Ein Wunsch, der keine Flügel hat

von Reinhard Kriechbaum

Salzburg, 29. Juli 2018. Den "ganzen Schreckenspomp des Krieges" ruft Penthesilea für den Endkampf herbei, in dessen Verlauf sie Achilles, den Geliebten, von einer Hundemeute wird stellen lassen und sich selbst im Wortsinn wird festbeißen an ihm. Solch ruinöse Frauen-Liebe ist über die 210 Jahre, die Kleists Trauerspiel nun alt ist, stets gleich verdächtig geblieben. Goethe – auch nicht der Frauenverächter einer – nörgelte dran herum und in #metoo-Zeiten springt einen das Männerunterwerfungs- und Nachkommenszeugungsritual der einbusigen Amazonen auch nicht gerade als literarische Causa prima an. Auf den ersten Blick jedenfalls nicht.

Ungeschönter Blick

Johan Simons, mit Beginn der neuen Spielzeit Intendant in Bochum, lässt nun bei den Salzburger Festspielen (und in Bochum ab 10. November) noch mal und genauer hinschauen. Er und sein Dramaturg Vasco Boenisch orten die Schlachtfelder nicht rund um Troja und nicht in der Antike. Das ist nur Folie. Zwei – und wirklich nur Penthesilea und Achilles – stehen da, schicksalhaft aufeinander bezogen, ganz nahe und doch immer auf Distanz. Um Liebende geht es, aber gar nicht sosehr um deren individuellen Befindlichkeiten und Psychogramme, sondern ums Grundsätzliche. Wie viel Selbstaufgabe ist Voraussetzung, und wie viel davon ist vertretbar, wenn zwei Menschen liebend aneinander geraten?

Penthesilea2 560 Monika Rittershaus uKüsse, Bisse und ein harter Blick darauf: Sandra Hüller und Jens Harzer in Johan Simons'
"Penthesilea" © Monika Rittershaus

Nach der ersten kriegerischen Hetzerei – im schwarzen Dunkel des Bühnenhintergrunds – stehen sie erst mal außer Atem da. Unmittelbar an der Rampe, hinter einem waagrechten Lichtbalken im Boden, der ein kaltes Licht ausschickt. Penthesilea und Achilles, das sind nicht die Figuren für ein Dinner bei Kerzenlicht. Solche Beleuchtung, auf der absolut leeren Bühne von Johannes Schütz, wählt man für einen Operationssaal oder andere Gelegenheiten, wo es ums strukturhafte Schauen geht. Um den ungeschönten, unverfälschten Blick. Da verblasst der Helmer&Fellner'sche Historismus-Rokoko im Salzburger Landestheater und die Konturen zweier Menschen treten umso schärfer hervor.

Lebensnähe jenseits von MeToo

Sandra Hüller ist Penthesilea. Kurzes blondes Haar, burschikos, ihrer Stärke gewiss. "Halb Furie, halb Grazie" wird Achilles später mit anerkennendem Unterton sagen. Vor allem aber ist sie eine wirklich Liebende, mit diesem einen, bestimmten Ziel vor Augen: "Ein Wunsch, der keine Flügel hat." Jens Harzer macht da erst mal große Augen. Der aufrichtig-ungläubige Blick des Achill wird über weite Strecken das meist von ihr angeführte diskursive Ereignis begleiten. Für sie ists ein liebesspielerisches Ausloten von Grenzen, das sie einmal gar mit einem saloppen Klaps auf sein Hinterteil quittiert. Für ihn, den am Schlachtfeld erprobten Haudegen, ist es erst einmal Kampf: "Oh Götter, haltet eure Erde fest!".

Erstaunlich, wie gut das Text-Einkochen, die Reduktion auf zwei Personen funktioniert. Erfreulich, wie viel Text (und nur Originaltext) stehen bleibt. Und geradezu verblüffend, wie differenziert und analytisch Kleists Blick auf dieses Paar ausfällt. In dem Stück in Vollform verstellt das viele Schlachtenbrimborium eben diese Lebensnähe.

Das ist eine Erkenntnis dieses Theaterabends, der nicht nur von den beiden Darstellern, sondern auch vom Publikum durchaus einen langen Atem erwartet und Konzentriertheit voraussetzt. Aufmerksamkeit und Aufnahmebereitschaft waren im Salzburger Premierenauditorium spürbar.

Wie man um Würde ringt

Die schauspielerischen Leistungen der beiden Protagonisten sind allemal geeignet, entsprechende Neugier wach zu halten. Ihr ist "nicht vergönnt die Gunst, die sanftere, der Frauen" und er ortet: "So viel regt sich in der Brust der Frau, das für den Tag nicht gemacht." Einsichtig, dass an Kleist und seine Zeit nicht die heutige Messlatte von Genderverständnis anzulegen ist. So viel Toleranz muss man schon mitbringen. Andrerseits: Auch bei Kleist ist sie die absolute Spielemacherin, auch wenn Achilles sich als rechter Playboy beschreibt und dem Amourösen mit fast kindischem Optimismus entgegen sieht: "Die Schäferstund' bleibt lang nicht aus."

Penthesilea 560 Monika Rittershaus uMöglicherweise die sympathischste Männerzerfleischerin der Aufführungsgeschichte. Und ein denkbar verständnisvoller Achilles © Monika Rittershaus

Hehrer Mythos wird quasi auf Praxisnähe heruntergebrochen. Die Vorstellung, dass die Amazonenkönigin den Mann besiegen muss, um ihn lieben zu können – da geht es genau um die Frage der Selbständigkeit, des Behaltens der Würde. Achilles' Winkelzüge, Penthesilea vorzugaukeln, sie habe gesiegt – das ist der Aspekt von Ehrlichkeit in einer Beziehung. Was Johan Simons, sein Dramaturg und die beiden famosen Schauspieler da also ausbreiten, ist ein klassisches Lehrstück. Es kommt aber nicht belehrend daher, sondern mit denkbar größter Empathie. Könnte leicht sein, dass Sandra Hüller die sympathischste Männerzerfleischerin in der gesamten Aufführungsgeschichte der Penthesilea ist. Und Jens Harzer der denkbar verständnisvollste Achilles. Der hat bekanntlich eine empfindliche Ferse. Er zieht einen Stiefel aus, sie betätschelt den heiklen Körperteil, und die beiden kudern drauf los. So einfach könnts mit der Liebe sein.

Penthesilea
von Heinrich von Kleist in einer Textfassung von Vasco Boenisch
Koproduktion mit dem Schauspielhaus Bochum
Regie: Johan Simons, Bühne: Johannes Schütz, Kostüme: Nina von Mechow, Dramaturgie: Vasco Boenisch.
Mit: Sandra Hüller, Jens Harzer.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.salzburgerfestspiele.at
www.schauspielhausbochum.de

 

Kritikenrundschau

"Wie zwei Sterne, die aufeinander schmettern", erscheinen die beiden Protagonist*innen Christoph Leibold in der Sendung "Fazit" vom Deutschlandfunk Kultur (29.7.2018). Sandra Hüller als Amazone Penthesilea und Jens Harzer als Achilles seien in ihrem Wahn dem Publikum voll ausgesetzt. Auf der Bühne gebe es nur einen schmalen Lichtspalt, mehr nicht. Durch das Verschieben von Deckenplatten sei dieser Lichtspalt langsam größer, der Raum also heller geworden. "Wenn sie aus dem Wahn herauskommen, dann ist es ganz hell." Fast hat dieser Kritiker so etwas wie eine Genderutopie in Kleists Stück entdeckt.

"Gibt die Amazonenkönigin sich burschikos, so eignet dem griechischen Heros in seinem langen Kittel etwas Königinnenhaftes," schreibt Margarethe Affenzeller in der Wiener Tageszeitung Der Standard (30.7.2018). Dieses Spiel einer Auflösung geschlechtlicher Zuordnungen – als Spiel wird es am Schluss kenntlich – performen Hüller und Harzer aus Sicht der Krtikerin "voller Spannung und Rätselhaftigkeit. Damit legen sie bei dieser ersten Schauspielpremiere der Salzburger Festspiele die Latte hoch."

"Achill und Penthesilea sprechen in Johan Simons zeit- und rahmenloser Inszenierung zwei unterschiedliche, nahezu gegensätzliche Sprachen," schreibt Simon Strauß in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (31. 7. 2018). "Der Graben, der sie trennt, ist vor allem auch ein phonetischer. Sie verstehen sich nicht und passen doch einzigartig gut zusammen." Für den Kritiker ist das die große Überraschung dieses Abends: "Dass hier zwei Schauspieler nicht nur neben-, sondern sogar gegeneinander spielen, jeder seine ganz eigene, eigentlich ausschließliche Art der Ausdrucksform hat und dass sich aus diesem Gegensatz doch eine gemeinsame Energie entwickelt. Kleists Leitmotiv der Zerrissenheit wird dadurch unaufhörlich in Szene gesetzt."

Hedwig Kainberger schreibt in den Salzburger Nachrichten (online 30.7.2018, 7:28 Uhr, Paywall):  Ohne die in der Fassung gestrichene "staatstragende Konsequenz dieser Liebe" verlören einige Szenen "an Dringlichkeit". Ohne die Nebenfiguren öffne Regisseur Simons ein anderes Feld: "die Zweisamkeit, wie sie nur zwei ineinander Verliebten zuteilwird". Der "tief im Dunkeln wurzelnde Raum der erotischen Zweisamkeit" weite sich mit "der Fantasie, mit der Sehnsucht und an diesem Abend auch noch mit der sprachlichen Grandezza Heinrich von Kleists und zwei großartigen Schauspielern". So werde "Penthesilea" ein "doppeltes Hochfest: für Kleists Poesie und die Schauspielkunst". Jens Harzer sei "grandios". Sandra Hüller spiele und spreche "mit ihrem Körper wie eine Virtuosin mit ihrem Instrument, dem sie ein immenses Repertoire an Bewegungen, Haltungen und Gesten entlockt".

In der Wiener Presse schreibt Barbara Petsch (online 30.7.2018, 11:05 Uhr):  In Simons Konzept zelebrierten Penthesilea und Achill ein "Ehedrama von heute". Kleists Text passe erstaunlicherweise "prächtig dazu". Beziehung, lehre Simons Inszenierung, sei "härteste Knochenarbeit und mancher geht drauf dabei". Sandra Hüller passe "nicht ins Bild der überhöhten Heldin aus einem Fantasyreich", zart und "durchtrainiert", manchmal zwitschere sie, aber in dieser Frau stecke die "eiserne Karrierelady von heute". Die zwei Schauspieler vollführten den Clash of Civilisations, den es ja auch in Beziehungen gebe. Hüller und Harzer seien "wunderbar".

In der Welt (30.7.2018) schreibt Manuel Brug am Rand einer opulenten Salome-Kritik: Das "Unerhörte" werde zu einer auf zwei Stunden Spieldauer verknappten, "fesselnd konzentrierten Unterhaltung zwischen Mann und Frau". Ein "existenzielles Ringen um Wort und Gefühl, Liebe, Hiebe, Küsse, Bisse", so "beiläufig wie spannend serviert" von Sandra Hüller und Jens Harzer. Das Ungeheuerliche werde hier "wie nebenbei Ereignis", aus "der Sprache geboren, aber nicht zelebriert". Ein Duo im "gänzlich heutigen Tonfall" höre man. So "schlicht wie grandios".

In der Süddeutschen Zeitung schreibt Egbert Tholl (31.7.2018): Nicht die "sehr eigenwilligen Darsteller" seien das "Ereignis", sondern der Text und Simons’ Umgang damit. Das Momentum des Spiels bleibe "subkutan die ganze Aufführung über erhalten", und Hüller und Harzer lebten es körperlich aus. Sie sei ein federleichtes Mädchen, er "mehr Grübler als Held". Beide machten sich Kleists Sprache mit Selbstverständlichkeit zu eigen. Bei Hüller wirkten die Worte "schwerelos", "glitzernd leuchtend fliegen ihr die Sätze davon". Simons sei "gleichermaßen ein Fan dieser beiden Darsteller", wie er auch aus den Angeboten Hüllers und Harzers eine "flirrende Komposition" zu schaffen wisse. Die "Grundidee" dabei sei "die Aufhebung der Geschlechterrollen". Im "spielerischen Sinn", im "Sinn der Zuschreibungen, der Konnotationen, der gesellschaftlichen Konventionen". "Hüller und Harzer agieren keineswegs geschlechtslos, aber nie prototypisch. Ja, sie könnte genauso Achill sein und er Penthesilea.

"Selten sah man diese Amazone und den Achill so zärtlich sich auslöschend, so ebenbürtig im Untergang," schreibt Bernd Noack in der Neuen Zürcher Zeitung (6.8.2018), wo er den Abend gemeinsam mit Castorfs Salzburger Hamsun-Inszenierung Hunger bespricht. "Sie erschöpfen sich im schwarzen Raum, den ein Lichtstreif vergeblich erhellen will, mit ihren Worten, winden sich aus den Umklammerungen der zerstörerischen Sätze, schmettern wie zwei Donnerkeile aufeinander und schänden sich gegenseitig noch, wenn sie sich wie verzahnt in den Armen liegen."

"Si­mons’ Fi­gu­ren sind kei­ne Mau­er­schau­er, son­dern Men­schen­mau­ern­durch­schau­er – sie klop­fen die Rüs­tung ab, die der je­weils an­de­re um sei­ne See­le ge­legt hat", so Chris­ti­ne Lem­ke-Mat­w­ey und Pe­ter Küm­mel in der Zeit (9.8.2018). "Bei Kleist zer­reißt Pen­thesi­lea den Achil­les in der Wut der Schlacht. Bei Jo­han Si­mons geht es zi­vi­ler zu: Hier ist je­der Biss Mit­tel der Er­kennt­nis- und Emp­fin­dungs­stei­ge­rung."

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