Des Postinspektors poetische Dämonen

von Andreas Klaeui

Avignon, 7. Juli 2008. Manchmal ist das Festival von Avignon auch ein Ort der Entdeckungen. Es ist ja, im Unterschied zum Berliner Theatertreffen, nicht nur eine Bestenschau, dies zwar auch, aber eben immer auch ein Festival der Kreation. Der Deutsche August Stramm ist jetzt so eine Trouvaille: In Deutschland kaum, in Frankreich überhaupt nicht bekannt, kann man nun drei seiner kurzen Stücke in einer Ad-hoc-Trilogie sehen. Diese dauert knapp zwei Stunden und führt vom Naturalismus über den Symbolismus in expressionistische Abgründe.

August Stramm ist ja ein Phänomen: geboren 1874, seit 1893 in der Postverwaltung, Postinspektor 1909 – und dann bemächtigte sich seiner, wie seine Tochter sagte, der Dämon der Poesie. In kurzer Zeit schreibt er eine Reihe von Dramen unterschiedlicher Stilarten, Gedichte und Prosa, 1914 begegnet er Herwarth Walden, der ihm hilft, einen Verlag zu finden, am 1. September 1915 stirbt er an der russischen Front.

Den Hunden zum Fraß

Wenige Monate zuvor, im Januar 1915, entstand "Kräfte", das längste Stück in der Avignoneser Trilogie, ein Kammerkriegsstück der Triebe, frappierend jung geblieben in seiner expressiven Grenzüberschreitung, seiner analytischen Unkonventionalität; und die Franzosen schauen fasziniert auf dieses hundertjährige Drama, in dem eine Ehegattin die junge Konkurrentin nicht umlegt, "ach nein", das nicht, obwohl sie kurz den Revolver zur Hand nahm, "du sollst leben", aber die hübschen Lippen, "nie geküsst", werden weggeschnitten und den Hunden vorgeworfen.

"Kräfte" ist die Pièce de résistance der Trilogie, die die Koregisseure Daniel Jeanneteau und Marie-Christine Soma unter dem Titel "Feux" (Feuer) zusammengefasst haben. Sie inszenieren es schön unterkühlt, sozusagen unter Laborbedingungen: Was für eine Reaktion erfolgt, wenn wir hier noch ein bisschen Gewalt hinzufügen, da eine Prise Witz, hier Neid, da Anpassung? Stramm hatte ja präzise Vorstellungen davon, was auf der Bühne passieren sollte respektive in der Psychologie seiner Figuren und gab diesen in akribischen Szenenanweisungen Gestalt.

Hin und Her und Darüberhinaus

Dies ist natürlich, auch wenn man ihm nicht im Detail folgt, tolles Schauspielerfutter, und faszinierend zum Zuschauen ist das Impulslabor gerade wenn es, wie hier, nicht naturalistisch, sondern sehr zeichenhaft gespielt ist. Wozu auch beiträgt, dass die Darsteller in allen drei Stücken dieselben sind.

Die andern beiden Teile sind harmloser: "Die Haidebraut", ein symbolistisches Drama à la Maeterlinck, lassen Jeanneteau und Soma in tiefem Dunkel spielen, aus dem sie statische Figuren herausleuchten: Das sieht schön aus, vermag den etwas manierierten Text aber nicht über sich hinaus zu heben.

Das Anfangsstück, "Rudimentär", ist noch einmal ganz etwas Anderes: eine naturalistische Farce, ein Paar am Ende, in einer erbärmlichen Mansarde, sie öffnen den Gashahn und legen sich ins Bett, aber sie haben keine Chance: die Gasrechnung ist nicht bezahlt. Und auch hier wieder ein sich hochschraubender Taumel der Emotionen, ein Hin und Her und Darüberhinaus von einer Radikalität und gleichsam wissenschaftlichen Amoralität, dass man sich in Frankreich die Augen reibt über den deutschen Posthalterstand.

 

Feux (Rudimentaire / La Fiancée des landes / Forces)
von August Stramm
französisch vonHuguette und René Radrizzani
Regie, Bühnenbild, Licht: Daniel Jeanneteau und Marie-Christine SomaMit: Axel Bogousslavsky, Jean-Louis Coulloc, Julie Denisse, Mathieu Montanier, Dominique Reymond.

www.festival-avignon.com



 

Kritikenrundschau

In einem Überblicksbericht in der Süddeutschen Zeitung (11.7.) wundert sich Jürgen Berger über die Aufmerksamkeit, die dem Expressionisten August Stramm in Avignon widerfährt. "Kräfte" sei ein "eher enervierendes Stück mit einer exaltierten Frau und einer Unmenge von Regieanweisungen". Dominique Raymond würde in der Inszenierung von Soma und Jeanneteau "wie eine tickende Zeitbombe" über die Bühne "wandeln". Ebenso wie in "Haidebraut" ginge es um "pure Emotion, die auf der Bühne in pure Künstlichkeit übersetzt wird". Ähnlich in "Rudimentär", das "wirke, als habe man den Figuren, die einem Stück von Gerhart Hauptmann entsprungen zu sein scheinen, einen Dynamitgürtel umgeschnallt". Die Darstellerin Julie Renisse gebe der "jungen Rabenmutter eine flirrende Comic-Strip-Naivität mit auf den Weg": Daisy Duck im deutschen Expressionismus.

Während die Off-Sparte in Avignon immer mehr "die Züge eines immensen szenischen Karnevals" annehme, habe sich das System der vor fünf Jahren eingeführten Artistes associés bewährt, schreibt Andreas Klaeui in der taz (14.7.). Bisher habe noch jeder eingeladene Künstler-Programmmacher dem Festival "seinen Stempel aufgedrückt", "manchmal kontrovers, manchmal ärgerlich, aber immer anders". Die diesjährigen Artistes associés Valérie Dréville und  Romeo Castellucci zögen zwar künstlerisch nicht an einem Strang, hätten aber als gemeinsame Linie viel Performance, Zirkus und Tanz ins Programm aufgenommen. Johann Le Guillerm etwa bändigt statt Löwen Drahtrollen und reitet auf einer riesigen Metall-Bürste. Derweil sich einer der Kung Fu-Mönche aus dem Shaolin-Kloster Henan angelegentlich einer Kampfchoreographie von Sidi Larbi Cherkaoui plötzlich in einen Vogel verwandele, was bezaubernd sei. Bemerkenswert auch die Wiederentdeckungen: neben dem Deutschen August Stramm, der Däne Kaj Munk, dessen "aberwitziges Glaubenswunderstück" "Ordet" Lars von Trier für "Breaking the Waves" inspiriert hat. "Regisseur Arthur Nauzyciels steht staunend davor und macht das Wunder einer Auferstehung - nichts weniger ereignet sich hier! - zum kleinen Auferstehungswunder des Autors."

Die Liebe stünde im Mittelpunkt der ersten Woche von Avignon, bemerkt Joseph Hanimann in der FAZ (14.7.): In Romeo Castelluccis als Künstlerqual inszeniertem Inferno flüsterten 50 Statisten "platonisch" "Je t'aime", derweil ein Fassadenkletterer an der Palastfassade fast 40 Meter hinauf steige. Castelluccis freie Gedanken- und Bilderassoziationen zu Dantes "Göttlicher Komödie" in drei Teilen wirke trotz "schockhafter Pointen" so "schön wie belanglos".  Stärker beeindruckt hatHanimann n Valérie Drévilles Inszenierung der Claudelschen "Mittagswende". Hier werde nicht "um Individualglück gespielt, sondern im Staub mit dem Jenseits gefochten". Die Körper der vier Schauspieler "werden in ständigen Zuckungen - ist es der hohe Seegang oder das innere Beben der Claudelschen Sätze? - übereinander und wieder auseinander geworfen. Allerdings komme die Aufführung nicht vom Fleck. Es fehle die "akzentsetzende Hand". Auch an "Ordet" von Kaj Munk freut sichHanimann n. "Leben und Lieben wird in dieser Aufführung fehlerlos aus dem Text in die Realität zurückbuchstabiert." Bei der Inszenierung von August Stramm - unter dem Titel 'Feux' haben Jeanneteau und Soma Stramms Texte 'Rudimentär', 'Die Haidebraut' und 'Kräfte' zu einer unterkühlten Psycho-Trilogie zusammengefasst - komme es dagegen zu Realismus-Missverständnissen. Doch JosephHanimann n ist auch dafür "schon dankbar", in einem "Festival, das uns mit seiner Textscheu der letzten Jahre auch jede Fehldeutung versagte."