Mehr als nur Theater

von Maximilian Sippenauer

München, 6. Oktober 2018. Der große Irrtum des Klassizismus bestand in der Annahme, dass die Antike in hehrem Weiß geleuchtet habe. So marmorn, erhaben, apollinisch. Auch wenn heute jeder weiß, dass diese Vorstellung Quatsch ist, haftet sie nach wie vor als Stigma einer ebenmäßigen Heiligkeit an allem Altgriechischen, am meisten aber an unserem Verständnis von antikem Theater. Wenn Nils Kahnwald für seinen Prolog zu Christopher Rüpings Antikenprojekt in Jeans und Pulli auf die Bühne tritt, sich eine Zigarette ansteckt und auf eine Raucherbank verweist, wo es auch jedem Zuschauer gestattet sei, während des Stückes szenisch zu rauchen, dann tut er das, um diese Ehrfurcht vor den marmorverstaubten Versen ganz schnell loszuwerden.

Im alten Griechenland seien die dionysischen Festspiele fünftägige Gelage gewesen, mit freiem Wein und Bezahlung für den Verdienstausfall. Mit diesem Verständnis solle man die kommenden zehn (!) Stunden angehen. Und wenn man das akzeptiert, dann funktioniert der Tag, den man von Mittag bis Spätabend an den Kammerspielen verbringt, tatsächlich wunderbar.

dionysos2 560 julian baumann uDie Möglichkeit einer Liebe auf Jonathan Metz' Bühne © Julian Baumann

Rüping organisiert "Dionysos Stadt" nach antikem Vorbild als drei abgeschlossene Stücke samt Satyrspiel. Er inszeniert dabei keine der klassischen Tragödien, sondern vermischt verschiedenste Texte zu einem thematischen Dreiklang. Es geht um Prometheus, den Untergang Trojas sowie die Orestie, diese nie enden wollende Vendetta aus Vater-Mutter-Bruder-Tochter-Morden im Hause der Atriden. Jeder dieser rund zweistündigen Teile hätte eine eigene Besprechung verdient; hier nur ein paar exemplarische Schlaglichter: Die Qualen des blitzgescheiten Prometheus, der als Strafe dafür, dass er den Menschen das Feuer und so ein Stück Autonomie geschenkt hatte, für Jahrtausende an den Kaukasus gefesselt ward, erzählt Rüping, indem er seinen von Benjamin Radjaipour gespielten Helden in einem Käfig über der Bühne baumeln lässt, unter dem blöd blökende Schauspieler mit übergeworfenen Fellen über die Bühne krabbeln.

Der Troja-Teil, der Gewaltakt im buchstäblichen Sinne, reduziert die "Ilias" auf Militärparaden und Heldenkämpfe. Protagonist ist das Schlagzeug, an dem Matze Pröllochs inmitten der weißleuchtenden Mauer Trojas sitzt und die größte Schlacht der Literaturgeschichte in sinnloses Lärmen transponiert. Während die Orestie als Farce, nämlich in Form einer Sitcom, in komplett unangestrengter Art und Weise abgehandelt wird.

Stage diving als Schicksal

Es geht also um Gewalt, um das Feuer, das Prometheus einst heilsbringend andachte, das der Mensch aber zum Vernichten von Städten und Familien nutzt. Es geht um den Verfall des Menschengeschlechts, vor allem aber um das Motiv des Schicksalhaften. Dieses Ausgeliefertsein an einen höheren Plan inszeniert Rüping am cleversten. Etwa wenn Kahnwald in seinem Prolog, der ja nur Organisatorisches und ein paar Eckpunkte ankündigen will, prophezeit, dass es irgendwann stage diving geben werde, man aber dann doch völlig überrascht ist, wenn er und Wiebke Mollenhauer nach einer Goethe-Ballade in die Menge hüpfen. Das kommt der originär griechischen Erfahrung eines Orakelspruchs, der sich erfüllt, schon sehr nahe.

dionysos1 560 julian baumann uWiderstand ist zwecklos: Wiebke Mollenhauer © Julian Baumann

Solche Momente sucht Rüpings Projekt: spezifisch antike Theatererfahrungen, die nur dann einsetzen, wenn man sich diesem Ort über eine gewisse Zeit und in einer gewissen Art ausliefert. Dionysos Stadt forciert das, was Nietzsche als Rausch bezeichnete und wonach Wagner seinen Opernbegriff konzipierte, nur ohne alle Intellektualismen und schwülstiges Pathos. Wie genial das sein kann, zeigt das Satyrspiel am Ende. In der Antike sollte man dort nach all den Tragödien entspannen. Rüping übersetzt dies ganz prosaisch ins heute, indem er den trivialen Erzfeind des Theaters auf die Bühne holt: den Fussball. Eine Viertelstunde lang kickt sein Ensemble vor sich hin, bis Kahnwald dazu Jean-Philippe Toussaints herrlichen Essay über die Schönheit und Melancholie von Zidanes Kopfstoß im Finale der WM 2006 verliest.

Standing Ovations

Man könnte "Dionysos Stadt" vorwerfen, dass es mitunter zu poppig oder am Ende zu kitschig sei und dass überhaupt die eine oder andere Meta-Ebene mehr nicht geschadet hätte. Aber so eine Kritik wäre nicht nur kleinkariert, sondern übersähe das Wesentliche. Dieses Projekt will primär keine Aufbereitung antiker Stoffe für die Jetztzeit sein, sondern ist eine Formstudie, interessiert am Geist des Theaters, an diesem spezifischen Modus des Erlebens, der beweist das Theatersehen Rausch sein kann. Wenn es nach zehn Stunden, in denen kaum jemand gegangen ist, weitere zehn Minuten Standing Ovations gibt, dann haben Rüping und sein Team dabei sehr viel richtig gemacht. "Dionysos Stadt" ist nicht nur ein Stück, das man sehen sollte, sondern sich auch gut zweimal anschauen kann.

 

Dionysos Stadt
unter Verwendung diverser antiker Texte
Inszenierung: Christopher Rüping, Live-Musik: Matze Pröllochs, Bühne: Jonathan Metz, Kostüme: Lene Schwind, Dramaturgie: Valerie Göhring, Matthias Pees, Musik: Jonas Holle, Matze Pröllochs
Mit: Maja Beckmann, Peter Brombacher (Jochen Noch), Majd Feddah, Nils Kahnwald, Gro Swantje Kohlhof, Wiebke Mollenhauer, Benjamin Radjaipour.
Premiere am 6. Oktober 2019
Dauer: 10 Stunden, 3 Pausen

www.muenchner-kammerspiele.de

 

Kritikenrundschau

Die ungewöhnliche Länge der Aufführung fordere zu einer besonderen Art der Gemeinsamkeit heraus. "Es ist als stellte sich durch die gedehnte Zeit eine ungewöhnliche Gegenwärtigkeit im Theater ein und eine besondere Atmosphäre zwischen Bühne und Zuschauerraum", so Sven Ricklefs im Bayerischen Rundfunk und im Deutschlandfunk (7.10.2018). "Da ist viel heiliger Ernst, da ist aber auch viel heitere Ironie, mit der das achtköpfige wunderbare Ensemble sowohl durch die Antike als auch gleich durch ein ganzes Spektrum von Theaterformen sur ft."

"Eine Riesenleistung", "ein schöner Erfolg für die Kammerspiele, bei dem ein Gefühl der Verbundenheit, ja: Empathie zwischen Ensemble und Publikum mitschwingt", schreibt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (8.10.2018). "Das Durchbrechen der 'vierten Wand' ist ebenso Teil dieser Inszenierung wie die Ironie, mit der Szenen angegangen und Erwartungen an 'antikes Theater' gebrochen werden." Dies geschehe "nicht präpotent affig oder banal, wie man es bei Christopher Rüping auch schon erlebte, sondern mit feiner Komik im Dienste der Sache, welche erstaunlich ernst genommen wird", so Dössel: "Es geht hier (…) ganz existenziell um den Menschen, um seine Selbstermächtigung, seine Hoheit, seine Ungeheuerlichkeit."

"Rüping ist an einer publikumsfreundlichen Übersetzung in die Gegenwart gelegen. Er will mythologische Momente 'erden'", schreibt Margarete Affenzeller in Der Standard (8.10.2018). "In alldem steckt mindestens genauso viel dramaturgische Raffinesse wie inszenatorische. Mehr noch aber als Deutungsideen überwog an diesem Abend das Gemeinschaftsgefühl einer wohlmeinenden Zuhörerschaft."

"Mensch, Krieg, Schicksal: Rüpings Antikenprojekt verhandelt viel und nicht zuletzt sich selbst", schreibt Teresa Grenzmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (8.10.2018). "So dass den Zuschauern, die stehend applaudieren, wohl auch klargeworden ist: Die heutigen Dionysien finden längst nicht mehr im Theater statt, sondern im World Wide Web. Angesichts des unendlichen Tagesangebots an weltpolitischen Tragödien, Komödien und Satyrspielen sind zehn vielsagende Stunden in den Kammerspielen eine Kleinigkeit von Bedeutung."

"Rüpings Mammutstück ist ein Genre-Remix aus Klamauk, Improvisation, Mitmachspaß und Tragödie, der gut aufgeht, weil er keck viele Genres mischt", schreibt Annette Walter in der taz (10.10.2018). Das Ensemble gehe voll in dem Stoff auf, agiere stellenweise manisch-exzessiv, dann aber wieder reflektiert und eindringlich.

"Erstklassig" fand den Abend beim Theatertreffen Jan Küveler von der Welt (22.5.2019) und schließt nach einer Zusammenfassung des Gezeigten: "Es war alles sehr sympathisch, eine Art Castorf für die Generation Y."

 

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