Zwischen Bach und Helden

von Andreas Herrmann

Dresden, 4. Juli 2008. Der Ort: das Deutsche Musikarchiv als Hort aller Noten und Rechte. Hart, aber korrekt wird es vom blinden Professor Quentmeier dirigiert, der seinen hörigen Dr. Bürge – zuständig für die klassische Bespielung des Aktensaales und bei Misstönen auf harte Schläge erpicht – mit der Partitur prügelt und seine willfährige Beamtenbrigade nach Takt stempeln, aber auch mal einen Aktenreigen mit Polkaeinschlag tanzen lässt. Das ist die Szenerie für zweieinhalb Führungkräfte und fünfeinhalb furztrockene Archivhüter, wobei Chefassistent Strutzer als biederster die Hierarchie anführt.

 

 

Und wenn der gestrenge Herr Professor blindenstockschwingend und Schubert trällernd den Raum verlässt, um mit dem Fahrstuhl in der Unterbühne zu verschwinden, schlägt der Ordnungs- hier natürlich in musikalischen Partywahnsinn um. Das ist der Erzählrahmen für Erik Gedeons knapp zweistündige, wilde Rezitierrevue durch die deutsche Musikgeschichte, von Bach bis Wir sind Helden, ergänzt um diverse Perlen der internationalen Rockgeschichte

Erdbeerfelder in der Betonwüste
Dabei sind Erik Gedeon und Dresden ein Kapitel für sich: Während sein "Hartz IV-Musical" wegen eines juristischen Streits um die Aufführungsrechte einiger Titel schnell das Zeitliche segnete, wurde seine lustig-prämortale Altersheimskizze "Ewig jung", die genau vor einem Jahr mit etwas Lokalkolorit am Schauspielhaus Premiere feierte, zum Kultstück mit über zehntausendfacher Publikumresonanz.

Dieser Erfolg machte dem Staatsschauspiel Appetit auf mehr: En bloc sollen jetzt die letzten zweieinhalb Wochen der vorletzten Spielzeit in der Intendantenära Holk Freytags als Sommerentree und Saisonausklang dienen. Und damit die "Erdbeerfelder für immer" erblühen, wurde die neue Betonwüste vorm Haus extra mit zweimal hundert Quadratmetern der entsprechenden Pflanze bestückt – werbeträchtig, aber beutelos.

Der neuerliche Export des Schweizer Komponisten und Regisseurs – diesmal ganz ohne Anpassung an die sächsische Provenienz, sondern als Adaption seiner Kölner Uraufführung von 2004 – litt aber in der Vorbereitung unter dem Ausfall von Ahmad Mesgarha, dem gesangsbegnadeten Publikumsliebling.

Vom Büroochsen zum Hippihengst
Die Rettung um den Preis einer verlängerten Sommerpause im großen Haus, die nun schon eine Woche eher begingen muss, heißt Andreas Grötzinger – in Köln als ebenjener Strutzer erfahren und daher mit der kompletten Charakterwende vom Büroochsen zum Hippiehengst (hier unterlegt mit Mike Jaggers "Sympathy for the Devil") bestens vertraut, aber auch mit reichlich Stimm- und Bewegungstalent gesegnet.

Begehrt wird er von Frau Hagisch, die in Form Nicola Rufs das zweitwirksamste Coming out vom Büromäuschen zur Souldiva feiert. Auch die Gesangsqualitäten von Evamaria Salcher (Frau Bemmstein) sind seit ihrem Auftritt als Blauer Engel in "Professor Unrat" kein Geheimnis, neu hingegen die von Franziska Beyer (Frau Bresch) und Martin Reik (Herr Potzek) – weil beide ganz frisch am Haus, aber treffend gecastet sind. Und dass Hans-Christian Seeger (Herr Prof. Dr. Quentmeier) immer einen veritabel-vitalen Greis hergibt und bei Philipp Lux (Herr Löhmann) dessen komödiantisches das gesangliche Talent überstrahlt, weiß Gedeon aus der Arbeit hier im vergangenen Jahr.

Es brennen die Noten
Und er weiß auch, dass all dies nicht ohne einen brillanten Mann am Flügel als Einmannorchester im Dauereinsatz funktionieren würde: Hausmusiker Thomas Mahn als Dr. Bürge. Er bürgt für das Wohl und Wehe des Abends, denn Gedeon verzichtet – anders noch als bei "Ewig jung" – weitestgehend auf den Halt durch eine Story. Richtig sprechen darf sowieso nur der Professor, der Rest ist eine titelhetzende Klischeeparodie, deren Sinnseichte und wüsten Ausgang mitsamt Notenverbrennung und kannibalischer Meuchelei man nicht gutheißen muss.

Auch Erbrechen, Kopulieren und Onanieren verschrecken ob ihrer Unnötigkeit, so dass bereits nach zwanzig Minuten die ersten Premierenabonnenten flüchten und damit zwei wirklich große Musiknummern verpassen: Eurythmics "Sweet Dreams", im Koksrausch eskalierend, und "All you need is Love", hervorgezaubert aus den ersten Takten von Haydns "Deutschlandlied", das danach zu einem 14-titeligen Beatles-Medley mutiert.

Und damit ist auch verraten, warum die "Songdrama" genannte Revue über Bach, Beethoven und Brahms sowie Nicole, Nina und Nena – alle als große Büsten oberhalb der Archivregale im fulminanten Bühnenbild Ulrich Frommholds vorhanden – dann doch funktioniert: Gedeon arbeitet akribisch an Details, sowohl denen seiner Arrangements als auch mit dem eigens auserwählten Ensemble. Jedes Stück gerät ihm arteigen edel, ohne (ungewollt) das Original zu beschädigen, oft im Kanon und in (eher theateruntypisch) sauberem Satzgesang. Somit ist das Feld bestellt – musikalisch und mimisch gar besser als im Vorjahr.

 

Erdbeerfelder für immer
von Erik Gedeon
Regie und musikalische Leitung: Erik Gedeon, Bühne & Kostüme: Ulrich Frommhold, Musikalische Abendspielleitung: Thomas Mahn. Mit: Franziska Beyer, Nicola Ruf, Evamaria Salcher, Andreas Grötzinger, Phillip Lux, Martin Reik und Hans-Christian Seeger.

www.staatsschauspiel-dresden.de

 

Kritikenrundschau

Hat zwar alles nicht viel mit Handlung zu tun, was da in Erik Gedeons "Deutschem Musikarchiv" geschieht, ist aber fetzig. Ein Teil der Zuschauer, schreibt Katja Solbrig in der Sächsischen Zeitung (7.7.), verlässt, weil das Erbe der Sex Pistols, der Rolling Stones und von Nirvana ordentlich laut zum Besten gegeben wird, den Saal vorzeitig, die anderen, also fast alle, wollen vor lauter Toben und Applaudieren über die so gut spielenden wie singenden Dresdner Schauspieler gar nicht mehr nach Hause gehen. Frau Solbrig bedauert, dass Gedeon weitgehend handlungsfrei agieren lässt, prognostiziert aber nach Gedeons "Ewig jung" den zweiten Kassenschlager für das Haus an der Ostra-Allee.

Ein "wunderbarer, musikalischer Abend hervorragend begleitet und zusammengehalten von nur einem Mann am Flügel", schreibt Caren Pfeil in den Dresdner Neuesten Nachrichten (7.7.). "Heftig, schräg und bisweilen sehr seltsam" ginge es zu. Ein "Archiv zum Verwalten von Musik als Spielort zu wählen ist die kongeniale Idee zur erklärten Absicht des Erfinders und Regisseurs dieses Abends, Erik Gedeon, 'Musik zu verwursten und zu recyceln', was auch bedeutet, sie am Leben zu erhalten." Auch Frau Pfeil weist darauf hin, dass diese Produktion schon ein paar Jahre alt ist, zuerst lief sie in Köln 2004, glücklicherweise, denn so kann einer der Kölner Akteure für einen erkrankten Dresdner einspringen. "Einige der wunderbarsten Songs der Rockgeschichte in ebenso respektlosen wie überraschenden Arrangements wiederbelebt": "Hingehen und genießen … nicht zuviel darüber nachdenken".

 

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