Probieren wir's mit Humor

von Dieter Stoll

Nürnberg, 27. September 2018. Um Mordswut und Wortsmut geht es bei diesem Potpourri von Zweikämpfen in jedem Fall, da kann man die Aktualität beim schlechtesten Willen nicht übersehen: Erst herrscht schwere Paarungs-Amnesie unter Eheleuten, dann schlitzt ein eigentlich ganz freundlicher Nachhilfe-Lehrer mit Gebrüll und Küchenmesser seine Schülerin auf, und drumherum entsteht aus Einzelteilen nichtsnutziger Floskeln ein Wirbelsturm im Wasserglas. Jedes Wort kann nichts bedeuten. Tosender Leerlauf donnerwettert aus allen Wolken. Aus denen schwebt unter dampfenden Lichtspielen am Ende eine vorher als Feuerwehrhauptmann identifizierte Travestie-Diva und trällert paillettenumspannt den Titel des Abends "Ein Stein fing Feuer".

Ist das Poesie-Fake, eine sprachliche Ballaststoffwechselstörung oder lauern hinter dem triumphalen Schöpfer-Bekenntnis "Der Text ist blödsinnig" abgründige Wahrheiten? Jedenfalls "absurd", da sind sich die Schauspielführer dieser Welt bei Eugène Ionesco seit mindestens 50 Jahren einig – und weil das Publikum tragisch gemeinte Konstellationen einst zum Erfolg hochgelacht hat, wirkt es bis heute, wenn die frühesten Schauerstücke den Sprung auf den Spielplan schaffen, immer auch ein wenig furchterregend.

Spöttisches Spektakel

Nürnbergs neuer Schauspieldirektor Jan Philipp Gloger (37) ist offenbar ein furchtloser Mann. Zum Start in seine Amtszeit hat er "Anti-Stück" und "komisches Drama" aus jener Avantgarde-Ablage gewählt, die spontan denn doch eher Erinnerungen als Perspektiven beschwört. Er findet das grundsätzlich ungerecht – und ein Comeback-Fanal überfällig. An der Pole-Position des Spielplans also mit vollem Risiko nicht das womöglich erwartete Leitlinien-Bedeutungsformat von Klassikern ("Nächstes Jahr!", beruhigt der übergeordnete Staatsintendant Jens-Daniel Herzog irritierte Anfragen), sondern die mit anderen Texten aus dem Ionesco-Nachlass aufgepolsterte Vergrößerung. Es geht um nicht weniger als die glorreiche Auferstehung der Zwillings-Miniaturen "Die kahle Sängerin" und "Die Unterrichtsstunde", schon nach Quadratmetern mutwillig aufgewertet vom Studio-Exil zum großen Ganzen. Ältere Nürnberger können mit Erfahrung dienen, denn anno 1979 versuchte Hansjörg Utzerath auf gleicher Bühne das Upgrade ohne Kulissenzauber.

Ein Stein fing Feuer 3 560 Konrad Fersterer u In geordneten Verhältnissen: Süheyla Ünlü, Sascha Tuxhorn, Annette Büschelberger
© Konrad Fersterer

Glogers Inszenierung mit dem Zitatenschatz-Kitt ist als spöttisches Spektakel angelegt, hat den schärferen Blick und den längeren Hebel für doppelten Boden. Die beiden Stücke bekommen in der nahtlos gleitenden Nürnberger Fassung eine Zusatz-Chance mit Zeigefinger im Anhang. Da wird am Lagerfeuer "das Bewusstsein für Unvollkommenheit" beschworen, dem Traum im Traum therapeutisch nachgespürt und ein todernster Merksatz wie "Ideen sind mir verdächtig, Gefühle sind wahr" womöglich allen Ernstes im Sinne des Erfinders platziert. Absurd? Ehe allzu viele Zweifel sprießen, ist der Schalter umgelegt: "Na gut, dann probieren wir's mit Humor." Den gibt es geballt zum Finale mit Drinks für alle, Betreten der Bühne erbeten.

Komödie statt Antworten

Jan Philipp Gloger trainiert Regie-Muskeln für Spielstunden und hat dafür die passenden Sparringspartner: Sascha Tuxhorn stürzt sich wie ein Bandwurm-Dompteur auf Endlos-Sätze, Julia Bartolome, Lisa Mies, Annette Büschelberger und Maximilian Pulst jonglieren unfallfrei mit Plemplem-Charaden, sofern sie nicht grade grenzwertig Herbert Feuersteins "Schmidteinander"-Kunstpersiflagen imitieren, Frank Damerius hat bereits als murmelnder Feuerwehrmann einiges vom späteren Charme der Diva auf der Schaukel. Bühnenbildnerin Marie Roth baut für "Die kahle Sängerin" eine katalogfertige Wohn-Einheit fürs nächste "Gemetzel" von Yasmina Reza. Danach rollt zur "Unterrichtsstunde" die wohlgeordnete Professoren-Welt als riesiges Wohn-Relief gefährlich dicht an die Rampe. Kunstvolle Einlegearbeit von Mobiliar und Menschen, die ihre redselige Sprachlosigkeit fortan mit ebenso absturzgefährdeten Kletterpartien durch alle Wahnwitz-Etagen verbinden.

Ein Stein fing Feuer 6 560 Konrad Fersterer u Julia Bartolome und Lisa Mies am Lagerfeuer © Konrad Fersterer

Am Lagerfeuer bei den Zelten, dem Zugabe-Teil, wird Weltgeschichte umgerührt, Neandertaler mit Keule und Zivilisationskrüppel mit Tablet rempeln einander. Wohin das führt? "Fragen Sie nicht mich, fragen Sie die Figuren", ließ der Autor aus dem Mund der Putzfrau zeitig wissen. Regisseur Gloger hat keine Antworten inszeniert, lieber dann doch pures Komödien-Theater gemacht: Turbulent, fantasievoll und dem Strampeln des frühen Ionesco herzlich verbunden. Wenn sich die Schauspieler freihändig an der Steilwand direkt über den Köpfen der Zuschauer am Fake festkrallen, ist allerdings der Punkt getroffen, wo beiderseits der Rampe der Begriff "Schwindel" verführerisch zu rotieren beginnt. Die glucksende Heiterkeit des Premierenpublikums steigerte sich beim Gratis-Sekt mächtig.

Ein Stein fing Feuer
"Die kahle Sängerin", "Die Unterrichtsstunde" und andere Texte von Eugène Ionesco
Regie: Jan Philipp Gloger, Bühne: Marie Roth, Kostüme: Karin Jud, Musik: Kostia Rapoport, Dramaturgie: Andrea Vilter.
Mit: Julia Bartolome, Annette Büschelberger, Frank Damerius, Lisa Mies, Maximilian Pulst, Sascha Tuxhorn, Süheyla Ünlü.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.staatstheater-nuernberg.de

 

Kritikenrundschau

Christoph Leibold vom Bayerischen Rundfunk (28.09.2018) findet es "interessant, dass im Gegenwartssetting von Glogers Inszenierung Ionescos Skurilitäten plötzlich gar nicht mehr wie Harmlosigkeiten erscheinen, die unsere heutige Realität meilenweit überholt hat. Eher wirkt es so, als hätte der Autor diesen Irrsinn vorweggenommen." Zu erleben sei eine in sinnentleerten Sprach- und Verhaltensroutinen gefangene Spießbürgerlichkeit, die umso hartnäckiger an der eigenen Lebensform festhalte, desto hohler sie werde. Nach diesem spannenden Theaterabend sei man Feuer und Flamme für den neuen Nürnberger Schauspielchef.

Die neue Leitung des Staatstheaters in Nürnberg entzündet bei 'Ein Stein fing Feuer' eine Fackel für die Wahrheitsfindung in der Welt alternativer Fakten, schreibt Martin Blättner in der Mittelbayerischen (28.9.2018). "Jan Philipp Gloger ist sichtlich bemüht, das absurde Theater zu aktualisieren und setzt auf die Entlarvung und das Sezieren gedankenloser Sprüche mit pointierter Schärfe und fast aggressiver Komik."

Gloger erweise sich als einfallsreicher, sehr genauer Regisseur, der den Autor behutsam modernisiere, zugleich aber beim Wort und damit ernst nehme. Außerdem nütze er die Gelegenheit, sein Ausstatter-Team und Teile seines Ensembles eindrucksvoll zu präsentieren, so Steffen Radlmaier von den Nürnberger Nachrichten (28.9.2018). "Fazit: Starke Einzelszenen, großartige Schauspieler, tolle Ausstattung, aber ein bisschen zu viel des Guten."

Eine sehenswerte Hommage an Ionesco und einen glänzenden Einstieg für Jan Philipp Gloger vermeldet Wolf Ebersberger von der Nürnberger Zeitung (29.9.2018). "Gloger inszeniert das Ganze wie eine Boulevardkomödie, modern und flott, die langsam Brüche bekommt. Schön, wie sich so auch eine Brücke zu zeitgenössischen Dramatikern wie Harold Pinter, Alan Ayckbourn oder Yasmina Reza bildet."

"Kann man mit absurdem Theater noch eine heute relevante, künstlerische Aussage treffen?", fragt sich Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (2.10.2018) angesichts von Glogers Ionesco-Stückwahl. Seine Antwort: "es geht erstaunlich gut". Glogers Idee sei "die Erkenntnis, dass unsere Realität größeren Unfug enthält als das absurdeste Theater", schreibt Tholl. "Tauchen später auf der nun völlig offenen Bühne Sentenzen von Donald Trump und damit Vergleichbares auf, vollendet sich Ionescos Sicht auf die Welt als große Weisheit." Der Charme der Eröffnungspremieren in Nürnberg bestünde auch in einer "Feier des Ensembles": "Darsteller, die man in den vergangenen Jahren oft eingezwängt in ein Prokrustesbett der mangelnden Regiefantasie sah, blühen zu neuen Leben auf. Bei Glogers stupendem Regiehandwerk merkt man nicht, wer neu oder schon lange am Haus ist." Nürnbergs neue Leitung, so Tholls Fazit, verwandle Bayerns größtes Staatstheater außerhalb Münchens "in ein lebendiges, aufregendes Haus".

 

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