Vereint im Widerstand

von Sophie Diesselhorst

Berlin, 3. Oktober 2018. Am Ende löst der Chor sich auf in eine tanzende Menge: "patriotische Disko". Die 50 Laien- und professionellen Schauspieler*innen, die davor eine knappe Dreiviertelstunde lang mit höchster Konzentration das deutsche Grundgesetz als Oratorium für Chöre und Solostimmen dargeboten haben, wirbeln durcheinander und werden unübersichtlich wie die Wäsche im Schleudergang. Vorher boten sie ein fast altmodisch Benetton-Werbungs-streberhaftes Panorama der Diversität, einen äußerlichen Querschnitt durch die real existierende deutsche Gesellschaft: alt, jung, mit und ohne Behinderung, mit gebrochenem oder fließendem Deutsch, of all genders and colours.

Wie immer in ihren chorischen Inszenierungen stand Regisseurin Marta Górnicka als Dirigentin mit dem Rücken zum Publikum, in diesem Fall bestehend aus Schaulustigen im Bratwurstdunst der Fressmeile auf der Straße des 17. Juni, auf der Westseite des Brandenburger Tors, wo die Buden zur Einheits-Feierlichkeit aufgebaut waren.

Hochpolitischer Kommentar

Normalerweise sieht man Dirigent*in und Ensemble nur in symphonischen Konzerten als Protagonisten zusammen auf der Bühne: In diesem Ritual steht der "Klangkörper" im Zentrum, zu dem in ihrem Dialog viele einzelne Stimmen verschmelzen. Den Gänsehauteffekt, den das haben kann, rufen in einzelnen Momenten durchaus auch Marta Górnickas Inszenierungen hervor, etwa wenn in "Grundgesetz" der gesamte große Chor "Die Würde des Menschen ist unantastbar" donnert. Doch geht es bei Górnicka eben auch immer darum, den Chor, das Ensemble, hier: "das Volk" klar zu sehen in seiner diversen Zusammensetzung, die Unterschiede, auch die stimmlichen, deutlich hörbar zu machen, nebeneinander stehen, einander ergänzen zu lassen. Zu demonstrieren, dass sie nicht eingeebnet werden müssen, damit die Gemeinschaft funktioniert. Ein hochpolitischer Kommentar zum "Tag der deutschen Einheit".

Grundgesetz 1 560 UteLangkafel Maifoto uEin diverser Chor © Ute Langkafel Maifoto

"Grundgesetz", vom Maxim Gorki Theater in Auftrag gegeben, basiert auf Górnickas Inszenierung "Konstytucja", in der sie die polnische Verfassung auf ähnliche Weise vortragen ließ. Jene Verfassung, die, von den regierenden Rechtspopulisten der PiS bereits heftig angegriffen und teils schon unterminiert, im kommenden November in einer Volksabstimmung zur Disposition gestellt werden soll. Soweit ist es in Deutschland noch nicht, trotzdem ruft Górnicka auch hier in Erinnerung, dass einiges, was das am 3. Oktober 1990 auf die damit ehemalige DDR ausgeweitete Grundgesetz enthält, im Moment schon keine selbstverständliche Setzung mehr ist: "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht" zum Beispiel – da wird im Publikum sogar applaudiert, abgesehen davon gibt es wenig unmittelbare Reaktion.

Die Union summt

In ihrem Libretto hat Marta Górnicka den Gesetzestext auf den großen Chor, Unterchöre und einzelne Sprecher*innen aufgeteilt, die durch ihr Dirigat nur dann unverständlich werden, wenn das so sein soll, wenn zum Beispiel die Europäische Union zu einem aufgeregten Durcheinander-Summen wird. Einzelne Phrasen oder Sätze werden herausgehoben und geloopt. Gleich zu Anfang bleibt der Chor auf dem Wort "Frieden" hängen und beschwört es in der Wiederholung.

Die Aufführung wird live gefilmt, auf zwei Videoleinwänden sieht man die einzelnen Sprecher*innen oder Górnicka, wie sie auf ihrem Podest federt und mit den Fingern die Wiederholungen abzählt oder präzise Einsätze gibt. Im Hintergrund der Bühne auf dem Brandenburger Tor das Bild einer Menschenmenge, die die Mauer freudig stürmt – vorne auf der Mauer, also auf der West-Seite, steht "Freedom". Górnicka und ihr Chor halten sich diese platte Kulisse und das – speziell in diesem Kontext – so zerbrauchte Wort "Freiheit" vom Leib, indem sie es pathetisch überdehnen, opernarienmäßig schmettern oder gar in einer kleinen Show-Einlage David Hasselhoff mit seinem "Looking for freedom"-Auftritt von 1989 parodieren.

Widerstand als Bürgerrecht © Sophie Diesselhorst

Sonst schreitet die Inszenierung fokussiert im Gesetzestext voran. "Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand", dieser Satz wird gegen Ende im Crescendo von immer mehr Chorist*innen gesprochen, und Górnicka dreht sich zum Publikum und fordert es dazu auf einzustimmen und mitzumachen beim "chorischen Stresstest", so der Untertitel der Inszenierung. "Indem wir das Grundgesetz einem Stresstest unterziehen, messen wir die maximale Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit der grundgesetzgebenden Wörter", sagt Górnicka dazu in einem "Artist's statement". Tatsächlich wird es immer wieder heikel, vor allem wenn es in einem derart diversen und damit chancen-ungleichen Ensemble an die Artikel geht, die die Gleichheit aller vor dem Gesetz behaupten. Doch in ihrem Grundton ist die Performance affirmativ in ihrer dringenden Empfehlung zur Rückbesinnung aufs GG, präsentiert es als geltenden Gesellschafts-Wert, der trotzdem verteidigt werden muss, gegebenenfalls eben durch den Widerstand des Einzelnen.

Pauken und Trompeten

Die "patriotische Disko" am Ende wird am 3. Oktober 2018 ganz bestimmt von allen, die mit dem Stichwort Diversität ohnehin nicht soviel bis gar nichts anfangen können, schnell und mühelos als Selbstfeier einer neoliberal eingebetteten Multikulti-Großstadt-Elite abgestempelt – aber im Gefüge der Gesamtinszenierung hat sie ihren wuchtigen Hintersinn. Eben noch haben die Performer*innen sehr deutliche Worte gesprochen, alle einzeln zusammen. Wenn sie sich direkt danach, übergangslos mit ihren jeweiligen Besonderheiten in der eigenen Menge verlieren, die sogar die rot-weiß uniformierten Fanfarenträger*innen schluckt, die das Spektakel mit Pauken und Trompeten eröffnet und atmosphärisch vorm Brandenburger Tor eingebettet haben: Dann sind sie für einen Moment plötzlich wirklich das Volk.

 

Am 19. Oktober gibt es ein Nachgespräch zur Performance am Brandenburger Tor mit Marta Górnicka im Maxim-Gorki-Theater.

 

Grundgesetz
von Marta Górnicka
Bühne: Robert Rumas; Komposition: Polina Lapkovskaja; Konzept Choreographie: Anna Godowska; Choreographie Berlin: Tomasz Wygoda; Kostüme: Isabell Reisinger; Dramaturgie: Aljoscha Begrich, Mitarbeit Dramaturgie / Casting Chor: Julia Büki; Recording & Liveschnitt: Jesse Jonas Kracht.
Mit: Maryam Abu Khaled, Emre Aksızoğlu, Abd-Almalek Arabo, Tamer Arslan, Elmira Bahrami, Christian Behrend, Mareike Beykirch, Wera Bunge, Karim Daoud, Saro Emirze, Aylin Esener, Hala Faisal, Tahera Hashemi, Björn Hauke, Katrin Heller, Lénárd Kókai, Mai-Phuong Kollath, Léonie Kurtz, Thibaud Kurtz, Lindy Larsson, Mariette Morgenstern-Minnemann, Nika Mišković, Jasmina Musić, Magda Roma Przybylska, Soraya Reichl, Mathis Reinhardt, Tucké Royale, Filip Rutkowski, Abak Safaei-Rad, Elena Schmidt, Marie-Carlotta Schmidt, Nathalie Seiß, Sandra Selimović, Simonida Selimović, Zora Schemm, Helena Simon, Johanna Skirecki, Peter Sondermann, Fatima Taih, Hasan Taşgin, Füsun Türeli, Volkan Türeli, Linda Vaher, Annika Weitzendorf, Rika Weninger, Dusty Whistles, Paul Wollin, Mehmet Yılmaz sowie Berliner Fanfarenzug e.V. und SG Fanfarenzug Potsdam e.V.
Dauer: 45 Minuten, keine Pause

www.gorki.de

 

Trailer


Kritikenrundschau

"Wie schön ist unser Grundgesetz! Wie poetisch, kraftvoll, weise!" ruft Georg Kasch in der Berliner Morgenpost (online 3.10.2018) im Anschluss an diese Aufführung aus. Górnickas Chor sei bereits "die halbe Miete", denn er versammele "in Deutschland Geborene und Geflüchtete, mit Trisomie 21 und Kopftuch, Roma und Trans-Menschen, aus Ost und West" und repräsentiere damit anders "als aktuelle 'Wir sind das Volk'-Rufer" wirklich "die gesamte Gesellschaft".

"Ein starkes Stück, dieser Gesetzestext, und zugleich fragil – ja, die von Marta Górnicka machtvoll in Szene gesetzten Protagonistinnen und Protagonisten wecken das Verlangen, dieses Wertewerk zu verteidigen gegen seine Gegner", schreibt Elena Philipp für die Deutsche Bühne online (4.10.2018).

Kommentare  
Grundgesetz, Berlin: Optimismus
Vielleicht ist die erstaunlichste Erkenntnis dieser wohl einmalig bleibenden Arbeit (auf der vergleichsweise kleinen Gorki-Bühne ließe sich das auch kaum reproduzieren), wie stark, wie aussagekräftig, wie relevant diese Worte noch heute sind. Wie viel sie von dem Land in sich tragen, für das die, die – hoffentlich zu Recht – behaupten, sie seien mehr, auf die Straße gehen, und das jene, die heute "Wir sind das Volk" grölen sich so vehement distanzieren. Ein paar Meter entfernt von dem Ort, an dem heute eine offen rechtsextremistische Partei die größte Oppositionsfraktion stellt und an dem ihre ideologischen Vorgänger einst den deutschen Parlamentarismus abschafften, ist das ein starkes Zeichen: Das Land, welches das Grundgesetz zeichnet, ist ein vielfältiges, inklusives, Willkommen heißendes, die Verfassung kein totes Stück Papier, sondern eine Aufforderung, ein Anspruch, eine optimistische Vision.

Die, auch das verschweigt Górnicka nicht, unter Druck ist. Immer wieder bleibt der Text stecken, hängt sich an einzelnen Wörtern auf, wiederholt sie, dehnt und rhythmisiert sie, lässt sie an- und abschwellen. "Alle Deutschen" wird zum wütenden Fanal, das "Wir" in der Beschreibung der demokratischen Staatsform, erstirbt, das "Union" im EU-Artikel steigt vielstimmig empor als dem Geleier einer längst vergessenen Vision. "Dem Frieden", dem die Verfassung dienen solle, wandert vielstimmig durch die Reihen, die "Verantwortung vor den Menschen" wird zum trotzig untergründigen Rhythmus, den Anspruch des Textes ambitioniert grundierend. Der Ruf nach Freiheit schwillt an, wie er es an dieser Stelle schon einmal tat, während das mannigfach wiederholte Wort "Würde" den Takt angibt. Gruppen bilden sich, Menschen vereinzeln sich, treten dann hervor, um am Ende wieder die einheitliche Linie des Beginns zu bilden. Einheit aus der Vielfalt, Stärke aus der Unterschiedlichkeit. Lindy Larsson singt "Love will tear us apart", Dusty Whistles "I've been looking for freedom". Kleine ironische Gesten, andeutend, dass das hier Erzählte nicht sakrosankt ist, hinterfragbar bleibt, ja in Frage gestellt werden muss, damit es lebt und kein toter Buchstabensalat wird.

Ohne Zweifel: Marta Górnicka hat schon viel stärkere Abende abgeliefert, in denen das Wort zum Material wurde, zu Musik und Gewalt, Rhythmus und Melodie, Angriff und Bekenntnis. Und in denen der Chor zum lebendigen Organismus reifte, sich ballte und vereinzelte, Waffe wurde und Instrument der Selbstbehauptung, Kollektiv und Individuum. Bei Grundgesetz ist ihr Instrumentarium sehr eingeschränkt, der Auftritt weitgehend statisch. Hier spricht der Chor, aber er lebt nicht, transformiert sich nicht, wird nicht zu mehr als ein vielstimmiges Sprechwerkzeug. Die Choreografien sind minimal und wirken meist eher alibihaft, die Interaktion, die Górnickas Chöre sonst auszeichnet, findet nicht statt. Und der ärgerliche Schluss, in der sich das zuvor Verhaldelte im kollektiven Tanz einer "patriotischen Disko" wohlfeil ironisch auflöst, wäre im Gorki auch kaum denkbar. Das ist sicher dem Ort geschuldet und dem Publikum, dem Wunsch, sich auch dem weniger interessierten Bürgerfest-Besucher zu öffnen. Aber auch dem Text, den Górnicka sprechen lassen und hörbar machen will. Hier, am historischen Ort, im öffentlichen Raum, ist dies eben doch viel mehr als Theater. Es ist die Rückeroberung eben dieses Raums durch ein lebendiges Dokument, das diesen Raum jeden Tag möglich macht und mit ihm dessen ständige Erweiterung, wie sie die Diversität auf dieser Bühne mehr als andeutet. Ein Dokument, das keinen Stresstest bestehen, sondern weiter dafür sorgen muss, dass dieser Raum bestehen bleibt. Ein Test, der täglich an seine Grenzen kommt. Und eine Mahnung an jene, die diesen Raum einschränken wollen.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2018/10/04/test-bestanden/
Grundgesetz, Berlin: Stolz
Natürlich wird der Text, den die Väter und wenigen Mütter des Grundgesetzes 1948/49 erarbeitet haben, nicht einfach frontal vorgetragen, sondern durch Verfremdungstechniken kritisch befragt und abgeklopft: Wenn die sehr divers zusammengesetzte Gruppe der Performer*innen die beiden Wörter „Alle Deutschen“ in den Artikeln 8,9,11 und 12 derart überbetonen, steht zwangsläufig die Frage als Elefant im Raum, wie es mit den Migrant*innen aussieht. Die Asylrechts-Garantie in Artikel 16a wird sooft entschlossen und lautstark wiederholt, bis auch der letzte Besucher ins Grübeln kommt, wie es um die Flüchtlingspolitik bestellt ist und welche Auswirkungen der Asylkompromiss von 1993 hatte, der den so klaren Satz „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ mit zahlreichen Einschränkungen und Fußnoten ergänzte.

Ironisch aufgebrochen wird das Chorprojekt durch eine kurze David Hasselhoff-Parodie, der 1989 an dieser Stelle „Looking for freedom“ sang, oder durch taumelnde, untergehakte Gestalten, die „BRD.de“ skandieren und an „Reichsbürger“ erinnern.

Wenn man die Schönheit und Klarheit der Sprache des Grundgesetzes so eindrucksvoll wie hier vor Augen und Ohren geführt bekommt, ist eine Botschaft beruhigend: Unser Grundgesetz ist eine Verfassung, auf die wir stolz sein können. Mit dem Parteienverbot, dem Widerstandsrecht, dem Grundrechtskatalog und der Ewigkeitsgarantie ist unsere Demokratie auch sehr bewusst als „wehrhaft“ konzipiert. Einen echten „Stresstest“ hatte das Grundgesetz in den vergangenen Jahrzehnten noch nicht zu bestehen. Aber mit dem Einzug einer Fraktion in den Bundestag, die gezielt mit Ressentiments gegen Europa, Minderheiten und „Lügenpresse“ spielt, die aufhetzt und spaltet, könnte sich dies ändern.

Ein „Stresstest“ war dieser Nachmittag aber vor allem für die Theaterbesucher*innen, die sich durch weiträumige Absperrungen und die üblichen Begleiterscheinungen der Eventkultur von drängelnden Touristenmassen zwischen Fast-Food-Ständen quälen mussten.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2018/10/03/grundgesetz-ein-chorischer-stresstest-brandenburger-tor-gorki-kritik/
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