Das fiese Heinzelmännchen

von Falk Schreiber

Hamburg, 23. August 2018. Sweet Dreams are made of this: Christian Bakalov steht auf einer mit Plüschtieren und Tischtennisbällen übersäten Bühne, ein Windstoß zerzaust ihm das Haar, eine milchige Flüssigkeit ergießt sich über den Performer. Und dann zieht er zwei Pistolen. So werden süße Alpträume gemacht, Alpträume, bei denen selbst große Bären weinen.

Als die Belgierin Miet Warlop vor fünf Jahren zum ersten Mal beim Internationalen Sommerfestival Hamburg auf Kampnagel eingeladen war, wurde ihr Stück "Mystery Magnet" als "Disneyland auf Acid, Kindertheater ab 18" angekündigt. Entsprechend ist es nur konsequent, dass "Big Bears Cry Too" dieses Jahr echtes Kindertheater sein soll – "ab 6 Jahren" empfiehlt das Festivalprogramm. Nun ist der Kritiker ganz sicher kein ausgewiesener Spezialist für Kinder, aber wenn er sich an die eigene Kindheit erinnert, dann geht er davon aus, dass er sich als Sechsjähriger bei der Produktion heillos gefürchtet hätte.

Vor der hier gezeigten Dekonstruktion der Körper. Vor den Flüssigkeiten, die langsam und drohend aus den Leibern suppen. Vor dem grotesk niedlichen Stoffhasen, der hydraulisch aufgepumpt wird, um schließlich erschreckend unspektakulär zu platzen, was von Bakalov mit keckerndem, elektronisch verfremdeten Lachen quittiert wird. Vor den Glubschaugen, die von der Windmaschine über die Bühne gefegt werden. Überhaupt, vor dieser technisch ausgefeilten Bühne, deren genaue Funktionsweise man bis zum Ende des 45 Minuten langen Abends nicht verstanden hat. (Aber andererseits verstehen Kinder ohnehin vieles nicht, vielleicht sind sie das ja gewohnt?)

BigBears2 560 Reinout Hiel u In der Geisterbahn © Reinout Hiel

Bakalov, der häufig in Warlops mehr Installationen als echten Theaterabenden ähnelnden Stücken agiert, ist eigentlich kein angsteinflößender Darsteller, sondern eher der Typ "bisschen anarchischer Zivildienstleistender" – groß, maskulin, lange Locken, verschmitztes Grinsen. Hier aber ist seine Person nicht fassbar, seine Stimme krächzt durch den Sampler, er lacht trotz der Torturen, denen er ausgesetzt ist. Außerdem verkleidet er sich, bis er irgendwann, mit Hoodie und Maske, zu einer Mischung aus fiesem Heinzelmännchen und schwarzem Block geworden ist. Und dieses Heinzelmännchen nähert sich zögernd und unheimlich der ersten Reihe, der Sound wummert, die Windmaschine weht: "Buh!" Spitz schreien auch die abgebrühten Kinder. Tatsächlich aber nehmen sie das Geschehen überraschend bereitwillig hin.

Radikal und klug

Irgendwann liegt, wie gesagt, alles voller Tischtennisbälle, da haben die Kleineren dann etwas zum Spielen und sind fortan selig. Und die Größeren zeigen tatsächlich kaum Angst, die freuen sich eher an der hochkreativen Zerstörungslust des Abends. Die freuen sich darüber, dass die Stofftierchen auf der Bühne zerfetzt und ins Publikum geschmissen werden, hier ein Fetzen Fell, dort ein Schenkel, da ein Phallus. Dass der böse am Bühnenrand vor sich hinklappernden Zahnprothese ein Gipszahn ausgeschossen wird. Dass dem Performer übel mitgespielt wird, und dass er am Ende trotzdem lacht.

Tatsächlich ist "Big Bears Cry Too" trotz der verwirrenden Ankündigung kein Kinderstück, so wie Warlops Arbeiten eigentlich nie Kinderstücke sind, sondern kluges, radikales, verstörendes Objekttheater. Ein Abend wie dieser allerdings führt die Unterscheidung zwischen Kinder- und Erwachsenentheater fröhlich ad absurdum – weil nämlich Kinder den destruktiven Charakter solch eines Theaters sehr wohl genießen können. Die blicken auf das angerichtete Bühnenchaos und sind nicht verstört, sondern freuen sich. Freude am Rumsauen, nannte man das, damals, als der Kritiker noch Kind war.

Big Bears Cry Too
von Miet Warlop / Hetpaleis
Konzept, Regie: Miet Warlop, Musik, Text: Pieter De Meester, Joppe Tanghe, Wietse Tanghe, Miet Warlop, Technische Leitung: Hugh Roche Kelly, Frouke Van Gheluwe, Assistenz: Barbara Vackier, Ian Gyselinck, Lila John, Geert Viaene (Amotec), Karolien Nuyttens, Mathias Huybrighs, Outside Exe: Danai Anesiadou, Lichtdesign: Henri Emmanuel Doublier, Produktionsleitung: Seppe Cosyns, Produktionsassistenz: Tanja Vrancken, Produktion / Technische Umsetzung: Miet Warlop / Irene Wool vzw (Gent) und hetpaleis (Antwerpen), Produktion / Koordination: Wim Viaene, Elke Vanlerberghe
Mit: Wietse Tanghe, Christian Bakalov.
Dauer: 45 Minuten, keine Pause

www.kampnagel.de
www.hetpaleis.net

 

Kritikenrundschau

"Gelungen, wenn auch sehr speziell" fanden es Stefan Krulle und Stefan Grund und schreiben in der Welt (25.8.2018) im Rahmen eines Sommerfestival-Sammelberichts: "Thema des Stückes könnte die Angst vor dem Zahnarzt oder die Angst des Zahnarztes vor der eigenen Tätigkeit gewesen sein – vieles blieb freien Assoziationen überlassen."

"Miet Warlop huldigt einer spielerischen, kreativen Zerstörungslust. Starke, immer wieder überraschende Bilder lösen einander ab", schreibt Annette Stiekele im Hamburger Abendblatt (25.8.2018). "Big Bears Cry Too" verlange von Sechsjährigen "durchaus einiges Abstraktionsvermögen, damit der häufig maskierte, wissend grinsende Performer sie nicht das Fürchten lehrt. Die jungen Premierenbesucher aber (und ihre Begleiter ebenfalls) haben an der verrückten Bilderflut eindeutig ihren Spaß, selig baden sie in dem See aus Tischtennisbällen."

 

Kommentare  
Big Bears Cry Too, Hamburg: der Kritiker als Kind
Innerhalb von kurzer Zeit habe ich von Falk Schreiber zwei Artikel über das Kindertheater gelesen. Einerseits ist es natürlich toll, dass in Theater heute und Nachtkritik darüber berichtet wird, andererseits bin ich mehrfach irritiert. In beiden Artikeln liegt ein großes Missverständnis vor, der Kritiker muss kein Experte für Kinder sein um Kindertheater beschreiben zu können, sondern muss Experte für Theater sein. Darum sollte es immer gehen. Mit diesem Einschub der fehlenden Expertise geht in beiden Artikeln einher, dass Kinder scheinbar imperfekte Wesen sein und eben Spaß am "rumsauen" haben oder eben nicht alles verstehen können bzw. wollen. Kinder- und Jugendtheater ist Theater, nichts anderes.
Big Bears Cry Too, Hamburg: Zustimmung
Lieber Christoph Macha, bezüglich des Punktes "Kinder- und Jugendtheater ist Theater, nichts anderes" stimme ich Ihnen zu, mein Argument "Ein Abend wie dieser allerdings führt die Unterscheidung zwischen Kinder- und Erwachsenentheater fröhlich ad absurdum" sagt mehr oder weniger dasselbe. Tatsächlich gehe ich davon aus, dass Kinder imperfekte Wesen sind, die nicht alles verstehen - imperfekt bin ich auch, und auch ich verstehe nicht alles. Als Zugang zum Theater finde ich das Eingeständnis dieses Nichtverstehens allerdings gar nicht uninteressant.
Kommentar schreiben