Der Elefantengeist - Das Helmut-Kohl-Stück von Lukas Bärfuss hat im Nationaltheater Mannheim Sandra Strunz uraufgeführt
Spurensuche im Kanzlerbungalow
von Elisabeth Maier
Mannheim, 29. September 2018. Keine zehn Kilometer Luftlinie entfernt von Oggersheim, dem Heimat- und Sterbeort von Alt-Bundeskanzler Helmut Kohl, ist jetzt am Nationaltheater Mannheim eine wütende Abrechnung mit dem als Stifter der deutschen Einheit oft verherrlichten CDU-Politiker zu sehen. Den distanzierten Blick auf die deutsche Polit-Ikone wagt der Schweizer Dramatiker Lukas Bärfuss in seinem Auftragswerk, das jetzt in der Regie von Sandra Strunz uraufgeführt wurde.
Schockterapie mit Saumagen
Buh-Rufe und Jubel hielten sich am Auftaktwochenende des neuen Schauspielintendanten Christian Holtzhauer die Waage. Die Konsequenz, mit der Bärfuss Helmut Kohl vom Sockel stößt, ließ manche Zuschauer fassungslos zurück. Ein gutes Jahr nach dem Tod des CDU-Politikers, der im Juni 2017 starb und eine zerstrittene Familie hinterließ, ist "Der Elefantengeist" vor allem eine erhellende Schocktherapie. Die Diskussionen, die Holtzhauer und sein Team in Mannheim lostreten, versprechen an der zweitgrößten Bühne Baden-Württembergs ein vielstimmiges Theater, das den Diskurs nicht scheut.
In seinen fünf Jahren als künstlerischer Leiter befreite der ehemalige Dramaturg des Staatstheaters Stuttgart das Kunstfest Weimar aus der Ecke des Elitären. Dem engen Kulturbegriff seiner Vorgängerin Nike Wagner setzte er ein Festival entgegen, das sich der Stadt öffnete. Das Mannheimer Abo-Publikum konfrontierte er zur Eröffnung seiner Intendanz mit einer radikal unpathetischen Inszenierung von Schillers (in Mannheim uraufgeführtem Stück) Die Räuber. Hausregisseur Christian Weise versetzte die Handlung ins Altenheim einer brasilianischen Kolonie und zertrümmerte gängige Räuber-Klischees.
Gestohlene Macht
Mit ihrem Helmut-Kohl-Projekt dekonstruieren Autor Lukas Bärfuss und die Regisseurin Sandra Strunz den so genannten "Kanzler der Einheit", der nach der Spendenaffäre zurücktreten musste. Nebel steigt über der Bühne auf, als ein Forscherteam die öden Überreste der ehemaligen BRD-Hauptstadt Bonn betritt. Sie begeben sich auf Spurensuche im Kanzlerbungalow, der in Sabine Kohlstedts wüstem Bühnenbild nur noch eine Ruine aus Holz und Plastik ist. Dort wollen sie erforschen, was die Menschen in der Zeit vor der "Großen Einsicht" bewegte.
Obwohl Kohl als Person nicht auftritt, eignet sich Matthias Breitenbach in der Rolle des Expeditionsleiters Dr. Matthias die Machtbesessenheit des Politikers an, der in seinem Zuhause in Rheinland-Pfalz die Mächtigen der Welt mit Saumagen bewirtete. Im Diskurs mit seinen Forschern liefert er eine Analyse des Altkanzlers, die den Mythos von dessen biederer Volkstümlichkeit in Frage stellt. "Seine Macht war gestohlen von den Geschundenen, den Versklavten, den Ermordeten. Sie haben es mit ihrer Gesundheit, mit ihrem Leben bezahlt", sagt Martin Weigel alias Dr. Martin. Bärfuss untersucht im Stück die Verflechtungen des Altkanzlers mit Mächtigen der Nazizeit und mit der Rüstungsindustrie.
Auf den Trümmern der Geschichte
Die Spieler tragen ihre eigenen Namen, fallen aus der Rolle und lassen das Publikum an ihrer persönlichen Sicht auf die Akte Kohl teilhaben. Besonders schön gelingt das Johanna Eiworth, die mit blonder Perücke und Stöckelschuhen als täuschend echtes Ebenbild der Kanzlergattin Hannelore aus einem Erdloch schlüpft. Obwohl die zierliche Spielerin die Frau an der Seite des Mannes mit dem Elefantengedächtnis erfrischend frech auf die Schippe nimmt, meißelt sie doch deren tragisches Schicksal heraus. Der Mann, der die Hebel der Macht in Händen hielt, musste mit dem Suizid seiner Frau ebenso fertig werden wie mit dem Hass der eigenen Söhne.
Sandra Strunz, die den Schweizer Autor Bärfuss seit langem kennt und die den Anstoß zu dem Stück über den Alt-Kanzler gab, übersetzt die Sprünge in der Seele der Menschen in eine bemerkenswerte Choreografie, die Bärfuss' bisweilen mit Fakten überladenem Text die Schwere nimmt. Hilflos tanzen die Akteure auf den Trümmern der Geschichte. In ihren Träumen fließt ruhig der Rhein. Atmosphärisch dicht setzt Strunz die deutsche Geschichte in Szene, die der Tod des Alt-Kanzlers im vergangenen Jahr ins kollektive Gedächtnis rief.
Sinnliche Seelenbilder
Karsten und Rainer Süßmilch greifen bei ihrer Musik tief in die Kiste der Populärkultur. Selbst die Erkennungsmelodie von Nachrichten bekommt so eine besondere Dramatik. Am Ende sitzt Kohls alter ego Dr. Matthias mit schriller Goldkrone und Hornbrille im Rollstuhl. Zur Tatenlosigkeit verdammt, sieht der gestürzte Machtmensch zu, wie ihm die Karrieristin Dr. Viktoria als höchst subversiver Merkel-Verschnitt das Amt und das letzte bisschen Ehre aus den Händen reißt. Mit der toten Hannelore und einer schwarzen Witwe bildet sie am Schluss eine tödliche Front auf der Trümmer-Bühne.
Wer bei der Kohl-Premiere in Mannheim einen Skandal erwartet hatte, sah sich enttäuscht. Die poetische Kraft, die Lukas Bärfuss zu einer der stärksten Stimmen seiner Autorengeneration machen, geht im "Elefantengeist" bisweilen in einer gar zu bitteren Abrechnung mit Kohl und seiner brutalen Machtpolitik unter. Das temperamentvolle Ensemble haucht den vom Ballast der Zeitgeschichte erdrückten Figuren eine Leichtigkeit ein, die einen unverstellten Blick auf ihre menschliche Seite möglich macht. Sandra Strunz' sinnliches Theater der Seelenbilder offenbart die tragische Fallhöhe der Figuren, die jenseits allen Grolls in jedem Satz von Bärfuss' Geschichtstheater mitschwingt.
Der Elefantengeist
von Lukas Bärfuss
Uraufführung
Regie: Sandra Strunz, Bühne und Kostüme: Sabine Kohlstedt, Licht: Wolfgang Schüle, Dramaturgie: Kerstin Grübmeyer, Musik: Karsten und Rainer Süßmilch.
Mit: Laszlo Branko Breiding, Matthias Breitenbach, Johanna Eiworth, Eddie Irle, Jacques Malan, Viktoria Miknevich, Martin Weigel.
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause
www.nationaltheater-mannheim.de
Die wohl kühnste Politgroteske der letzten Bühnenjahre sei Lukas Bärfuss' Stück, so in der Neuen Zürcher Zeitung (1.10.2018). Bärfuss lasse den untoten Geist von Helmut Kohl in eine Gruppe von sieben Archäologen aus der Zukunft fahren. "Papa Kohl, so seine These, habe seine Friedens- und Europapolitik auf dem Rücken der Opfer der Nazidiktatur ausgetragen. Nun ja." Wären nicht die Regie von Sandra Strunz und das Ensemble, "die wenigstens dem zweiten Teil des Abends mit kessen Spielsituationen vom Papier auf die Bühne und ins Leben helfen, wer weiss: Bärfuss könnte sich mit seiner wirkungsblinden Polemik gegen lebende und verstorbene Personen selber ramponiert haben." Strunz habe das Talent, noch aus konstruierten Vorgängen Spielanlässe zu machen. Den ersten Tiel des Abends könne man sich schenken, "Doch von bemerkenswerter Präsenz sind nach der Pause vor allem die Schauspieler, endlich sind sie Figuren."
Die Hypothesen von Bärfuss über Helmut Kohl, in einer "witzlos zusammengezimmerter Science-Fiction-Rahmenhandlung", haben keinen Neuigkeitswert, kritisiert Patrick Bahners in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (1.10.2018). Der Witz, Hannelore Kohl statt "Hypothesen" zunächst "Hypotheten" sagen zu lassen, sei nicht nur ein billiger, sondern ein falscher Lacher, und "so schäbig wie dieser Einfall ist das ganze vom neuen Mannheimer Intendanten in Auftrag gegebene Machwerk". Die Möglichkeiten des Theaters, eine plausible Geschichte plausibler zu machen, nutze Bärfuss nicht. Scharfes Fazit von Bahners: "Dieser Theaterabend ist peinlich, plump und selbstgerecht, taktlos, maßlos und formlos: eine einzige endlose Gewalthaberei. Und nichts davon geht aufs Konto von Helmut Kohl."
Bärfuss' poetische Polemik erliege nie der Gefahr, in eine vordergründige Sketchparade zu verfallen, findet dagegen Volker Oesterreich in der Rhein-Neckar-Zeitung (1.10.2018). Die Regisseurin nehme das Raunende und Mythisch-Dunkle des Stoffs sehr ernst, verhalte sich durch und durch werkgetreu und "beweist bei den teils tänzelnden Auftritten ihres vorzüglichen Ensembles ein feines choreografisches Gefühl." Und sie habe ein Händchen für den parodistischen Witz. "Die starken Bilder des Abends wer-
den in Erinnerung bleiben. Nachinszenierungen dürften nicht lange auf sich warten lassen."
Man könne Kohl so sehen, aber "verwunderlich, dass Bärfuss ausgiebig gegen Kohls Parteispenden-System wettert, für seine intellektuelle Unzulänglichkeit und die rettende, ihm in den Schoß fallende Wiedervereinigung aber überhaupt keinen Blick hat", findet Christian Gampert auf DLF (30.9.2018) Regisseurin Sandra Strunz nutze optisch und akustisch ein paar klare Signale, aber ungenutzt bleibe die Chance, "bundesrepublikanische Geschichte als desaströses Familien-Requiem zu erzählen. Nur ganz selten kommt es dazu."
Sandra Strunz bringe "Bärfuss' kritisch-böse Politparabel in einen herrlichen Schwebezustand", schreibt Dietrich Wappler in der Rheinpfalz (1.10.2018). "Ganz leicht und spielerisch vollzieht sich dieser Übergang von Menschen und Zeiten." Der "faktenreiche Text" von Bärfuss dürfe "seine Erkenntnisse von Flick-Affäre bis Kohl-Ehrenwort ausbreiten und dabei Verbindungen von den Nazi-Verstrickungen der Großindustrie bis zu den schwarzen Kassen der CDU ziehen, aber das passiert alles ohne den erhobenen Zeigefinger eines Dokudramas".
"Die parabelhafte Erzählweise funktioniert, weil das Stück bei aller Ernsthaftigkeit und Schärfe stets unterhaltsam bleibt, und schon zur Pause Diskussionen auslöst", lobt Jörg-Peter Klotz im Mannheimer Morgen (1.10.2018). Sandra Strunz mache aus der Vorlage eine "regelrechte Spielwiese für Schauspieler". Die Akteure "dürfen tanzen, singen, blödeln, turnen, küssen, kabarettistische Pointen setzen und deklamatorische Kurz-Monologe halten".
"'Der Elefantengeist' ist kein Dokudrama, sondern eine fiktional gerahmte Abrechnung mit dem Kanzler der Einheit, so Jürgen Berger in der Süddeutschen Zeitung (4.10.2018). "Bärfuss nutzt eine Abenteuerdramaturgie, wie man sie aus dem Ägypten-Thriller 'Die Mumie' kennt, um seinen gerechten Zorn dramatisch einzukleiden."
"Das Ganze fügt dem Bekannten nichts Neues hinzu und liest sich eher wie ein verdichtetes Schuldenregister", schreibt Shirin Sojitrawalla in der taz. "Sandra Strunz dehnt das Stück im Mannheimer Schauspielhaus auf zweieinhalb Stunden, die es nicht braucht." Hannelore Kohls Leben werde zum Blondinenwitz herabgewürdigt. Das sei nur schwer auszuhalten und widerspreche dem von Lukas Bärfuss vorab geäußerten Desinteresse an Karikaturen aufs Banalste. "All das, was bei Bärfuss im Ungefähren wabert, konkretisiert sich auf der Bühne nicht zu seinem Vorteil. Nach zweieinhalb Stunden hat man das Gefühl, die Erdenschwere der Kohl-Jahre noch einmal am eigenen Leib durchgestanden zu haben. War das die Idee?"
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Auch Ihr Punkt, Elisabeth Maier, Christian Weise hätte "Erwartungen enttäuscht - und das ist ein kluger Zug" -ist herrlich! Worum geht es denn: eben darum, seine eigene Rezeption und die eines anderen abzugleichen und zu diskutieren und stehen und gelten lassen zu können..und sich sogar daran zu bereichern.
Chapeau zum Mut, in unmittelbarer Nähe zum noch nicht lange verstorbenen "Hauptdarsteller" ein solches Schauspiel zu inszenieren. Auch die Darsteller haben das eigentlich Unglaubliche bravourös erzählt und greifbar bewiesen, dass die Niederrungen der Macht und deren Erhalt niemals aussterben werden.