feuer, auch die Besucher müssen sich immer wieder vor Fackeln in Sicherheit bringen.

LetzteTage3 560 SebastianKreuzberger xAuf dem Zug bis in die Halle in Paulus Mankers "Die letzten Tage der Menschheit"
© Sebastian Kreuzberger

Manker folgt im wesentlichen Kraus' Buch, vom Attentat auf den Thronfolger der österreichisch-ungarischen Monarchie, Franz Ferdinand, im Jahr 1914 über die anfängliche Kriegsbegeisterung, die in Ernüchterung, Entsetzen und Wut umschlägt – bis es zum Zusammenbruch des Habsburger-Reiches kommt. Kraus bietet genau gezeichnete Figuren jeder Gesellschaftsschicht, Fräuleins, Passanten, Nörgler, Optimisten, einfache Soldaten, Offiziere, Schriftsteller, die sich ins Kriegspressequartier geflüchtet haben, sogar die Herrscher treten persönlich auf. Besonders beißend kritisiert Kraus die Presse: "Die Presse ist eine Macht, an der sich nicht rütteln lässt, aber wenn sie rüttelt, fallen die Zwetschken von den Bäumen".

Schlachtfeld-Polydram

Die Zuschauer dürfen mit dem Wagen, zeitweise sind es mehrere, durch die Halle und ins Freie fahren, wo sie im Prater einen Schützengraben besichtigen und den Reportagen der berühmten Journalistin Alice Schalek von der Front lauschen, Kraus konnte sie offensichtlich nicht leiden und machte sie zu einer aufdringlichen Hobby-Poetin, die von verstörten Soldaten wissen will, was sie sich auf dem Schlachtfeld so denken. Einer beantwortet ihre Frage später im Lazarett: "Nichts!" Worauf er das Zeitliche segnet.

LetzteTage5 560 SebastianKreuzberger xViele Bühnen in der Bühne: historische Kostüme und kleine Wunderkammern im Bühnenbild
© Sebastian Kreuzberger

Polydram nennt Manker seine Aufführungen, die in verschiedenen Räumlichkeiten stattfinden, die voll gepackt sind mit den wunderlichsten Requisiten, die wie auf dem Flohmarkt zusammen gerafft wirken. Im Erdgeschoss gibt es eine Art Wintergarten, im ersten Stock eine Redaktion, lange Bürofluchten illustrieren, was in der Monarchie noch am längsten überlebte, der Amtsschimmel. Die Zuschauer klettern geduldig über die Wendeltreppe hinauf und wieder hinab. Manchmal müssen Schauspieler im Trockeneisnebel über die engen Stufen laufen, die Aufführung ist ein logistisches und organisatorisches Mirakel.

Den Österreichern fehle die Organisation, murrt der alte Kaiser Franz Joseph einmal, hier funktioniert sie fast perfekt. Prinzipal Manker wandelte bei der Voraufführung am Freitag, die Premiere ist heute, Samstag, die ganze Zeit, von 18 Uhr bis ein Uhr morgens, durch sein Environment, manchmal spielte er auch mit, einen Schaffner oder einen widerlichen Industriellen. Die Lage der Arbeiterschaft war in der Monarchie von jener Leibeigener nicht weit entfernt, wer nicht parierte, wurde mit der Hundepeitsche geschlagen, verhaftet oder gleich standrechtlich erschossen.

Schaurig grölen die Burschenschaftler

In einem düsteren Salon versammeln sich Burschenschafter und singen das Lied, das zum Rücktritt Udo Landbauers führte. Der Spitzenkandidat der FPÖ für die Niederösterreichische Landtagswahl stammt aus dem nahen Neunkirchen, seine Burschenschaft Germania ist in Wiener Neustadt daheim. "Da trat in ihre Mitte, der Jude Ben Gurion: 'Gebt Gas, ihr alten Germanen, wir schaffen die siebte Million'." Diese wahrhaft obszöne Liedzeile führte wochenlang zu heftigen politischen Diskussionen. Landbauer bereitet gerade sein Comeback vor.

LetzteTage6 560 SebastianKreuzberger xNachrichten von der Front © Sebastian Kreuzberger

Die Burschenschafter im Stück grölen, es ist eine der schaurigsten Szenen des Abends. Andere sind das Sterben im Lazarett, die Besucher halten den schwer verletzten Soldaten die Hände, ein Priester erläutert, warum die Gewaltlosigkeit, die Religion predigt, im Krieg nicht gilt, in einem Nachtlokal wird gefeiert, Lebensmittelwucher greift um sich, Schwarzhandel blüht, Frauen streiten sich um die letzten Brote. Die immer beunruhigender klingenden Berichte von der Front werden ignoriert, eine Frau, die ihren Mann tot wähnt und ein Kind von einem anderen erwartet, hat das erschütternde letzte Wort. Doch nicht alles ergreift, manches wirkt auch billig und effekthascherisch.

Bewundernswertes Engagement

Mankers erster großer Erfolg war "Alma" über die schillernde Fin-de-Siècle-Muse Alma Mahler-Werfel, die mit Gustav Mahler, Walter Gropius und Franz Werfel verheiratet war und überdies liiert mit Oskar Kokoschka. Die Produktion tourt seit 1996 und hat eine begeisterte Community, manche folgen "Alma - A Show Biz ans Ende" von einem Ort zum anderen. Das ist offenbar auch hier das Kalkül. Allerdings gab es Probleme mit den Subventionen, Sponsoren sprangen ein, Manker hat offenbar viele Fans und auch finanziell potente Unterstützer. Zurecht, seine Kreationen sind sinnlich, prall, dieses Theater springt einen förmlich an.

Doch "Die letzten Tage der Menschheit" sind bei weitem nicht so rundum gelungen wie "Alma", vielleicht weil Kriegsszenen omnipräsent sind, das Werk von Karl Kraus oft gespielt wird, zuletzt war es am Wiener Burgtheater zu sehen, und weil Bilder und Musik die grandiose Sprache überwuchern, die man im Getümmel teilweise nicht einmal versteht.

Der bedeutende Schauspieler Helmut Qualtinger (1928-1986) hat "Die letzten Tage der Menschheit" gelesen, ein grandioser Stimmenimitator, der nur mit Worten jede einzelne Figur messerscharf umriss. Auf YouTube kann man Qualtingers atemberaubende Auftritte verfolgen. Im Vergleich dazu sind Mankers "Letzte Tage" nur ein dröhnendes Kriegsspektakel. Eine Besetzungsliste mit den einzelnen Rollen gibt es nicht, nur die Namen der Spieler sind auf der Homepage verzeichnet, die bekanntesten sind Alexander Wächter von der Josefstadt und Franz J. Csencsits vom Burgtheater. Die Schauspieler wirken teilweise wie Nobodys, passend zur Idee, dass Katastrophen die Menschen gleich machen. Das Ensemble zeigt bewundernswertes Engagement. Neben ihrem Spiel müssen einige Akteure auch noch das Diner für die Zuschauer servieren.

Kerze überm nackten Hintern

Manker gilt, milde gesagt, als fordernder Chef. In einer Szene entblößt er die Kehrseite einer jungen, hübschen Spielerin und hält eine tropfende Kerze über ihren nackten Po, er nimmt sie gleich wieder weg. Aber dieser kurze Moment lässt ahnen, dass bei diesen "Letzten Tagen" auch die Beteiligten manchmal das Gefühl hatten, ihre letzte Stunde habe geschlagen.

Der Schauplatz ist eine Sensation, die Aufführung ist kundig vorbereitet, es gibt ein tolles Programmbuch mit historischen Darstellungen, über einen QR-Code kann man Infos empfangen, doch wer braucht das, man geht ins Theater, um live etwas zu sehen, in eine andere Welt einzutauchen – und einmal ein paar Stunden nicht aufs Handy zu starren. Die Belästigung durch leuchtende Displays und Geklingel ist schon schlimm genug. Alles in allem: Sehenswert. Krausianer werden allerdings lieber zum Buch greifen.


Barbara Petsch, die Autorin dieses Textes, ist Theaterkritikerin im Feuilleton der Wiener Tageszeitung Die Presse.

 

Die letzten Tage der Menschheit
von Karl Kraus
Regie: Paulus Manker, Kostüme: Aleksandra Kica, Raumkonzept: Georg Resetschnig, Musik: Lukas Kletzander.
Mit: Alexander Wächter, Franz J. Csencsits, Stefan Kolosko, Iris Schmid, Anuschka Grigalashwili, Anu Sifkovits, Bernhard Jammernegg, Gunter Matzka.
Dauer: 7 Stunden

www.letztetage.com

 

Andere Inszenierungen von Die letzten Tage der Menschheit: Georg Schmiedleitner inszenierte das Anti-Kriegs-Drama 2014 bei den Salzburger Festspielen, Wolfgang Engel führte es 2014 in Dresden in eine apokalytische Revue.

 

 

Kritikenrundschau

"Früher hieß es Erlebnistheater. Heute bezeichnet man die Art, wie Paulus Manker 'Die letzten Tagen der Menschheit' inszeniert, als 'immersiv': das Publikum ist mittendrin", so Margarete Affenzeller im Standard (15.7.2018). Das Ganze sei "dramaturgisch, logistisch und enthusiastisch so einnehmend gemacht (...), dass man gern ausführlich in diese Ereignislandschaft" eintauche. Dabei habe Mankers Raumkreator Georg Resetschnig zentrale Schauplätze "ähnlich exzessiv" und "detailgenau" ausgestattet wie es etwa die Gruppe Signa zu tun pflegt. Es gelinge "ein Eintauchen in historische Situationen, man kommt in Kontakt mit verschiedenen politischen Prototypen der Kriegsjahre." Wie "jede Inszenierung, die sich dem Nachstellen historischer Ereignisse andient", zahle auch diese "den hohen Preis der Oberflächlichkeit", sei aber "bei aller Verkürzung und allem Pathos (...) immer abenteuerlich und emphatisch."

Manker nutze Teile seines "Alma"-Bühnenbildes nun auch für die "Letzten Tage", weiß ein*e (zumindest online) namenlose*r Kritiker*in im Kurier (15.7.2018). "Zudem übernahm Manker das Konzept der simultan ablaufenden Szenen: Immer wieder hat man sich zu entscheiden, welcher Figur man folgen will." Natürlich habe Manker "in die Abfolge eingegriffen und Szenen pointiert gebündelt." Das Ganze sei "eines langen Tages Reise in die Nacht – aus dem Sonnenlicht in die Düsternis. (...) Nach dem üppigen Leichenschmaus werden die Szenen immer grotesker, zynischer, hysterischer und bedrückender." "Frenetischer Jubel", heißt es im Kurier.

"Ein sechseinhalb Stunden langer Abstieg in die Hölle" und eine"monumental konzipierte Bilderschlacht" sei dieser Abend, schreibt Wolfgang Höbel auf Spiegel online (15.7.2018). Die von Resetschnig gestalteten Räume seien "nicht nur zum Bestaunen, sondern auch zum Anfassen und Benutzen gedacht." Der Erste Weltkrieg sei hier "eine begehbare, von Flammen illuminierte, von Geschützlärm und Musik durchtoste Skulptur. Ein Gesamtkunstwerk aus Feuer, Krawall und vielen Worten." Manker setze wie andere vor ihm beim Kraus-Inszenieren auf ein "Prozessionstheater, das die Zuschauer die Kriegsgräuel und Seelendesaster einer grausamen Zeit nun in der Atmosphäre von Kaffeehaus und Volkssängerbühne erleben lässt." "Fast zwangsläufig" gebe es "auch Momente des lärmenden Leerlaufs, in denen die Inszenierung ähnlich waghalsig und bedrohlich herumzuirren scheint wie die Mitspieler, die sich im Halbdunkel der Serbenhalle immer wieder ihren Weg durch die Zuschauermenge bahnen".

"Megalomanie prallte auf Budgetnot und gebar ein honoriges und bejubeltes Spektakel." So berichtet Hans Haider in der Wiener Zeitung (17.7.2018). Alexander Waechters Schauspieldarbietungen werden herausgehoben. "Eingangs gibt er den richtigen Satire-Ton als Hofrat Nepalek vor, der 1914 das Trauerzeremoniell schaukelt. Nicht alle Mitspieler vermögen ihm zu folgen." Zur Akzentuierung der Inszenierung heißt es: "Von Karl Kraus als Totengräber angeklagt: die Presse. In diese Wunde, sie heißt 'Neue Freie Presse' und 'Reichspost', legt Manker deutlich genug seine Regiehand.“

Im Setting liefere Paulus Manker eine "Raubkopie des Erfolgsmodells" seiner Inszenierung "Alma – A Show Biz ans Ende", berichtet Wolfgang Kralicek in der Süddeutschen Zeitung (17.7.2018). Es könne "von Regie im engeren Sinn des Wortes kaum die Rede sein, Manker hat eher arrangiert als inszeniert". Das "Hauptproblem" sei, "dass das Stück sich für ein Event wie dieses nur bedingt eignet: Die satirisch überzeichneten Figuren haben zu wenig Fleisch, szenische Funken schlägt die immerhin sechseinhalb Stunden lange Aufführung auch deshalb nur selten". Im Ganzen ist der kulinarische Event-Abend für den SZ-Kritiker "ziemliches Schmierentheater".

Über die Berliner Adaption der Produktion im August 2021 berichtet Peter von Becker im Tagesspiegel (20.8.2021).

 

Kommentare  
Die letzten Tage, Wien: Nachfrage aus dem Ensemble
Guten Tag, Frau Petsch!
Danke für Ihre fundierte Kritik. Ich bin Teil des Manker-Ensembles und mich würde brennend interessieren, welche Szenen Sie erreicht und welche Sie als plakativ wahrgenommen haben. Vielleicht können Sie mir einige Beispiele nennen?
Danke und herzliche Grüße,
Bernhardt Jammernegg
Die letzten Tage, Berlin: stark in Gruppenszenen
Aus dem Mammutwerk von Karl Kraus wählte Paulus Manker 75 der 220 Szenen aus, die am Tag der Ermordung des habsburgischen Thronfolgers einsetzen, als Mitteleuropa besinnungslos im Sommer 1914 in den Ersten Weltkrieg tummelte. Stark ist dieser Marathon immer dann, wenn Manker Gruppenszenen choreographiert, den Wagen durch die gesamte Halle fahren, die Statist*innen aufmarschieren lässt und Wimmelbilder erzeugt. So entstehen oft atmosphärisch dichte, eindrucksvolle Szenen. Aber zu oft gibt es in diesen langen Stunden auch kleinere Nummern, die als Soli zu breit ausgewalzt sind und von den gewaltigen Ausmaßen der Halle verschluckt werden.
Belgienhalle

Wenn Manker sein opulentes Spektakel um eine oder anderthalb Stunden kürzen würde, ginge es immer noch bis nach Mitternacht. Die mit Fackeln erleuchtete Untergangsstimmung des Jahres 2018 würde auch dann in der nächtlichen Fabrik-Ruine noch voll zur Geltung kommen, einiger Leerlauf dazwischen bliebe dem Publikum aber erspart.

Den schlechtesten Eindruck an diesem Theater-Event, das von allen Beteiligten mit so viel Herzblut und als gewaltiger Kraftakt gestemmt wird, hinterlässt die Übergriffigkeit eines Schauspielers, der sich ohne jede Vorwarnung aus dem Spiel heraus auf Zuschauer stürzt. Das wäre schon zu „normalen“ Zeiten grenzwertig und respektlos, in Zeiten der Delta-Variante mindestens fahrlässig.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2021/08/21/die-letzten-tage-der-menschheit-belgienhalle-theater-kritik/
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