Kein Schwan wird kommen

von Georg Kasch

Bayreuth, 25. Juli 2018. Blau ist die Farbe der Dämmerung, des Traums – und von Richard Wagners "Lohengrin"-Musik. Letzteres behauptete einst Friedrich Nietzsche, und unabhängig davon haben es auch die Maler Neo Rauch und Rosa Loy empfunden. Entsprechend blau ist ihre ziemlich monochrome Bilderwelt auf der Bühne des Bayreuther Festspielhauses: Dichte Wolken hängen schwer am Rundhorizont, unten bauscht sich das Gras, Bäume stehen als zweidimensionale bemalte Aufsteller herum. Eine Landschaft irgendwo zwischen flämischer Malerei und Arnold Böcklins "Die Toteninsel". Hier wimmeln Frau Antjes mit lustigen Hauben und Van-Dyck-Charaktere mit fantasievoll verfremdeten weißen Krägen. Das Führungspersonal ist mit Insektenflügeln ausgestattet.

lohengrin1 560 Enrico Nawrath uDas Bühnenbild von Neo Rauch und Rosa Loy © Enrico Nawrath

In der Mitte steht eine Transformatorenstation – und Lohengrin ist der, der hier die Energie reinpumpen wird. Nicht nur im übertragenen Sinn: Wenn er mit seinem ufo-ähnlichen Schwan und seiner Arbeitermontur landet, dann beginnen die Drähte zu glühen. "Lohengrin" ist zwar vordergründig ein Märchen, aber – 1850 uraufgeführt – ein Kind der frühen Industrialisierung, des Vormärz und Wagners revolutionärer Verstrickungen darin.

Fürstentochter und Landes-Erbin Elsa wird von den Fieslingen Telramund und Ortrud angeklagt, schuld am Tod ihres Bruders zu sein. Sie steht schon mit einem Bein auf dem Scheiterhaufen, als der ihr bereits im Traum erschienene Lohengrin auftaucht, sie verteidigen und heiraten will – unter der Bedingung, ihn nie nach Namen und Herkunft zu fragen.

Natürlich geht das schief. Bei Wagner, weil Elsa letztlich eine schwache, imperfekte Frau ist, die den Revolutionär von oben nicht würdigen kann. Bei Regisseur Yuval Sharon, weil Elsa sich allmählich von Lohengrin emanzipiert und von der Machtpolitikerin Ortrud zu zweifeln lernt (das Programmbuch zitiert entsprechend Brecht). Lässt sich Elsa am Ende des zweiten Akts noch nach einigem Zögern von Lohengrin in eine Position drücken, aus der sie zu ihm aufschauen muss (was an ein Foto von Wagner und seiner Frau Cosima erinnert), dominiert sie am Ende aufrecht im zum Blau komplementären Orange die Bühne, während Lohengrin zusammenbricht und am Boden von seiner Herkunft erzählt.

Lust auf große Bilder

Das klingt auf dem Papier schlüssiger, als es auf der Bühne aussieht. Sharon ist keiner, für den eine psychologische Figurenführung Priorität hätte. Es passiert wenig zwischen den Handelnden, aber wenn, dann mit der expressiven Redseligkeit von Stummfilmen. In Deutschland realisierte der gebürtige US-Amerikaner bislang erst wenige Inszenierungen: In Wagners "Walküre" und John Adams "Doctor Atomic" in Karlsruhe etwa hatte er die Szene mit Videos übergossen und eindrückliche Bilder gefunden, die nicht immer frei von Kitsch waren, während die Sänger in Operngesten erstarrten.

Diese Lust auf große Bilder dürfte einer der Gründe gewesen sein, warum Bayreuth bei ihm anrief, nachdem Alvis Hermanis aus Protest gegen die Willkommenskultur alle Inszenierungen in Deutschland absagte (2017 dann aber am Residenztheater Insgeheim Lohengrin erfand). Da waren Rauch und Loy längst gesetzt, und deshalb gebührt dem Malerpaar eine entscheidende Mitautorschaft an diesem Abend.

lohengrin3 560 Enrico Nawrath uvorn: Piotr Beczała als Lohengrin und Anja Harteros als Elsa von Brabant © Enrico Nawrath

Das Herumgestehe nämlich passt ganz gut zur blauen Stunde auf der Bühne, dieser somnambulen, traumhaften, surrealen Stimmung, in der Akzente vor allem durch Licht und die Musik gesetzt werden. Wagner hat ja höchst szenisch komponiert, man sieht mit den Ohren, gerade bei einem Dirigat wie dem von Christian Thielemann, der hier einen samtigen, ausgewogenen Klangzauber entfaltet, in Momenten des Umbruchs genüsslich Generalpausen dehnt und sich auf kaum hörbare Pianissimi einlässt.

Mit Anja Harteros und Waltraud Meier hat dieser "Lohengrin" zwei der großen Sängerdarstellerinnen unserer Zeit zur Verfügung, die auch immer wieder aus dem Stehkonzept ausbrechen. Harteros, diese kluge, zärtliche, empfindsame Sängerin, ist keine ideale Elsa, dazu fehlt es ihr an naiver Strahlkraft. Anfangs flackert ihr Sopran noch wild. Erst später findet sie zu leuchtenden Intensitätsmomenten, und gerade in der Brautgemach-Szene sitzt man plötzlich selbst wie auf Kohlen. Meier wiederum war mal eine der größten Wagner-Sängerinnen, auch in Bayreuth, verließ die Festspiele im Streit – und wird nun, 20 Jahre später, frenetisch für ihre Ortrud gefeiert. Dabei passen ihre scharfen, schrillen Töne und ihr diabolisches Um-die-Ecken-Schleichen eher zur märchenhaften Hexe als zu Sharons Konzept einer gewieften Politikerin.

Die Damen überleben

Der kurzfristig für Roberto Alagna eingesprungene Piotr Beczała schmeichelt mit seinem samtweichen, italienisch gefärbten Tenor bei strahlenden, aber nie übermäßig lauten Höhen den Lohengrin in die Ohren. Er passt fabelhaft zu Rauchs und Loys blauer Stunde. Kein Held, sondern einer, der als kaum fassbare Traum-Figur erscheint, Mensch wird (bzw. Insekt) und mit seiner Mission scheitert.

Am Ende kommt kein Schwan mit Kahn, um Lohengrin wieder mitzunehmen. Stattdessen stolziert Gottfried (der gar nicht tote, sondern von Ortrud nur verzauberte Bruder) über die Bühne, ein grünes Öko-Männchen. Noch eine Farbe, die der Hoffnung. Anders als bei Wagner überleben sowohl Elsa als auch Ortrud. Das ist schön, denn die Frauenfiguren gehören zu den Schwachpunkten in Wagners Heils- und Führerfigurenkonzeption, dazu muss man schon was sagen dürfen. Entscheidungen wie diese allerdings wirkten viel stärker, wenn sie szenisch auch beglaubigt würden. So bleibt ein eindrücklicher Bilderreigen, der sich nicht immer klar deuten lässt, aber wunderbar besoffen macht – wie Wagners warm flutende, verführerische Musik.

 

Lohengrin
von Richard Wagner
Inszenierung: Yuval Sharon, Musikalische Leitung: Christian Thielemann, Bühne und Kostüm: Neo Rauch & Rosa Loy, Licht: Reinhard Traub.
Mit: Georg Zeppenfeld, Piotr Beczała, Anja Harteros, Tomasz Konieczny, Waltraud Meier, Egils Silins, Michael Gniffke, Eric Laporte, Kay Stiefermann, Timo Riihonen.
Dauer: 5 Stunden 25 Minuten, 2 Pausen

www.bayreuther-festspiele.de

 

Kritikenrundschau

Werner Theurich von Spiegel Online (26.7.2018) konnte die "seltsam salzlose Regie" den Abend nicht verderben. Er sah und hörte "ein fantastisches Ensemble ohne Schwachpunkte, das zu Recht vom Publikum mit Jubel, Bravo und Getrampel in den Sommerabend entlassen wurde". Und weiter: "Was Christian Thieleman im ätherisch schimmerndem Vorspiel schon an Frische und treibender Energie aus dem perfekt eingestellten Orchester herausholt, ist schlicht sensationell. Und es reißt alle immer wieder mit."

Dieser 'Lohengrin' komme oft wie eine impressionistische Farborgie daher, die aber nie den tödlich tragischen Gang der Geschichte verschleiere, schreibt Reinhard J. Brembeck von der Süddeutschen Zeitung (26.7.2018). Neo Rauch & Rosa Loy sowie ihr Regisseur Yuval Sharon lassen "die Musik sich verströmen und Christian Thielemann sorgt schon dafür, dass die Hüllkurven der Geschichte (mehr kann die Musik ja nicht abbilden) deutlich werden. Dass sich also nach und nach das Unheil breitmacht in dieser wundersame Rettungsgeschichte und am Schluss keine Happy-End-Hochzeit steht, sondern die Scheidung."

"Es gibt keinen besseren Wagner-Dirigenten als Thielemann, Harteros und Meier gemeinsam sind eine Klasse für sich und der erst vor wenigen Wochen eingesprungene Beczala singt so, dass allein der Gedanke, für den Lohengrin sei ein anderer vorgesehen, seltsam und falsch wirkt", schreibt Peter Huth in der Welt (26.7.2018). "Man kann sich der Schönheit dieser Inszenierung nicht entziehen, die wirkungsmächtigen Bilder, die strahlenden Kostüme und immer wieder das Licht (Reinhard Traub) - alles so zeitlos unbekannt vertraut, neu und alt", schwärmt er weiter.

"Bühnenbild (bisschen Fritz Lang) und Kostüme (bisschen Van Dyck) ergeben ein märchenhaft malerisches Gesamtkunstwerk (...) in "Delfter Kachelblau" (plus orangenem Brautgemach) und deuten den Lichtbringer Lohengrin in elektrifizierender Weise", schreibt Stefan Ender vom Wiener Standard (26.7.2018). "Die Deutungsideen von Regisseur Yuval Sharon (als Ersatz für Alvis Hermanis) fesseln mehr die Protagonisten als das Publikum."

"Das Schönste aber sind die Wolkenstudien für den zweiten Aufzug und die Verwandlungsmusik vor dem letzten Bild, ganz romantisch in der Malweise, aber völlig verwirrend im Raumentwurf: Da schaut man übers Schilf in einen Abgrund. Und dieser Abgrund ist der Himmel selbst, dessen Wolken am oberen Rand wiederum aussehen wie eine Wasseroberfläche von unten", schreibt Jan Brachmann von der FAZ (27.7.2018) über die Bühne. Sharon habe die asymmetrische Beziehung zwischen Lohengrin und Elsa sehr sensibel ausinszeniert. "Auch wenn dieser 'Lohengrin' szenisch eher zurückhaltend ist, beschreibt er doch in Musik und Bühne ein so hohes Niveau, wie es nach Bayreuth unbedingt gehört."

Jürgen Liebing von Deutschlandfunk Kultur (25.7.2018) ist enttäuscht vom Bühnenbild. "Wenn man 'Lohengrin' als romantische Oper bezeichnet, ist es jetzt eine neo-romantische. Wir erleben ein Märchen und das ist ganz schön, aber mehr auch nicht." Und zur Regie: "Alles ist sehr statuarisch. Es wird wirklich sehr viel rumgestanden." Ausdrückliches Lob erhält nur Christian Thielemann.

"Zwei interpretatorisch lichte Momente" sah Frederik Hanssen von Zeit Online (26.7.2018) in einer Inszenierung, "die ansonsten in der Personenführung so konventionell daherkommt, als sei hier der legendär altfränkische Bayreuthprinzipal Wolfgang Wagner selbst am Werk gewesen". Zur Ausstattung: "Wie so oft, wenn Bildende Künstler als Bühnenbildner dilettieren, will es so recht nicht klappen mit dem Sprung ins Dreidimensionale."

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