There is no God

Von Falk Schreiber

Hamburg, 29. September 2018. Die Verführung durch den Antichrist hat ihren Reiz. Beats pochen, die Kamera fliegt durch den Wald, erfasst junge Mädchen beim rituellen Tanz, Blut fließt, Augen verdrehen sich. Und dann steht Reverend Parris im Bild, von Julian Greis als muskelschwere Dumpfbacke gespielt, die gar nicht glauben kann, was für ein Ausbruch jugendlicher Ekstase sich da vollzieht. Stefan Pucher hat die Vorgeschichte zu Arthur Millers "Hexenjagd" am Hamburger Thalia als Video gedreht, als schwarzen Pop in kluger Clip-Ästhetik, der Lust macht, einen neuen Zugriff auf Millers 1953 entstanden Klassiker der US-Dramatik zu sehen.

Brillant aufspielendes Ensemble

Doch der düstere Einstieg dauert nur wenige Augenblicke, dann fährt die Videowand hoch und gibt den Blick frei auf eine naturalistische Bretterbuden-Bühne (Barbara Ehnes): Sperrholz, Wellblech, ein paar Strohballen. Ärmliche Zweckarchitektur, über der sich wie das Dach eines Kirchenschiffs ein glattpolitiertes Holzdreieck spannt. Und auf dieser Bühne dekliniert Pucher brav die Vorlage runter. Erzählt, wie der panische Reverend (dessen Standing in der Dorfgemeinschaft ohnehin prekär ist) die Mädchen einschüchtert, wie die sich nicht mehr zu helfen wissen und erst die Migrantin Tituba der Hexerei beschuldigen und, nachdem sie merken, dass ihnen diese Lüge Macht verleiht, wahllos andere Dorfbewohner, wie ein Gericht eingesetzt wird und Todesurteile vollzogen werden, wie also ein ganzes Dorf in religiösem Fanatismus versinkt.

hexenjagd 6 560 armin smailovic hPuchers Pop-Puritanismus: Sylvana Seddig als Tituba © Armin Smailovic

Das ist toll anzusehen, nicht zuletzt, weil das Thalia-Ensemble so brillant aufspielt wie schon lange nicht mehr. Gabriela Maria Schmeide mit der Bösartigkeit der losgelassenen Spießbürgerin, Jörg Pohl als All-American-Sympathieträger mit angeknackstem Charakter und Herz am rechten Fleck, Kristof van Boven als intellektueller Spaßmacher, hinter dessen lustiger Unbeholfenheit tödliche Gefahr lauert – es ist ein Vergnügen, diesen Schauspielerinnen und Schauspielern zuzusehen, wie sie ein längst kanonisches Stück Wort für Wort ernst nehmen. Es ist nur keine Regieidee.

Außenseiterin, die das Geschehen historisch einordnet

Tituba hat Pucher nicht aus dem Ensemble heraus besetzt, sondern mit der Berliner Tänzerin Sylvana Seddig, die auch für die so reduzierten wie genauen Choreografien des Abends verantwortlich zeichnet. Kluge Entscheidung: Seddig ist eine Außenseiterin, jemand, der nicht in dieses eingespielte Thalia-Team passt, sie spricht eine ganz andere performative Sprache, sie setzt optisch mit einem an eine Mischung aus Raupenfell und Federboa erinnernden Kostüm einen sinnlichen Kontrapunkt zum puritanischen Kleidungs-Graubrot der Dorfbewohner (Kostüme: Annabelle Witt). Zudem kann Seddig so als einzige aus der Rolle treten, sich ans Publikum wenden und das Gesehene historisch einordnen: die religiöse Radikalisierung der puritanischen Dorfbevölkerung, den Wald als Heimstatt des Bösen, die wirtschaftlichen Verflechtungen, die gesellschaftliche Situation im Massachusetts des Jahres 1692. Das ist stimmig, bleibt aber weiter ganz nahe an Miller.

Pucher hat mit "Hexenjagd" wahrscheinlich die konventionellste Regiearbeit seiner Karriere abgeliefert, nachdem seine jüngeren Thalia-Produktionen, zuletzt ein "Tartuffe"-Musical und ein interessant politischer "Warten auf Godot", ein stark schwankendes Qualitätsniveau aufwiesen. Die Sicherheit jedenfalls, mit der er hier ein Theaterstück aus dem Geist der Vorlage heraus entwickelt, überrascht durchaus. Die Popbezüge früherer Pucher-Arbeiten sind fast vollkommen verschwunden, einzig die Kleidung der vorgeblich besessenen Mädchen erinnert an die Fernsehserie "The Handmaid’s Tale", wobei die Kostüme dieser Dystopie selbst auch wieder einen Rückgriff auf puritanische Formen darstellen – der Link zum Pop ist da, aber er ist ein doppelt verschachtelter Link, der nur darüber hinwegtäuscht, dass dieser Abend eigentlich nichts will. Das allerdings auf hochvirtuose Weise.

Fieser, kleiner Song als Selbsterweis

Am Ende ist das Dorf entvölkert, viele Bewohner sind entweder eingesperrt, tot oder abgehauen, eine brutale Theokratie hat sich verfestigt. Pohls Bauer Proctor wird gehängt, dann verdunkelt sich die Szene, und Schlussapplaus brandet auf. Aber Pucher traut sich noch einen Schlussgag: Die Bretterbühne wird zur Showtreppe, und Pohl swingt mit einem fiesen, kleinen Song zurück ins Leben: "There is no God." Ein versteckter Verweis auf Alexander Scheers Rockstar-Othello, den Pucher vor 14 Jahren am benachbarten Schauspielhaus zeigte, dann winkt Seddig ab und erzählt, wie es mit Millers Puritanern weiter ging: Das Regime wurde abgesetzt, tatsächlich gab es sogar Entschädigungen für die Opfer. "Die Theokratie war vorbei." Und Seddig spricht den Schlusssatz mit so viel Distanz, dass man die gute Botschaft nicht glauben mag, gerade weil diese "Hexenjagd" im Grunde ständig zwischen den Zeilen gelesen werden will.

 

Hexenjagd
Von Arthur Miller. Deutsch von Hannelene Limpach und Dietrich Hilsdorf
Regie: Stefan Pucher, Bühne: Barbara Ehnes, Kostüme: Annabelle Witt, Choreografie: Sylvana Seddig, Musik: Christopher Uhe, Video: Meika Dresenkamp, Video-Editor: Rasmus Rienecker, Dramaturgie: Matthias Günther
Mit: Antonia Bill, Kristof Van Boven, Marina Galic, Julian Greis, Irene Kugler, Oliver Mallison, Jörg Pohl, Tim Porath, Toini Ruhnke, Gabriela Maria Schmeide, Sylvana Seddig, Steffen Siegmund, Rafael Stachowiak, Annalena Haering, Fabienne-Deniz Hammer, Meryem Öz, Lilja van der Zwaag
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.thalia-theater.de

 
Kritikenrundschau

"Eine erregte Version von Arthur Millers 'Hexenjagd', die ohne Zwischentöne bleibt", sah Annette Stiekele (Hamburger Abendblatt, 1.10.2018). Die ambitionierte Videoin­stallation von Meika Dresenkamp liefere das Vorspiel und wo "das Video raffiniert mit gegenwärtigen Popästhetiken spielt, bringt die Bühnensituation den Betrachter wieder jäh auf die Erde." Pucher setze auf das Überdrehte, Überspannte, Überzogene, um Mechanismen der Fanatisierung freizulegen. Doch es bleibe bei einer weitgehend einheitlichen hysterischen Tonlage und exaltierten Gesten. Und im Dunkel bleibe damit auch, "wie genau sich eigentlich der Übergang von einer äußeren Normalität zu einer längst verselbstständigten Hetze vollzieht".

Das bildmächtige Vorspiel ist eine Setzung für die gesamte Inszenierung, findet in der Welt (1.10.2018). Pucher vertraue dem glänzenden Text, der eine soghafte Wirkung bis zum Schluss erzeuge – "und er vertraut den fantastischen Schauspielern. Wie sie ihre Charaktere mit unumstößlicher Wahrhaftigkeit darlegen, das ist so bewunderungswürdig wie packend." "Pralles, fesselndes, hochemotionales Theater."

Stefan Pucher lasse die Schauspieler schreien und rotieren wie auf Dauerspeed, so Katja Weise im NDR (30.9.2018). Meisterhaft zeige Arthur Miller wie durch Angst, Druck und Gegendruck Lügen produziert und geschickt genutzt werden, doch dem Text scheint Pucher nicht wirklich zu vertrauen, findet dagegen Weise. "Intensive Augenblicke, in denen das Grauen sich entfalten könnte, lässt er kaum zu" und kleistere mit Geschrei zu, was erschüttern sollte und es gelinge kein wirklicher Zugriff. "Für Ruhe sorgen allein der großartige Jörg Pohl als John Proctor, ein cooler James Dean-Verschnitt, rotzig, ehrlich, verletzlich und Kristof Van Boven als Reverend John Hale. "Wie er die Wandlung zeigt, von einem 'Handlungsreisenden in Sachen Teufelsaustreibung' zu einem den Wahn begrenzen wollenden Kirchenmann, ist beeindruckend. Ihretwegen lohnt der Besuch der Aufführung dann doch."

Stefan Pucher inszeniere den Stoff als konventionelle, fast museale Nacherzählung, in der das erstklassige Ensemble in großen Teilen des Abends zum stereotypen Chargenkabinett verkümmere, schreibt Katrin Ullmann in der taz (5.10.2018). Sie ist irritiert, wie pflichtbewusst ausgerechnet Pucher Millers Drama erzähle, wie nonchalant er Meta-Ebenen auslasse, wie schulterzuckend er auf Gegenwärtiges verzichte. "Nein, es ist nicht nur irritierend. Es ist ermüdend, belanglos und ärgerlich."

 

Kommentare  
Hexenjagd, Hamburg: besser in Bad Hersfeld
Ich sah die 1. Aufführung nach der Premiere. Ihrer Kritik kann ich nicht ganz zustimmen. Es wurde nicht nur "vom Blatt gespielt", sondern auch viel gebrüllt, was auf Kosten des Textverständnisses ging. Ganz unsäglich fand ich das Gehampel von Rafael Stachowiak (Danforth), das mir den 2. Teil verleidet hat. Die vorjährige "Hexenjagd"-Aufführung in Bad Hersfeld fand ich um Längen besser!
Hexenjagd, Hamburg: Avantgardegetue
Weitaus weniger interessant als die Frage, ob Herr Schreiber die Aufführung mag oder nicht, ist die nach seinen Kriterien. Da kann man festhalten:
1. wenn jemand ein Stück inszeniert wie da steht, ist das verwerflich. (Mal abgesehen davon, dass die Aussage so gar nicht stimmt)
2. Schreiber fehlt der Aktualitätsbezug. In der Tat: die Inszenierung macht keine Schlenker zur mee too Debatte, sie expliziert nicht die Bezüge zur AfD und auch nicht zur digitalen Prangermentalität unserer Tage. Aber entscheidet sich daran eine Aufführung? Muss sie die Bezüge, die zum Greifen nahe sind, tatsächlich selbst formulieren?
3. Schreiber lobt das performative Spiel einer Schauspielerin während die anderen nur Figuren spielen. Auch ein interessantes Kriterium. Nämlich keines.

Kritiken kann man so nicht schreiben. No Go. Da setzt sich ein mittelmäßig-schlichtes Avantgardegetue an die Spitze. Und bleibt in seiner Schlichtheit leider spiessig.
Hexenjagd, Hamburg: erschütternd
Hexenjagd (Thalia Theater 26.5)
Stefan Pucher vertraut auf Arthur Millers „Hexenjagd“ und inszeniert das Stück eng am Text. Pucher wäre aber nicht Pucher, wenn Videoinstallationen fehlen würden. So beginnt der Abend mit einem düsteren, gespenstisch poppigen Video eines ekstatischen Tanzes der Mädchen von Salem im Wald gedreht von Meika Dresenkamp. Einer der beeindruckendsten Momente dieser Inszenierung. Pucher inszeniert das Stück ungewohnt konventionell und schafft einen emotional beeindruckenden Abend. Puchers Konzept ist das Überdrehte und Überspannte, um die Mechanismen der Fanatisierung deutlich zu machen. Pucher baut dabei auf fantastische Schauspieler (w/d/m), die fesselndes, hochemotionales Theater liefern. Die Schauspieler (d/w/m) wirbeln kreischenden, ekstatisch wie auf Droge durch den Abend und zeigen, wie Angst und Druck, Lügen produzieren und die Theokratie stützen. In ihrer fanatischen, hysterischen Emotionalität überzeugen Antonia Bill als Abigail Williams, Fabienne-Deniz Hammer als Betty Parris, Lilja van der Zwaag als Susanna Wallcott und Toini Ruhnke als Marry Warren. Jörg Pohl als John Proctor, ein cooler All-American-Verschnitt, rotzig, ehrlich, verletzlich mit dem Herz am rechten Fleck ist großartig und Kristof van Boven als Reverend John Hale ein Teufelsaustreiber auf dem Weg zum Hexenwahn begrenzenden Kirchenmann, hinter dessen Unbeholfenheit tödliche Gefahr lauert. Sylvana Seddig als Migrantin Tituba ist ein weiterer Höhepunkt dieses Abends. Sie die Fremde, die Andersartige kommentiert immer wieder das Geschehene. Sie als Analystin erläutert die Mechanismen der Theokratie und ihre fatalen Auswirkungen. Vermehrte Videoeinspiellungen im Sinne des Stückbeginns hätten dem Abend sicher ein noch düsteres Bild verliehen und die Gefahren des Fanatismus noch bedrohlicher erscheinen lassen; dennoch ein beeindruckender Theaterabend durch ein Ensemble, das alles gibt und gefangen nimmt. Hexenjagd macht deutlich, wie zu jeder Zeit Fanatismus um sich greifen kann. Wie Angst, Massenwahn, Denunziation und Gesinnungsschnüffelei zum Missbrauch politischer Macht genutzt werden können. Somit ist Millers „Hexenjagd“ aktuell und es bedarf keiner aktuellen Bezüge, um zu erkennen, wie erschütternd heutig dieses Thema ist.
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