Im Konfliktbeschleuniger

von Michael Laages

Kassel, 30. August 2018. So viel Dummheit tut weh. Sie ist aber auch (für halbwegs Kluge) irrsinnig komisch – und darum hat Jenny natürlich die besseren Karten im Geschwister-Zwist im Stück von Lucy Kirkwood. Jenny weiß nicht viel und lernt noch weniger. Sie hat eine Tochter im sehr frühkindlichen Alter verloren, weil sie eine zwingend nötige Impfung für gefährlich hielt. Schon als das Kind starb, war Jenny wieder schwanger, immerhin geht sie jetzt zur Ultraschall-Untersuchung. Jennys Schwester Alice hingegen betreibt High-Tech-Physik am CERN. Als dort das für schlichtere Geister wie Jenny unvorstellbare "Higgs-Boson" experimentell verifiziert wird, ist Jenny gerade bei Alice zu Gast; mit Karen, Mutter dieser extrem ungleichen Schwestern. Jennys Tochter ist noch nicht lange tot, Jenny gilt als suizidgefährdet – und leitet eine Art familiärer Kernschmelze ein.

Theater, wie Lucy Kirkwood es schreibt, ist hierzulande wenig vertraut; am Rande vom Festival in Edinburgh (wo Kirkwood studiert hat) versammelt das örtliche Traverse Theatre regelmäßig Stücke wie dieses: "well made" zum einen in der Dramaturgie, ambitioniert derweil mit Blick auf den thematischen Horizont. Kirkwood lässt die völlig inkompatiblen Persönlichkeiten und Denkweisen von Menschen aufeinander krachen wie das auch die Teilchen tun auf der unterirdischen CERN-Rennbahn.

Eine Familie, so missraten wie die ganze Welt

Die Schlacht tobt über mehrere Generationen. Nicht nur Jenny und Alice zerlegen eine das Leben der anderen, auch Alices Sohn Luke ist eine sehr grenzwertige Figur: Zu menschlicher Kommunikation kaum mehr fähig, hockt er nur mit Kopfhörern vor dem Computer-Bildschirm, kommuniziert und flirtet mit Natalie und hasst alles, was dümmer ist als er: Tante Jenny vor allem, aber auch die Mitschüler, die er am liebsten alle an die Wand stellen würde. Nur eben Natalie nicht – zu der er aber auch nur per Handy-Kamera (sexuellen) Kontakt hat. Und prompt stellt sie das Bild vom Penis des Jungen ins Netz – aus Rache nach einer blutigen Prügelei.

Moskitos 2 560 n.klinger uChristina Weiser (Alice), Karin Nennemann (Karen), Rahel Weiss (Jenny) © N. Klinger

Auch (Groß-)Mutter Karen schlingert am Rand: Gelegentlich schon inkontinent, sieht sie sich auf dem Weg in die Demenz. Als Top-Wissenschaftlerin hätte sie vor 50 Jahren fast mal den Nobelpreis erhalten – aber der Gemahl sackte den Ruhm ein. Auch ein feministisches Spuren-Element hat Kirkwood also eingebaut – es markiert das zentrale Problem des Stücks fürs Theater: dass es im Grunde viel zu viel erzählen will. Gegen Ende (Luke ist zurückgekehrt in den Schoß der Familie nach der Flucht vor der Penis-Attacke im Netz) lässt Kirkwood ein leibhaftiges Higgs-Boson (in Gestalt von Lukes fernem Papa) eine Vision aufblättern von der Erfindung einer neuen, von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern kreierten und darum besseren Welt, nachdem diese hier so fürchterlich missraten ist; das Konzept basiert auf Theorien des klugen Luke …

Verborgener Wahnsinn

Was für ein Monstrum von Stück – dabei besteht es vor allem aus weithin scharf geschliffenen Dialogen für die Zimmerschlacht unter engsten Verwandten. Diese Fallhöhe, zwischen Kleinfamilie und Groß-Physik, will inszeniert sein – doch mit der Regie-Routine des Kasseler Intendanten Thomas Bockelmann ist "Moskitos" nicht beizukommen. Im ärgsten Falle geht's extrem stadttheaterhaft zu: ein Kinderchor im Wissenschaftler-Weiß der Labore, alle auch mit Harry-Potter-Brillen auf den kleinen Nasen, singt "Somewhere over the rainbow" – Beifall garantiert. Zum Schluss darf Gott-Göttin Shiva symbolisch tanzen. Mayke Heggers Bühne ist ein CERN-Kreis vor sich öffnenden Wandtüren … all das funktioniert ordentlich.

Moskitos 4 560 n.klinger uBernd Hölscher (The Boson) und Kinder des CANTAMUS-Chores © N. Klinger

Aber dem Wahnsinn, der hier allerorten herrscht – in der Selbstgewissheit wissenschaftlicher Wahrheit wie in deren vollkommener Ablehnung durch die brummende Dummheit an sich – kommt der Abend in Kassel nicht auf die Spur. Hier bleibt's vor allem beim großen Vergnügen an Rahel Weiss in der mörderischen, gruseldummen Herzensgüte der hilf- und hoffnungslosen Jenny; neben Christina Weiser und Karin Nennemann, Bernd Hölscher und Stephan Schäfer hält nur Tim Czerwonatis mit: als abdriftend-verletzlicher Denk-Fundamentalist Luke. Ein Schauspielerinnen- und Schauspieler-Abend also … wie hierzulande oft, wenn solche Stücke ins Visier geraten. Mehr wäre möglich.

Moskitos
von Lucy Kirkwood
Deutsch von Corinna Brocher
Regie: Thomas Bockelmann, Bühne: Mayke Hegger, Kostüme: Claudia González Espindola, Video: Jan Peters, Sound: Heiko Schnurpel, Licht: Brigitta Hüttmann, Dramaturgie: Thomaspeter Goergen, Choreographie: Lauren Rae Mace.
Mit: Tim Czerwonatis, Bernd Hölscher, Alexandra Lukas, Lauren Rae Mace, Karin Nennemann, Stephan Schaefer, Christina Weiser, Rahel Weiss und Mitgliedern des Cantamus Chores.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.staatstheater-kassel.de

 

Kritikenrundschau

Es sei herrlich zu sehen, wie Thomas Bockelmann sich "mit der seriösen Experimentierfreudigkeit des Erstaufführers" auf Lucy Kirkwoods schräge Einfälle einlasse, so Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (1.9.2018). "'Moskitos' macht neugierig, in Kassel bekommt man die aufmerksam vorbereiteten Schauwerte dazu, und erst gegen Ende spürt man vielleicht, dass es im Stück selbst bei Versatzstücken bleibt." Der Kampf von Wissenschaft gegen die Ignoranz werde nur lose verknüpft mit der gegen Ende ins Soaphafte abrutschenden Familiengeschichte. "Überhaupt gibt es ein irritierend sentimentales Moment."

Präzis gestaltete Beziehungskonstellationen und nuancenreiche und witzige Dialogen lobt Bettina Fraschke von der Hessischen Niedersächsischen Allgemeinen (1.9.2018). Rahel Weiss gelinge ein tief berührendes Rollenporträt: "saukomisch, tapsig, trotzig, warmherzig".

 

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