Der Zufall als Freiheit

von Harald Raab

Darmstadt, 7. Oktober 2018. Darmstadt schlägt Berlin. Vor vier Jahren inszenierte Àlex Rigola an der Berliner Schaubühne die deutschsprachige Erstaufführung des über 1000-seitigen Romans "2666" von Roberto Bolaño – und brauchte viereinhalb Stunden. An den Kammerspielen des Staatstheaters Darmstadt hat Claudia Bossard jetzt nur zwei benötigt. Ihr Erfolgsrezept: Sie verzichtet auf eine sklavische Folge des literarischen Narrativs, nimmt freizügig Textpassagen, montiert sie neu und komponiert daraus eine eigene, sehr dichte Bühnengeschichte mit autonomem Rhythmus.

Dantes innerster Kreis der Hölle – heute. Wie ein Buchhalter des Bösen hat Roberto Bolaño die menschlichen Abgründe mit aufreizender Sachlichkeit und penibler Genauigkeit notiert, Mord und Totschlag, Perversität und Infamie inklusive. "2666" zeichnet ein Bild von "einer Oase des Grauens in einer Wüste der Langeweile" (Charles Baudelaire). Der Roman führt ins Herz der individuellen und kollektiven Finsternis, in die Komplexität und gleichzeitige Banalität allen existenziellen Handelns. Wer lebt, wird schuldig. Es passiert einfach so. Die Frage nach Moral stellt sich bei Bolaño erst gar nicht.

2666 2 560 Nils Heck uDarmstädter Bolaño-Show: mit Mona Kloos und Béla Milan Uhrlau. In der Videoprojektion: Ernest Allan Hausmann © Nils Heck

Claudia Bossard jedoch stellt sie. Sie belässt es bei ihrem Plot – eine Art flotter Nummernrevue – nicht bei der bloßen Zurschaustellung der Absurditäten und Zumutungen des Lebens. Sie hat dazu auch eine unmissverständliche Botschaft. Sie gipfelt in dem Agar-Agar-Song "I'm that guy". Hier ein Power-Statement der Frauen, nicht länger Opfer sein zu wollen. "Please don't judge until I'm free . . ."

Im Strudel der Gewalt

Auch in Darmstadt läuft schemenhaft hinter all den wirbelnden Showelementen noch die Bolaño-Story mit – halb Krimi, halb Soziogramm: Zwei Literaturkritiker suchen nach einem verschwundenen, nobelpreisverdächtigen Autor mit dem wohlklingenden Künstlernamen Benno von Archimboldi, bürgerlich schlicht Hans Reiter. Da er sich nach Mexiko verdünnisiert haben soll, begeben sie sich im Norden des Landes auf die Suche. Sie finden ihn jedoch nicht, werden dafür unweigerlich mit dem Strudel der Gewalt an der Grenze zu den USA konfrontiert, in der berüchtigten Stadt Ciudad Juárez, die hier Santa Teresa heißt. Seit Jahren ereignen sich dort Morde an jungen Frauen, von denen keiner aufgeklärt werden kann.

Wichtig ist im Konzept der Regisseurin aber weniger das Was, sondern das Wie. Wie erzählt Theater seine Geschichte? Wie bringt es Texte zum Leuchten? Wie wird daraus überzeugend und beindruckend Leben, wenn auch artifizielles, das Zuschauerinnen und Zuschauer magisch in seinen Bann zu ziehen vermag? Drei Antworten hat darauf Claudia Bossard: Erzählerische Fantasie, gutes Handwerk und überbordende Spielfreude. Von alldem ist reichlich geboten in dieser Produktion.

Flamenco, Slapstick, blutige Fantasien

Kongenial dazu die Bühne von Daniel Wollenzin: Rechts eine grüne Tür im rosa Rahmen, daneben ein pinkfarbener Totenkopf , dann ein halbrunder, durch einen transparenten Vorhang abgetrennter Raum und links ein Bühnenelement mit zwei quadratischen Öffnungen. Im Vordergrund ein Kreis aus weißen wirbelnden Streifen. Ausreichend Platz zu einem abwechslungs- und bewegungsreichen Spiel. Nicht zuletzt in schlüssiger Interaktion mit Videoprojektionen. Ernest Allan Hausmann macht als Barry Seaman bella figura als Showmaster des Vergnügungsangebots von Santa Teresa. Die hässliche Fratze davon: die brutale Vergewaltigung eines Mädchens. Gemäß einer gängigen Macho-Fantasie soll das Opfer daran auch noch seinen Spaß gehabt haben.

2666 1 560 Nils Heck uPhilosophie im Clowns-Kostüm: mit Mona Kloos, Christian Klischat, Béla Milan Uhrlau © Nils Heck

Mona Kloos und Béla Milan Uhrlau als Literaturfreaks Liz und Jean-Claude auf der Suche nach ihrem Meister Archimboldi liefern sich sophisticated Wortgefechte über allerhand Phobien: Was ist Sakrophobie (Angst vor Religiösem) und was Gynophobie (Angst vor Frauen)? Sie mimen Flamenco- Gegockel, absolvieren Slapsticks. Wie bringt man eine Kloschüssel durch einen zu engen Türrahmen? Christian Klischat philosophiert als Provinz-Professor im Clownskostüm : "Der Zufall ist die totale Freiheit." Anabel Möbius als seine Tochter Rosa glaubt nicht an die Liebe und noch weniger an die Anständigkeit. Fasziniert erzählt sie vom blutigen Opferritual der Azteken.

Großes, wunderbares Theater in den kleinen Darmstädter Kammerspielen also. Ein Bühnenerlebnis voll Spannung, Witz, Sentiment, bildgewaltig, intelligent und kurzweilig.

2666
nach dem Roman von Roberto Bolaño, deutsch von Christian Hansen
Regie: Claudia Bossard, Bühne und Licht: Daniel Wollenzin, Musik und Video: Annalena Fröhlich, Kostüme Alona Rudnev, Dramaturgie: Maximilian Löwenstein.
Mit: Béla Milan Uhrlau, Mona Kloos, Christian Klischat, Anabel Möbius, Ernest Allan Hausmann.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.staatstheater-darmstadt.de

 

Kritikenrundschau

Gelungen und auf den Punkt gebracht findet Julius Tamm die Inszenierung in der Frankfurter Rundschau (8.10.2018). "Eine intensive, schrille Darbietung, in der manchmal nicht klar ist, welcher Charakter nun von welchem Darsteller, welcher Darstellerin gespielt wird." Es starte bedrohlich und mit intensiver Akustik, "nur um kurz darauf in eine merkwürdige Stille zu verfallen. Jetzt spricht einzig das schrille Bühnenbild von Daniel Wollenzin." Ein schwarzweißer Vertigostrudel auf der Bühne symboolisierte für diesen Kritiker "die Sogkraft, die das Stück entwickelt, das erst im allerletzten Moment das Publikum in eine tiefe Schwärze entlässt."

Aus Sicht Mario Scalla von HR2 (8.10.-2018) konnte man einiges mitnehmen von diesem Abend. Nicht nur Sätze und Bilder sind bei ihm hängen geblieben sondern auch ein Gefühl für die Gesamtkonstellation des Romans zwischen dem sorgenfreien Europa und der brutalen Realität Mexikos. Insbesondere das Bühnenbild erhält das Prädikat "famos". Auch wenn mancher Erzählfaden in der Luft hängen blieb, sei es ein ebenso spannender wie ideenreicher und, seines schwarzem Humors wegen, auch unterhaltender Abend.

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