Schwarze Löcher der Aufmerksamkeit

von Esther Slevogt

2. Oktober 2018. Lokaljournalisten, das waren auch einmal Figuren aus dem bürgerlichen Heldenleben. Sie stellten Öffentlichkeit für das unmittelbar Benachbarte her, schauten Lokalpolitikern auf die Finger, untersuchten örtliche Skandale, schrieben über Missstände im Kreiskrankenhaus, Wohltätigkeitsbasare, Sport- und Schützenfeste oder Kulturveranstaltungen vor Ort. Konzerte des Kirchenchors zum Beispiel, und Aufführungen des örtlichen Theaters natürlich auch. Auf den Anzeigenseiten der Lokalblätter gab es Werbung lokaler Geschäftsleute und zwischendurch standen Todes- und Familienanzeigen.

Verwaisender Marktplatz von Meinung und Mitsprache

Der Lokaljournalismus sei die Säule der Demokratie schreibt die Bundeszentrale für Politische Bildung in einem Dossier zum Thema. Lokaljournalismus berichte aus den kleinsten Einheiten des föderalen Gefüges in diesem Land. In dieser untersten Ebene sei auch am ehesten Teilhabe möglich. Ergo: "Städte und Kommunen sind die Basislager der Demokratie." Und die Lokalberichterstattung der Marktplatz von Meinung und Mitsprache. Das liest sich gut, ist aber eher ein Nachruf. Denn der Lokaljournalismus stirbt. Immer weniger Zeitungen leisten sich noch gut besetzte und arbeitende Lokalredaktionen. Lokale Kulturberichterstattung noch weniger.

kolumne 2p slevogtInzwischen gibt es Regionen, da berichtet überhaupt keine Zeitung mehr über das unmittelbare Geschehen in der Umgebung, über Kulturveranstaltung oder die Lokalpolitik. Da ist der Lokaljournalismus also schon tot. Die Leute erfahren in Sekundenschnelle per Pushnachricht über Tsunamis in Asien, Terroranschläge in Afghanistan, Trumps neuesten Tweet oder den letzten Post von Kim Kadashian oder Beyoncé auf Instagram. Was in der unmittelbaren Nachbarschaft oder ihrer Kommune geschieht, erreicht so leicht keine Öffentlichkeit mehr. In den schwarzen Löchern der Aufmerksamkeit, die auf diesem Wege entstehen, wuchern dann schnell die gefühlten Wahrheiten.

Vom Leben in virtuellen Communities

Keine Klicks, keine Leser, kein Geschäftsmodell, sagt M., freier Kulturjournalist in NRW, den ich neulich bei einer Veranstaltung traf, wo es mal wieder um die Zukunft des Journalismus ging. Das hört er von Restredakteur*innen früherer Auftraggeber, die ihn nur noch selten beschäftigen. Weil sie das bisschen, das in ihren Zeitungen noch steht, selbst verfassen müssen. Wer außerdem will schon Berichte über Konzerte des Kirchenchors oder einer örtlichen Bürgerbühne lesen. Wen interessiert, ob die Schule renoviert, ein Unfallschwerpunkt in der Stadt entschärft wird? Was keinen Marktwert hat, darüber wird nicht mehr berichtet, wie es scheint. Wahrscheinlich interessiere es ja nicht mal die Politiker mehr.

Die Leute leben heute in virtuellen Communities, sagt M., und nicht mehr in ihren Kommunen. Dort bleiben dann nur noch die digital Abgehängten übrig, die an keinen öffentlichen Diskurs mehr angeschlossen sind. M. denkt darüber nach, einen Blog zu eröffnen. Bloß wie er damit seinen Lebensunterhalt bestreiten soll, weiß er nicht. Und die digital Abgehängten kann er so ohnehin nicht erreichen.

In der Kleinstadt, aus der er kommt, gibt es einen Bäcker, erzählt er dann. Der bringt jetzt in Eigenregie ein Infoblatt über seinen Stadtteil heraus, das man beim Brötchenkauf erwerben kann. Das erinnert M. ein bisschen an das, was er früher im Geschichtsunterricht über Samisdat gelernt hat: in Selbstverlagen publizierte Untergrundzeitungen und -literatur in der Sowjetunion oder anderen Ostblockstaaten vor 1989. Kommen wir da jetzt langsam wieder hin? Im Jahr 29 nach dem Fall der Mauer? M. schweigt betreten. Ich schweige auch.

 

Esther Slevogt ist Redakteurin und Mitgründerin von nachtkritik.de und außerdem Miterfinderin und Kuratorin der Konferenz Theater & Netz. In ihrer Kolumne Aus dem bürgerlichen Heldenleben untersucht sie: Was ist eigentlich mit der bürgerlichen Öffentlichkeit und ihren Repräsentationspraktiken passiert?

 

Zuletzt schüttelte Esther Slevogt den Kopf über die Hysterisierung der Stadttheater-Diskussion.

 

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Kommentare  
Kolumne Slevogt: Umkehrung des Nachrichtenweges
Nach meiner Beobachtung ist der Lokaljournalismus inzwischen weitestgehend zunächst ausgelagert worden in die den Lokalzeitungen angeschlossenen Werbeblätter (in Nachbarschaften von liebevoll bis verächtlich z.B. "Wurschtblätter" oder "Umsonstzeitungen" genannt, soweit ich höre). Hier wurde bis vor einigen Jahren in der Tat noch über Laientheaterveranstaltungen, Kirchenkonzerte, Veranstaltungen von Bürgerinitiativen und dergleichen berichtet. Inzwischen sind aber auch diese Blätter von den so eingeworbenen Anzeigen-Kunden als reine Werbeblätter eingenommen. Es ist inzwischen ledilich nicht wie bei den großen Mutter-Blättern, die mit dem einstigen Lokaljournalismus für sich Kunden in der Region gewinnen und binden wollten, das überegional agierende Möbelhaus oder der namhafte Autohersteller, der in ihnen wirbt, sondern ganzseitig der Fachanwalt, der Event-Bauern"hof", der gar kein Hof mehr ist, sondern landwirtschaftlicher Großbetrieb usw. - Dass hier ein Bäcker den Anfang macht, wird m.E. weiter umsichgreifen: die Nachricht von der Privatagentur Ihres Vertrauens, die kleiner gebackenen Medienbrötchen, die dem herausgebenden Bäcker Kundschaft sichern - Alles in allem eine Umkehrung des Nachrichtenweges: Die Nachricht nicht als tägliches Brot, sondern das tägliche Brot als Nachricht? Danke für den interessanten Erfahrungsbericht aus wohl eher antiheldischen Journalistenkreisen...
Kolumne Slevogt: aktuelle Studie
Hier eine interessante aktuelle Studie der Universität Trier zum Thema

Forscher der Universität Trier legen Ergebnisse der größten jemals durchgeführten Studie zu deutschen Lokalteilen vor. Und können einige Vorwürfe widerlegen.

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