Im Spiegelkabinett des Doktor Kraft

von Leopold Lippert

Wien, 11. September 2018. Verschreckt tappt Sebastian Bruckner (Fabian Krüger) über den noch schummrig beleuchteten vorderen Bühnenrand, rückt zaghaft seinen Stuhl zurecht, und setzt sich an die Schreibmaschine. Er zögert, stockt. Doch dann schreibt er. Mephisto. (So zeigt es uns die Videoprojektion).

Sebastian ist das Alter Ego des Autors Klaus Mann, dessen 1936 in Amsterdam erschienener Roman "Mephisto: Roman einer Karriere" kaum verhüllt den Aufstieg des Schauspielers Gustaf Gründgens kurz vor und während der NS-Zeit nachzeichnet, und dabei genauso eine scharfe (und unheimlich gegenwärtige) Analyse von faschistischen Strukturen und politischem Opportunismus darstellt wie eine klatschtriefende, persönliche Abrechnung mit dem entfremdeten Schwager (Gründgens war von 1926 bis 1929 mit Klaus' Schwester Erika verheiratet).

Mephisto 1 560 Reinhard Werner uReenactment von Klaus Manns "Anja und Esther": Sabine Haupt als Nicoletta von Niebuhr alias Pamela Wedekind, Fabian Krüger als Sebastian Bruckner alias Klaus Mann, Nicholas Ofczarek als Hendrik Höfgen alias Gustaf Gründgens und Dörte Lyssewski als Barbara Bruckner alias Erika Mann © Reinhard Werner

In Klaus Manns Roman ist Sebastian bloß eine Randfigur, doch Bastian Krafts Bühnenfassung für das Burgtheater macht den Autor zentral, stellt ihn ebenbürtig an die Seite seines Protagonisten Hendrik Höfgen. Mit Nicholas Ofczarek und Fabian Krüger hat Kraft, der auch Regie führt, eine ideale Besetzung gefunden: Ofczarek als Höfgen ist von der ersten Sekunde an jener Star, der er auch an der Burg ist: undurchschaubar, ein bisschen eitel, und mit immenser Bühnenpräsenz. "Ja! Ja!" ruft er enthusiastisch, als der kommunistische Schauspielerkollege Otto Ulrichs (Peter Knaack) ihm vorschlägt, ein revolutionäres politisches Kabarett zu veranstalten. Um gleich darauf zu beschwichtigen: "Gleich nach der nächsten Premiere, versprochen!"

Widersacher

Krüger hingegen muss sich erst verwandeln, vom schüchternen Schreiberling zu einem immer bestimmter auftretenden Autor, der sich am Ende in offenen Wettstreit zu Höfgen stellt, ein Wettstreit um Gründgens’ Vermächtnis und um dessen Bedeutung für die an Bezügen zu den 1930er Jahren nicht arme Gegenwart. "Also bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als abzuwarten", spottet Höfgen schließlich, nicht ohne Kampfeslust, "wer von uns beiden mehr Applaus bekommt."

Mephisto 4 560 Georg Soulek Burgtheater uLaufbandtheater, ick hör dir trappsen? Jedenfalls marschieren die Jungnazis auch in Wien
© Reinhard Werner

Wenngleich Krafts Hinzuziehen einer zweiten, moralisch integren Hauptfigur dramatisch wirkungsvoll ist, so bleibt seine Bearbeitung über weite Strecken zu sehr der episodischen Erzählstruktur des Romans verhaftet: Penibel wird Höfgens Aufstieg Schritt für Schritt nacherzählt, kein Mitstreiter, kein Widersacher vernachlässigt. Sogar die Homosexualität Gründgens‘, die der Roman unterschlägt (Klaus Mann lässt Höfgen stattdessen "Sadomaso-Sex mit einer schwarzen Tänzerin" haben, wie Sebastian süffisant bemerkt), thematisiert Kraft ausführlich. So fühlt man sich gut informiert, ob der Redundanzen aber immer auch etwas schläfrig.

Körperspiel

Die eigentliche Schönheit der Inszenierung liegt in den körperbetonten, beinah slapstickartigen Einlagen, mit denen Kraft die Unsicherheit und immer latente Gefahr in Höfgens Mitläufertum herausstreicht. Etwa, als Sebastian und Hendrik in Unterhosen, dauernd über ihre Hosenbeine stolpernd, darüber sinnieren, ob das Risiko beim Schreiben oder beim Schauspielen größer ist, und ob das Begehren nach dem Gesehenwerden nicht immer schon den Quell aller Peinlichkeit darstellt. Oder als der dicke Ministerpräsident (Hermann Göring, gespielt von Martin Reinke) Höfgen umständlich ein Seilgeschirr anlegt und dabei dem von ihm abhängigen Schauspieler keine andere Wahl lässt, als die Prozedur über sich ergehen zu lassen und schließlich (gesichert!) ins Taumeln zu kommen. Oder etwa, als Höfgen bei aller Verachtung mit der Schauspielkollegin und Frau des Ministerpräsidenten Lotte Lindenthal (eine großartig plump lispelnde Petra Morzé) herumzärteln muss, weil sie ihm bei seiner Karriere behilflich sein kann.

Mephisto 6 560 Reinhard Werner uPetra Morzé als Lotte Lindenthal, Judith Schwarz am Schlagzeug, Nicholas Ofczarek als Hendrik
Höfgen © Reinhard Werner

Die größte Attraktion des Abends aber bietet das grandiose Bühnenbild von Peter Baur, im Zentrum ein überdimensioniertes Laufband, an dessen Ende Schlagzeugerin Judith Schwarz den (Bewegungs-)Takt vorgibt. Es ist ein von vier riesigen Projektionsstelen flankierter Laufsteg der Eitelkeiten, der in seiner permanenten Rückwärtsbewegung die Figuren immer auch zum Straucheln bringt, sie gegen ein Ziel laufen lässt, das sie nie erreichen werden. Im Laufe der Inszenierung gerät die Bühne immer mehr in Bewegung, das Laufband wirbelt mit der Drehbühne herum, wird hydraulisch ein Stockwerk höher gepumpt; aus den Projektionsflächen werden riesige Spiegel, und von der Decke schwebt glitzernd Sylvie Rohrer (als die geflüchtete jüdische Schauspielerin Dora Martin), die schaurige Lieder krächzt zu nie enden wollendem Applaus.

Blickespiel

Die Bühne eröffnet immer neue, tief in den Bühnenraum hineinreichende Sichtachsen und Blickkonstellationen, sie verweist auf Überwachungsposten und Schlupfwinkel. Sie zeigt uns, wie der Ministerpräsident Höfgen aus der Ferne beobachtet, und bietet geradezu überintime Close-ups von Höfgen unter seiner Maske. Sie zeigt uns, wie der enttäuschte junge Nazi-Sympathisant Hans Miklas (Martin Vischer) im Wald von Schergen erschossen wird, und sie zeigt uns, wie wir Zuschauer*innen auf uns selbst im Spiegel des Preußischen Staatstheaters schauen. Mit der Bühne nimmt das Dilemma des eitlen Opportunisten Höfgen materielle Gestalt an: Zwischen anschauen und beobachtet werden, zwischen Bewundern und Überwachen ist ein schmaler Grat. Und niemand kann sich dabei in Sicherheit wähnen.

 

Mephisto
nach dem Roman von Klaus Mann
Bühnenfassung von Bastian Kraft
Regie: Bastian Kraft, Bühne: Peter Baur, Kostüme: Annabelle Witt, Musik: Arthur Fussy, Video: Jonas Link, Licht: Norbert Joachim, Dramaturgie: Hans Mrak.
Mit: Bernd Birkhahn, Sabine Haupt, Simon Jensen, Peter Knaack, Hans Dieter Knebel, Fabian Krüger, Dörte Lyssewski, Petra Morzé, Nicholas Ofczarek, Martin Reinke, Sylvie Rohrer, Martin Vischer; Schlagzeug: Judith Schwarz.
Dauer: 3 Stunden 20 Minuten, eine Pause

www.burgtheater.at

 
Kritikenrundschau

"Die Inszenierung gerät zum Gemeinplatz mit Gegenwartsbezug", so Uwe Mattheiss in der taz (13.9.2018). Bastian Kraft versuche, dem Stoff etwas für die unmittelbare Gegenwart abzugewinnen, "meint man doch Motive, Mentalitäten und Handlungen aus dem Roman in Zeiten wie diesen vermehrt auftreten zu sehen". Man mache schwer einen "auf queeren 1920er-Jahre-Schick. Babylon Berlin lässt grüßen", mäandere zwischen Roman, Mnouchkine, Szabó und der Nachgeschichte. Fazit: Die kargen, aber stichfesten Dialoge von Ariane Mnouchkines "Mephisto" wünscht man sich zurück, "sie skizzieren noch heute politische Haltungen, statt in Figurenpsychologie zu baden".

Bastian Kraft wuchtet "Mephisto" auf die Bühne, ein Abend, der Vieles will, schreibt Stephan Hilpold im Standard (online 12.9.2018). "Ein Schriftsteller und ein Schauspieler, beide homosexuell, beide um Anerkennung ringend. Ihr Verhältnis zueinander interessiert Kraft in seiner Spielfassung beinahe genauso sehr wie die Typologie eines Spielers, eines Schauspielers." Nämlich Nicholas Ofczarek, der famos ist und vieles von der Verwandlungskunst ausspielen könne, die er so meisterhaft beherrscht. Kraft erweitere die Schlüssellochperspektive des Klaus Mann, um das von Mythen umrankte Verhältnis des Autors zu seinen Figuren. "Wie so oft bei Dramatisierungen wird auch hier der Autor des Romans als Figur auf die Bühne geholt." Aber das sei auch ein grundsätzliches Problem dieser Inszenierung. Ansonsten überzeuge "eine queere, schwülstige, manchmal beinahe Camp-artige Ästhetik, die Kraft nun erstmals auch auf der großen Bühne des Burgtheaters einsetzt".

"Der längere Teil vor der Pause ist mitreißend (...) Aber auch der tollste Beat kann ermüden. Am Ende hat sich die Inszenierung in den Tiefen des Romans verzettelt", so Norbert Mayer in der Presse (online 12.9.2018). "Das Bemühen um Symbole nimmt zu (rote Fahne, marschierende Hitlerjugend, mit eckigen Bewegungen angedeutete Hakenkreuze), die Spannung lässt vielleicht gerade wegen all der Ablenkung etwas nach." Das Ensemble jedoch leiste Großartiges.

Die Inszenierung setze sehr bewusst auf all jene Passagen, "in denen der ganz junge Faschismus 'spricht', und später die Macht, die er erlangt. Texte gibt's, die wie Statements von AfD oder 'Pegida'", so Michael Laages im Deutschlandfunk Kultur (12.9.2018). Darüberhinaus bleibe der Abend eng am Roman. Dessen Entstehungsgeschichte geben Regisseur Kraft und Dramaturg Hans Mrak der Aufführung bei, "was der Inszenierung eher nicht bekommen ist". Fazit: Insgesamt "fängt dieser 'Mephisto' zwar erstaunlich stark den aktuellen Klang ein im Angesicht heraufziehender Katastrophen, hilft aber weder mit Erklärungen noch gar bei der Suche nach Visionen des Widerstands."

Bastian Kraft habe "ein paar krasse Fehlentscheidungen getroffen", befindet Wolfgang Kralicek in der Süddeutschen Zeitung (13.9.2018). Er greife "auf eine denkbar biedere, langweilige Form von Dramatisierung zurück: Der Autor selbst tritt als Erzähler auf". Zudem lasse er den Hauptdarsteller "nie sein Gesicht zeigen"; dass "sich hinter der Maske des Schauspielers wieder nur eine Maske befindet, ist natürlich Konzept. Aber dieses Konzept behindert mehr, als es ermöglicht". Obendrein enthalte der Abend "die schlechteste Hitler-Parodie (Sylvie Rohrer) seit Beginn der Aufzeichnungen".

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