Gegen das Geschwafel der Gegenwart

von Stefan Schmidt

Hamburg, 7. September 2018. Es wird dieser Tage ja wieder besonders viel und besonders aufgeregt geredet in Deutschland. Über angebliche Mütter von Problemen etwa, über Problemmütter, Probleme von Politikern und Politikerprobleme. Und natürlich kamen auch die Reden zur Spielzeiteröffnung am Hamburger Thalia Theater nicht ganz ohne Exkurs zur allgemeinen Problemlage aus. Gegen diese Dauerdiskursschleife setzte Hausregisseur Antú Romero Nunes anschließend: ausgedehntes Schweigen.

Mysterium der Liebe in schmalzigen Schmachtsongs

Fast eine Dreiviertelstunde fällt in seiner Bearbeitung des antiken "Orpheus"-Stoffes kaum ein Wort. Das liegt auch daran, dass in der Hamburger Version der sagenhaft oft neu erzählten und vertonten Geschichte Eurydike, die Geliebte der Titelfigur, taub ist. Schwer zu glauben eigentlich. Schließlich steht Orpheus – am Thalia Theater kein mythischer Mann, sondern eine faszinierende Frau – wie niemand sonst für die Magie der Musik, den Zauber des Gesangs. Ein Popstar seiner – beziehungsweise ihrer – Zeit.

Schmalzige Schmachtsongs hat sich Regisseur Nunes von seinen Musikern Johannes Hofmann und Anna Bauer denn auch zusammenstellen lassen. Die Palette reicht von französischen Chansons über Balkanbeats und Eurodance bis zu Elektroelegien. Aus den Nummern des Abends ließe sich umstandslos das Finale eines beliebigen Eurovision Song Contest bestreiten. Das Geheimnis der Liebe, das möglicherweise auch das einzig echte Mysterium des Lebens ist, verbirgt sich gleichwohl woanders. Nicht im Gesang und erst recht nicht in der Sprache.

Lustvoll-lässige und selbstverständliche Sinnlichkeit

Was diese Inszenierung der nihilistischen Leere des Universums entgegenzusetzen hat, entsteht in der körperlichen Begegnung zweier Frauen. Wie zufällig treffen Lisa Hagmeister als androgyn burschikoser Orpheus und die rothaarig löwenmähnige Eurydike der Marie Löcker auf der leeren schwarzen Drehbühne aufeinander, und sofort wird eine erotische Energie spürbar, deren Sogwirkung sich zum Motor eines kraftvollen Abends entwickelt. Aus zarten Berührungen werden leidenschaftliche Küsse auf der Klaviertastatur, aus romantisch harmonischen Zwischentönen überwältigende (wenngleich teils gewollt schiefe) Tiefen. Selten ist auf deutschen Bühnen Sinnlichkeit so selbstverständlich lustvoll lässig dargestellt worden wie hier.

Nun sind Liebende (leider?) bekanntlich nicht allein auf der Welt. Und so stört auch Orpheus und Eurydike irgendwann die Gesellschaft in Gestalt weiß gekalkter Gottheiten mit nackten Oberkörpern, deren macho-männliches Gepose eher in Provinzdiscos zu passen scheint als auf den Olymp, in dem die bräsige Menschheit sie gleichwohl verortet. Zeus stellt sich als der Schlimmste von allen heraus. Während sich Orpheus im Stage-Diving selbst gefällt, vergewaltigt der Gottvater Eurydike hinter dem Bühnenklavier dermaßen brutal und blutig, dass sie in das Reich des Todes hinabsteigen muss.

orpheus3 560 Armin Smailovic hReden vs. Schweigen: Eurydike und ein Gott in Antú Romero Nunes' "Orpheus" © Armin Smailovic

Hier gelingt dem Theaterzauberer Nunes eine der berührendsten Szenen des Abends: Aus dem Nichts legt sich eine transparente Plastikplane über den Bühnenboden und bedeckt Eurydike. Orpheus versucht noch verzweifelt, sie zu fassen, aber das Objekt des Begehrens verschwindet in den Wellen, die die Windmaschine immer höher schlagen lässt. Die Liebe im Angesicht des Verlustes.

Manifest für ein Theater, das das Leben feiert

Was folgt, ist ein fulminanter, klug komponierter Totentanz auf den Gräbern der gesamteuropäischen Geistesgeschichte: Die Unterwelt erweist sich als Museum voller angestaubter Götterstatuen, die wahlweise mit Nietzsche dem Rausch oder mit Schiller der Schönheit das Wort reden, die in Wirklichkeit aber wahrhafte Witzfiguren sind, deren egozentrischer Fatalismus kaum zu ertragen ist.

"Aber Du wusstest doch, dass das irgendwann vorbei ist", blafft Björn Meyer als Amor irgendwann Orpheus an, als die um ihre Eurydike trauert. Was für ein Trost! Kein Wunder, dass dieser feist feixende Liebesgott wenig später trotz schwarzer Flügel auf dem Rücken am Boden bleiben muss, während der athletisch drahtige Hermes des Bekim Latifi neben ihm Blumen streuend abhebt, dieser Gott der Redekunst und der Gymnastik, dem im 21. Jahrhundert das örtliche Fitnessstudio im Zweifel offenkundig näher steht als die trügerische Logik der Sprache.

Das Unbehagen am Geschwafel der Gegenwart scheint dieser geflügelte Bote mit dem Regisseur des Abends zu teilen: Schon in früheren Inszenierungen hat Antú Romero Nunes der körperlichen Ausdruckskraft seiner Schauspieler stärker vertraut als dem hohlen Klang der Worte, etwa in seiner bemerkenswerten Version der Odyssee nach Homer. Sein "Orpheus" gerät dem Thalia-Hausregisseur nachgerade zum Manifest: für ein Theater, das das Leben feiert, aber an der Vernunft (ver-)zweifelt, das grandiose Schauspieler in den Mittelpunkt rückt, aber ihren Reden misstraut, das Spaß macht, aber der Traurigkeit Raum lässt. Ein gefühlvoller, wohl durchdachter, poetischer Rausch der Bilder, an dem vermutlich sowohl Dionysos als auch Apollon ihre Freude hätten!

 

Orpheus
Eine musische Bastardtragödie frei nach dem Mythos
Regie: Antú Romero Nunes, Ausstattung: Jennifer Jenkins und Matthias Koch, Musik: Johannes Hofmann (Leitung) und Anna Bauer, Choreographie: Eyal Dadon, Dramaturgie: Christina Bellingen
Mit: Lisa Hagmeister, Pascal Houdus, Bekim Latifi, Marie Löcker, Björn Meyer, Sven Schelker, Sebastian Zimmler. Tänzerinnen und Tänzer: Joao Assmann, Lena Boneß, Nora Elberfeld, Victoria González Chávez, Moe Gotoda, Ida Horlyck, Nana Anine Jorgensen, Kristina Schleicher, Sophia Schönert, Elvan Tekin, Tirza Ben Zvi. Live-Musiker: Anna Bauer, Carolina Bigge, Natascha Protze, Kerstin Sund, Anita Wälti 

Dauer: 1 Stunde 35 Minuten, keine Pause

www.thalia-theater.de

 

Kritikenrundschau

"Dieser 'Orpheus' will ein schwelgerisches Zauberstück und zugleich eine philosophische Denkaufgabe sein", schreibt Wolfgang Höbel auf Spiegel Online (8.9.2018). "Es mag aussehen wie ein verfrühtes Weihnachtsmärchen, was der Regisseur Nunes da auf der Thalia-Bühne angerichtet hat – in Wahrheit ist es gedacht als tiefschürfender Essay über das Wesen der Schönheit, die Unabwendbarkeit des Todes und die Liebessucht des Menschen." Einwände gegen diese Inszenierung als "farbenfrohes Vergnügen, in dem Schauspielerkunststücke und Regieeinfälle munter um sich selbst kreisen", erhebt der Kritiker auch: "Die herbeizitierte Weltverzweiflung und Todesnähe allerdings wirken merkwürdig aufgepappt in diesem körperbetonten Spiel-Arrangement."

"Eine wilde Mischung aus Musical, Performance, Pantomime, Rezitationen, Ballett und Slapstick" hat Kester Schlenz für den Stern (online 8.9.2018) erlebt. "Voller Körpereinsatz ist gefragt. Marie Löcker turnt als Orpheus beeindruckend wuchtig über die Bühne, Lisa Hagmeister agiert sperriger, singt aber besser. Und die Götter (Sebastian Zimmler, Pascal Houdus, Sven Schelker, Björn Meyer und Bekim Latifi) agieren wie Untote auf Speed. Eine enthemmte, geile, eitle Schar von Überwesen, die über Leben und Tod herrscht. Was das alles nun soll, weiß man nicht so genau, aber es macht Spaß, ihnen beim Wüten zuzusehen."

Katja Weise vom NDR (8.9.2018) lobt die Virtuosität des Ensembles und die Bildfindungen der Regie. "Nunes setzt – und das ist konsequent – ganz auf Sinnlichkeit bei diesem Abend über Liebe und Tod, der wider besseren Wissens mit Liebe überlistet werden soll. Doch es bleibt auch Ratlosigkeit angesichts der Fülle von Einfällen, der eingestreuten Texte, deren Sinn sich nicht immer sofort erschließt."

"Orpheus" ist für Annette Stiekele vom Hamburger Abendblatt (10.9.2018) "ein sinnliches und lange nachwirkendes Theatermärchen, von dem man sich wünscht, es möge ewig so weitergehen". Ein "von Eurodisco und zartem Folk umspielter Totentanz" sei dieser Abend. "Mit Fabulierlust und einem erstklassigen Ensemble inszeniert Nunes gegen die Todesangst und auch den Fatalismus der Götterwelt an. Setzt dem Grau der Welt einen fantasievoll-farbigen Gegenkosmos entgegen. Dem Misstrauen gegenüber der Vernunft die Macht des Gefühls. Über das Tänzerische, Musikalische und Spielerische findet der Abend zu seiner Form, deren Ästhetik sich weg vom Volkstheater und dem Slapstick-Humor früherer Nunes-Arbeiten bewegt."

Über einen "Hybrid aus Pantomime und Clownerie, Geisterbahngrusel, akrobatischem Tanz und Zaubertheater, Musik und Gesang, mit tollen Schauspielern, der in anderthalb Stunden vorbeirauscht" berichtet Monika Nellissen in der Welt (10.9.2018). Gelobt wird Nunes für seinen Bilderreichtum und seine "bisweilen orgiastische Phantasmagorie". Ärgerlich seien die weder "inhaltlich noch akustisch" verständlichen Liedbeiträge und die "endlosen philosophischen Traktate" von Schiller, Nietzsche und anderen. "Bilder wären hier mehr als Worte. Dabei hätte Nunes bleiben sollen."

"Immer wieder findet Nunes starke Bilder, baut schlaglichtartige Szenen, die von Liebe und Exzess erzählen, von Tod und Verzweiflung. Hemmungs- und übergangslos reiht er sie aneinander, springt unvermittelt von wuchtigen bässen in kitschige Klavierakkorde", so Katrin Ullmann in der Zeit (13.9.2018). Doch hinter all den Effekten offenbare sich eine gähnende inhaltliche Leere. "Und man begreift: Nunes will mit seiner Orpheus-Bearbeitung nicht politisch sein, nicht kritisch, nicht streitbar, intellektuell oder gar innovativ. Nunes will einfach nur spielen."

 

mehr nachtkritiken