Immer lebe die Gaudi

von Ralph Gambihler

Halle, 4. Juli 2008. Das Spiel mit kollektiven Erinnerungen ist eine thematische Konstante im spielvergnügten Halle, wo das Festival Theater der Welt seinem Finale zustrebt. Auf verschiedenste Weisen wurden gesellschaftliche Erinnerungsräume betreten: in Excelsior zum Beispiel, einem historisch gewordenen Streifzug durch die Technikgeschichte der Moderne, gezeigt von der Mailänder Puppenspielerfamilie Colla, in Massimo Furlans Fußball-Performance 22. Juni 1974, 21 Uhr 03 über das legendäre Sparwasser-Tor von 1974 oder in den "Stadt(ver)führungen", die den Kuriosa der Halleschen Lokalhistorie nachspüren.

In diese Reihe gehört auch Art & Shock, eine Off-Gruppe aus dem postsowjetischen Osten, die offenbar nur aus Frauen besteht und den Nimbus der ersten freien Theatergruppe Kasachstans für sich beanspruchen kann. Ihre Gründerin heißt Galina Pyanova und ist die Regisseurin der eingeladenen Produktion. Im Programm wird über die "Helden Erewans" geraunt. Art & Shock war, so ist zu lesen, die Sensation bei einem Theaterfestival in Armenien.

Rückblende in den Spätkommunismus 

Mit "Back in the USSR" blendet die Gruppe zurück in die Jahrzehnte der stagnierenden Weltrevolution. Es geht um die Mühen des Großwerdens unter spätkommunistischen Umständen, um Kindheit und Jugend in der UdSSR der 70er und 80er Jahre, bis hin zum abschließenden "Let’s go!", das in seiner lapidaren Desillusioniertheit mehr an das Ende einer Party in der "Sonnenallee" erinnert als an den Untergang des kommunistischen Welt.

Aufgezogen wird das Ganze als komische Revue in russischer, englischer und deutscher Sprache, angereichert mit global verständlichem Kreischen und dem pantomimenhaften Spiel der Körper. Die Bühne zeigt Insignien der Lenin-Verehrung, verteilt in der Nüchternheit einer Turnhalle. Drei Mädchen durchleben und durchleiden hier die Rituale der kommunistischen Pädagogik – mit schwankender Begeisterung, wie man sich denken kann.

Irgendwo zwischen kollektivem Töpfchensitzen, Pionierwerdung und einem ersten Kuss sollen sie würdige Mitglieder der Arbeiterklasse werden. Absehbar, dass derlei ins Unwürdige verrutscht. Das Töpfchensitzen entgleist in einen geräuschvollen Wettbewerb mit verzerrten Minen. Der Treueschwur der werdenden Pionierin wird vor lauter Aufregung zur Schmiere. Den ersten Kuss bekommt die Lenin-Büste mit der Folge, dass sie zu Boden fällt und in tausend Scherben zerspringt. Und als der erste BH seine Trägerin schmückt, ist sowieso Schluss mit Partei und Pietät.

Anders gesagt: Die Inszenierung streift anderthalb Stunden durch eine Vergangenheit, um deren Pathos und Phrasen zu parodieren. Wenn etwa die Hymne aus den Lautsprechern schmettert und das Vaterland seine Helden begräbt, hat das Trio der Sowjetkinder eisern stillzustehen. Da kann die Blase noch so drücken.

Herzig harmloser Klamauk 

Im Saal amüsiert man sich wie Bolle, als dergleichen in die Hose geht. In solchen Szenen ächzt diese Hammer-und-Sichel-Gaudi vor Schlichtheit. Zumal der Geist der Demontage, auf den sie gründet, ohnehin einer demontierten Ideologie gilt. Der Klamauk kann unter diesen Umständen nur herzig und harmlos wirken. Es sind theatrale Kräuselungen, die ein PDS-Ideologe genauso beschmunzeln kann wie der Ortsgruppenvorsitzende der Altöttinger CSU.

Neben Yelena Navokova, Yelena Taimatova und Veronika Nassalskaya steht mit Patricia Hermes eine deutschsprachige Darstellerin auf der Bühne. Letztere ist die Protagonistin einer eingeflochtenen Gegenwartsebene. Als Journalistin mit DDR-Vergangenheit wühlt Patricia Hermes in einem sowjetischen TV-Archiv und bekommt dabei ständig die Krise. Den Alltag der drei Sowjetgören, der mit diesem Kunstgriff in das Reich der medialen Erinnerung gerückt wird, findet sie alles andere als brauchbar. Was die Bilder erzählen, wecken das Missbehagen der Journalistin, paradoxerweise, weil ihr manches viel zu bekannt vorkommt. Die Figur hätte den Abend womöglich retten können, scheitert aber schon daran, dass Patricia Hermes die herbe Betriebsnudel markiert und nicht spielt.

Die Beatles haben 1968 mit ihrem Song "Back in the USSR" eine Antwort auf den Kalten Krieg gegeben. Den Gästen aus Kasachstan dient der Titel als Lizenz für ein musikalisches Potpourri, mit dem sie ihr Stück auf Trab halten. Man summt Chopins Trauermarsch, singt das Pionierlied "Immer lebe die Sonne", lässt es mit Abba krachen oder mit Ottowan, dem östlichen Pendant von Abba, das in sowjetischen Schuldiscos sehr populär war. Im nostalgischen Ausschreiten der Klangräume scheint mehr Wahrheit zu liegen als in der szenischen Verjuxung.

Man bekommt nicht wenig Lust, daheim die alten Platten auszupacken und reinzuhören in diese vergangene Zeit.

 

Back in the USSR
Art & Shock Theater, Kasachstan
Regie: Galina Pyanova, Bühne: Yelena und Viktor Vorobyov, Kostüme: Yelena Shalnih.
Mit: Veronika Nassalskaya, Yelena Navokova, Yelena Taimatova, Patricia Hermes.

www.theaterderwelt.de/2008

Mehr über Theater der Welt in Halle lesen Sie hier.

 

Kritikenrundschau

Für Andreas Montag von der Mitteldeutschen Zeitung (online: 6.7., 17:57h) ist "Back in the USSR" der kasachischen Gruppe Art & Shock "Revue", "furioses Spektakel" und gleichzeitig "sarkastischer Abgesang auf das zerfallene Riesenreich". Die Jahrzehnte seit der Oktoberrevolution überbrückten die Protagonistinnen "in ihrer lockeren Szenenfolge mühelos". Dabei werde "alles, was den realen Sozialismus zusammenhielt und oftmals wie Realsatire aussehen ließ" – "strammer Gehorsam bei Fahnenappellen, verordnete Heimatliebe, Leninkult" – "durch den Kakao gezogen", auch die "klammheimliche Sehnsucht nach der 'guten alten Zeit' ". Dies ist für Montag, der lediglich die Figur der deutschen Journalistin "aufgesetzt" findet, "rührend und komisch" anzusehen – insgesamt "eine wunderbare Begegnung".  

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