Navigatoren der Zeit

von Elena Philipp

Berlin, 31. August 2018. Souverän über die Zeit verfügen diese jungen Performer*innen. Reisen mal eben fünfzig Jahre in die Vergangenheit und spulen dann in rasendem Tempo wieder vor bis heute. Zappen durch die Geschichte, von einer ikonischen Fotoaufnahme zur nächsten, die sie nachstellen in präzise einstudierten Tableaux vivants. Und stürzen sich wagemutig ins ganzkörperliche Reenactment – in ekstatisches Bodenrollen, satanisches Zungeblecken und schweißnasse Gruppenfummeleien –, wenn sie auf dem Grund ihres Zeitstrudels einer prägenden Theaterarbeit aus den 60ern begegnen: "Paradise Now" des Living Theatre. Eine Schar halbnackter Hippies artikulierte 1968 mit anarcho-spiritueller Emphase einen bebenden Befreiungswunsch und versuchte ihre Zuschauer*innen zur Revolution anzuregen. Was hat diese performative Séance von damals mit dem Dutzend junger Menschen auf der Bühne der Berliner Sophiensaele zu tun? Oder aber: Was ist geblieben von den Anliegen, dem Begehren und den Werten der 68er?

Historisch-zeitkritische Fragen von beträchtlichem Umfang und Gewicht stellen der belgische Choreograph Michiel Vandevelde und der Dramaturg Kristof van Baarle in "Paradise Now (1968-2018)". Zur thematischen Erkundung haben sie am Leuvener Produktionshaus fABULEUS dreizehn Jugendliche und junge Erwachsene im Alter von 14 bis 23 Jahren angeregt. Uraufgeführt im Mai am Brüsseler Kaaitheater, fand die deutsche Erstaufführung jetzt beim Berliner Festival Tanz im August statt.

50 Jahre, 50 Bilder, 50 Posen

Was ist zu tun in "troubling and turbid times", in beunruhigenden und unklaren Zeiten?, fragt der Audio-Prolog zu Beginn ins Dunkel des Theaters. Und antwortet, noch bevor ein*e Performer*in den Fuß auf die Bühne gesetzt hat: Zusammenstehen, solidarisch handeln. Präsent bleiben und die Verwirrung und Ambivalenzen der Gegenwart aushalten statt die Zukunft steuern zu wollen – als sterbliche Wesen, "verflochten in zahllosen unvollendeten Konfigurationen von Raum, Zeit, Materie und Bedeutung". Oha, das klingt philosophisch. Ein wenig mutet "Paradise Now (1968-2018)" auch an wie der Test einer These – oder ein historio-künstlerisches Experiment mit jungem Bühnenpersonal. Die dramaturgische Struktur ist allzu elaboriert; das "time hopping", die Foto-Reise zurück in der Zeit und wieder in die Gegenwart, macht nicht den Eindruck eines offenen Probenprozesses. Auch inhaltlich beruht der Abend weniger auf den Ideen oder Biographien der Spieler*innen als auf der Living Theatre-Performance, philosophischer Lektüre – Kristof van Baarle zitiert im Programmheft Giorgio Agamben und Slavoj Žižek – sowie akribischer Recherche.

paradisenow4 560 Clara Hermans uPerformer als Projektionsfläche © Clara Hermans

50 Fotos haben Vandevelde und van Baarle für die Zeit von 1968 bis 2017 gesammelt, eines pro Jahr: der Women's March 2017, Bürgerkrieg in Syrien 2012, Obamas Inaugurationsfeier 2009, das Massaker in Srebrenica 1995, Börsencrash 1987, Putsch in Chile 1973, Muhammad Alis Boxkampf gegen Joe Frazier 1971, die Exekution eines Vietkong auf offener Straße 1968. Dazwischen Jane Fonda beim Aerobic und Britney Spears' "Oops, I did it again". All diese Aufnahmen werden nun also nachgestellt in bis zur letzten Muskelfaser einstudierten Pose. Haltloses Leiden und hedonistische Lust sind hart aneinander geschnitten bei diesem Parforceritt durch die (weitgehend westliche) Historie. Ähnelt nicht dieses Knäuel genießerisch ineinander verschlungener Körper allzu sehr dem Haufen toter Leiber im Libanonkrieg? Eine Ambivalenz, die schwer zu ertragen ist, auch wenn "Staying with the trouble", das Schwierige aushalten, laut Audio-Prolog unsere Task ist.

Selbstsicher mit Sicherheitsabstand

Viel Material ist es, zu dem die Performer*innen eine physische und mentale Haltung finden müssen. Mitunter erscheinen die 68er sehr fern, wie eine uns kaum belangende Zeitspanne. Dann wieder sind sie ganz nah, wird deutlich, wie sehr das damalige Denken unser heutiges via US-Kulturexport geprägt hat. "You can't live if you don't have money", ohne Geld kann man nicht leben, dieser Aussage, im Original des Living Theatre wie in Vandeveldes fABULEUS-Version dem Publikum entgegen geschrien, muss man auch in einer spätkapitalistischen Gesellschaft noch zustimmen. "I am not allowed to travel without a passport" hingegen, ohne Pass darf ich nicht reisen, klingt einem zeitgenössischen Problembewusstsein näher als den 68ern. In dieser Szene werden die Unterschiede zur Original-Performance auch besonders deutlich: Während sich die Mitglieder des Living Theatre unter die Zuschauer*innen mischten, reihen sich die fABULEUS-Performer*innen frontal vor der ersten Reihe auf. "Paradise Now (1968-2018)" wahrt einen gewissen Abstand, vielleicht auch zum Schutz der teils minderjährigen Performer*innen.

Paradise Now2 560 kurt van der elst uDas Ensemble von "Paradise Now (1968-2018) © Kurt van der Elst

Staunen macht die selbstverständliche Sicherheit, mit der jede*r einzelne von ihnen auf der Bühne steht. Sie sind Verkörperungen des Goethe'schen Erziehungsideals vom selbstbewussten Menschen mit Wurzeln und Flügeln. Sie zweifeln an der Wirkmacht von Protesten und erklären die Demokratie für tot, aber verstehen (laut Festivalmagazin) ihre bewussten (Konsum-)Entscheidungen als Politik der kleinen Schritte. #engagement2018.

So rigide der Szenenablauf organisiert ist, er erlaubt es dem Ensemble doch, Energien zu entfesseln und entfalten. Die Zwiespältigkeit von äußerlichem Material und innerer Power lässt sich jedenfalls sehr gut aushalten.

Paradise now (1968-2018)
von fABULEUS / Michiel Vandevelde
Choreographie: Michiel Vandevelde, Choreografie-Assistentin: Zoë Demoustier, Dramaturgie: Kristof van Baarle, Kostüme: Lila John, Feedback: Esther Severi, Dries Douibi.
Mit: Zulaa Antheunis, Sarah Bekambo, Jarko Bosmans, Bavo Buys, Wara Chavarria, Judith Engelen, Abigail Gypens, Lore Mertens, Anton Rys, Margot Timmermans, Bo Van Meervenne, Esra Verboven, Aron Wouters.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.tanzimaugust.de

 

Kritikenrundschau

"'Paradise Now' dokumentiert auf erschütternde Weise das Scheitern aller Hoffnungen auf Frieden, Demokratie, eine gerechtere Welt und Weltordnung", schreibt Dorion Weickmann in der Süddeutschen Zeitung (3.9.2018). "Es ist eine Anklage, erhoben von jungen Männern und Frauen, denen die Zukunft gehört. Mit all den Hypotheken, die wir ihnen hinterlassen."

"Wie viel Sensibilität, Zärtlichkeit, Rücksicht, Einfühlungsvermögen kann dem sexuell noch nicht autonomen Körper zugemutet werden?" hat Astrid Kaminski sich zunächst gefragt, schreibt sie in der taz (3.9.2018): Die intime Gruppenszene der Jugendlichen, die sie auf diese Frage gebracht hat, "steht in ihrer Exponiertheit zentral für den Umgang der Performer*innen mit ihrem Stoff: Es ist eine Art diskrete Hingabe." Die Performer*innen gingen (in den Tableaux Vivants) "weit genug hinein, um die Energie der Konstellationen zu spüren, aber sie eignen sich die Szenen weder an, noch verlieren sie sich darin. Null Pathos." Am Ende sei es eine "alterierende Setzung eines körperpositiven Miteinanders zwischen Selbst- und Fremdbestimmung", ergebe sich die "dichte, eigentümliche Situation, in einen Raum eingeladen zu werden, dessen Gastgeber*innen selbst Gäste sind", so Kaminski: "Jugendliche, die ein kulturelles Angebot wahrnehmen, das durch die Generation der Zuschauer*innen geschaffen wurde, die dabei durch einen Lernprozess gegangen sind, der sie mit sich selbst konfrontiert, und die diesen Zustand, ohne Forderungen zu stellen, mit uns teilen."

 

 

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