Erster Sex in der Natur

von Jan Fischer

Benneckenstein, 4. August 2018. Elend und Sorge sind nicht weit. Ein paar Kilometer nur liegen diese beiden Oberharzer Ortschaften von Benneckenstein entfernt, wo Catharina May im Rahmen des Festivals "Theaternatur" Frank Wedekinds Pubertäts-Tragödie "Frühlings Erwachen" inszeniert. Elend und Sorge herrschen auch auf der Freilichtbühne von Benneckenstein, wo das Festival nun schon im vierten Jahr stattfindet, nachdem die Waldbühne gute 20 Jahre nicht bespielt worden ist. Es sind die Sorge der Erwachsenen und das Elend der Pubertät, die auf der Bühne gezeigt werden. Denn es sind die Erwachsenen, die bei Wedekind ihre pubertierenden Kinder vor allem bewahren wollen – am meisten vor ihrer erwachenden Sexualität. Und zwar am besten so, dass die Kinder gar nichts erfahren.

Fruehlings1 560 Frank Drechsler uVerhängnisvolle Verführung © Frank Drechsler

Die Kinder bringt der Storch, und überhaupt: "Um ein Kind zu bekommen, musst du einen Mann lieben, wie du noch gar nicht lieben kannst", bekommt die 14jährige Wendla zur Antwort, als sie ihre Eltern fragt, wie das überhaupt geht mit den Kindern. Die Jungs derweil tauschen sich über die Details aus, Melchior weiß Bescheid und erklärt es seinem seinem Kumpel Moritz, und zwar ausführlich und in einem selbst geschriebenen und illustrierten Dokument. Moritz plagen daraufhin Schuldgefühle, weil er immer nur an das eine denkt – "Wenn ich ein schönes Mädchen sehe, sehe ich es ohne Kopf" – und erschießt sich schließlich aufgrund dieser Schuldgefühle und schulischen Drucks.

Melchior bekommt wegen seines Sexualerziehungsdokumentes die Schuld an Moritz’ Selbstmord zugeschoben – so etwas reiche schließlich, um einen jungen Geist zu verwirren – und muss in die "Korrektionsanstalt". Zuvor schwängert er versehentlich Wendla, die dann bei der Abtreibung umkommt, die ihre Mutter vornehmen lässt. Kurz gesagt: In "Frühlings Erwachen" findet kaum einer der Pubertierenden das Glück, weder in der Liebe noch in der Sexualität.

Ein verstaubter Stoff

Wedekinds Stücktext von 1891 krisitiert die von sexuellen Tabus geprägte Erziehungsmethoden seiner Zeit. Darin, und in seiner sperrigen Sprache, wirkt der Text durchaus veraltet – man mag sich heutzutage streiten, wann und wie genau Schulkinder etwas über nicht heteronormative Sexualitäten und Beziehungsmodelle lernen sollen. Es mag auch sein, dass auch heutzutage die Sexualerziehung das ein oder andere Defizit aufweist oder von dem ein oder anderen Tabu geprägt ist. Dass Kinder, gerade auch Pubertierende, nicht ausreichend aufgeklärt würden, darüber dürfte in Zeiten frei verfügbarer Informationen im Netz und Sexualkundeunterricht in der Grundschule wohl kaum mehr zu reden sein.

Fruehlings2 560 Frank Drechsler uThe parents aren't alright © Frank Drechsler

Catharina Mays Inszenierung von "Frühlings Erwachen" versucht dem leicht angegrauten Stück ein wenig Zeitgenossenschaft zu verleihen. Die Bühne: Minimalistisch und schwarz glänzend, im Hintergrund ein Paravent aus LED-Bildschirmen, über die impressionistisch anmutende Bilder flackern. Hin und wieder rupfen dazu elektronische Beats und Harmonien die Sprache auseinander. Die Eltern werden als gesichtslosen Wesen dargestellt, die im Chor sprechen und sich immer wiederholende Choreographien von Alltagsverrichtungen wie Nähen oder Tee kochen abarbeiten während sie ihre Kinder vor den Kopf stoßen. Die Gruppe aus Pubertierenden wiederum irrt auf sich allein gestellt durch den katastropischen Horror der erwachenden Sexualität.

Landflucht und Fehlkommunikation

Damit nähert sich der Stücktext thematisch an das Motto des diesjährigen "Theaternatur"-Festivals "Fremde neue Welt" an. Schwerpunktmäßig soll es da auch um die Landflucht der Jungen und damit eingehende Überalterung der Region gehen, die sich gerade in den ländlichen Gegenden des Harzes zu einem Problem entwickelt hat. In der Eröffnungsinszenierung des Festivals, Shakespeares "Sturm", deutet der künstlerische Leiter Janek Liebetruth – der in Benneckenstein aufgewachsen ist – Prosperos Exil als Vereinsamung im Alter. Mit "Frühlings Erwachen" liefert Catharina May das Gegenstück dazu: Es sind die Jungen, die einsam sind und von den Alten nicht verstanden werden. Im Kern geht es in Mays Inszenierung weniger um Sexualerziehung und Aufklärung als vielmehr um einen Generationenkonflikt, in dem Fehlkommunikation zwischen der Elterngeneration und ihren Kindern herrscht. Und Elend und Sorge folgen.

Die Inszenierung umschifft so angestaubten Text, indem sie ihn als beispielhaft für diese Fehlkommunikation behauptet. Das Ensemble wiederum gibt die Figuren mit Spaß am Überdrehten gar nicht so sehr als Individuen, sondern als schemenhafte Schablonen Pubertierender mit all ihrem Triebdruck und dem hormongespeisten Hang zu Dramatik. So entsteht auf der Bühne im Kiefernwald tatsächlich ein Abend, der aus Wedekinds Vorlage einen beispielhaften Konflikt hervorkitzeln kann. Nämlich den zwischen Eltern, die in starren, selbstähnlichen gesellschaftlichen Systemen gefangen sind und nichts anderes mehr verstehen und Jugendlichen, die mit diesen Systemen nichts anfangen können, sie noch nicht einmal nachvollziehen, und ihr Heil in der Flucht suchen. Koste es, was es wolle.

 

Frühlings Erwachen
von Frank Wedekind
Regie: Catharina May
Dramaturgie: Sarah Thielen, Bühne: Daniel Unger, Kostüme: Leah Lichtwitz, Komposition und Livemusik: Matthias Grote, Regieassistenz: Juliane Nägele, Bühnenbildassistenz: Miranda Kahlert, Kostümassistenz Jenny Dechêne.
Mit: Andreas Heßling, Valerie Körfer, Christoph Schulenberger, Curdin Caveziel, Tobias Greiner-Lar, Stefanie Feldmann, Helena Sigal.
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

theaternatur.de

 

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