Die Unruhe vor dem Sturm

von Jan-Paul Koopmann

Bremen, 7. Oktober 2018. Als zum Ende der Sturm losbricht, ist die Katastrophe längst passiert. Da mögen sich die Bäume noch so bedrohlich neigen, Dinge wortwörtlich durch die Luft fliegen und bald auch Menschen sterben – in Alize Zandwijks Inszenierung von Storms Novelle "Der Schimmelreiter" ist die Naturgewalt zwar schrecklich-schön anzusehen, aber doch nicht die Hauptsache.

Die Nordsee aus Plastikmüll

Und das ist tatsächlich eine große Freude, wo doch eigentlich eine ganz furchtbar engagierte Ökonummer zu erwarten war. Wochenlang hatte das Bremer Theater Plastikmüllspenden gesammelt, um Thomas Rupert daraus ein Bühnenbild gestalten zu lassen. Nun schwappt ein Meer davon auf der Bühne, das die Nordsee darstellen und uns alle daran erinnern soll, was wir den Ozeanen an Furchtbarem antun. Wenn zwischendurch der Wind hinein bläst, bäumen sich aus dem Müll heraus gewaltige Pferde aus dünnen Tütchen auf. Schlichtweg beeindruckend ist das, und man weiß nie so recht, ob man nun an ein Nachtgespenst denken soll, oder an die Fotos verendender Tiere aus den Nachrichten.

Schimmelreiter011 560 Joerg Landsberg uWas wir den Meeren antun: Das Ensemble in der Plastikmüll-Nordsee von Bühnenbildner Thomas Rupert © Jörg Landsberg

Also doch: Die Natur und das, was die Menschheit ihr zumutet. Die Geschichte von Deichgraf Hauke Haien, dessen neuer Deich dem Meer ein bisschen Land abringen soll, schreit ja auch danach. Und zwar so laut, dass die rein menschlichen Tragödien darinter in der Regel verblassen. Dass es hier aber nun eben nicht passiert, liegt an – tja, an wirklich allen Beteiligten: John von Düffels Bearbeitung der Storm'schen Novelle schmeißt zum Anfang rabiat die Rahmenhandlung sowie Haukes Vater raus und schafft so Platz für den Zank der nächsten Generation. Hauptdarsteller Alexander Swoboda gibt den Deichgraf mit Verve zwar und Schaum vorm Mund, bläst ihn aber doch nie zu tragischer Übergröße auf. Sein Hauke bleibt bis zum Ende der übereifrige Streber und Emporkömmling, neben dem noch Platz für andere bleibt.

Die Hölle Nachbarschaft

Die wissen damit auch etwas anzufangen: Martin Baum und Stephanie Schadeweg geben etwa ein wunderbares Neiderpärchen ab, kribbelig fies, aber doch nur allzu menschlich. Sie sind keine Dämonen, keine Schicksalmächte, sondern die ganz einfachen Leute aus der Hölle Nachbarschaft. Und dann natürlich Elke, Haiens Ehefrau, die Nadine Geyersbach trittsicher durch sämtliche Höhen und (vor allem) Tiefen des dörflichen First-Lady-Daseins führt: Erst ist sie bei ihrem Vater nur die Nummer zwei hinter Hauke, dann bekommen sie keine Kinder, dann doch, aber die Tocher hat eine Behinderung, dann dreht der Mann durch und fährt schließlich den ganzen Laden vor die Wand. Dass sie's aushält, ist ja klar, es steht im Text. Dass es wirklich schmerzt, Nadine Geyersbach dabei zuzusehen, ohne dass sie auch nur für Sekunden in passive Opferrollen rutschte – das ist ganz große Schauspielkunst.

Schimmelreiter001 560 Joerg Landsberg uDie Tragik des Technikers: Alexander Swoboda spielt Deichgraf Hauke Haien © Jörg Landsberg

Neben neun durchweg grandiosen Darsteller*innen steht noch, wie so oft in Zandwijks Inszenierungen, Maartje Teussink am Bühnenrand. Die niederländische Singer-/Songwriterin singt diesmal etwas weniger, entwickelt dafür aber mit Klarinette, Gitarre und am Kontrabass einen durchdringenden Soundteppich, der mal einen melancholischen Hintergrund abliefert, dann wieder in sich hochschraubenden Loops die Sturmflut vertont.

Darum geht es also: um Menschen, Frauen insbesondere, die sich in der ersten und zweiten Natur durchschlagen müssen. Ein wirklich herzzerreißender Moment gehört dann übrigens doch dem Hauke Haien. Es ist der ganz kurze Satz, "Ich hab' sie lieb", den er über die Tochter sagt, die schwachsinnige. Das ist so hart, weil man es ihm abnimmt, dem Techniker und Rechengenie.

Untergang im Sandkasten

Am bedrohlichsten anzusehen ist dann auch nicht das Meer (das schwappt halt meist so traurig vermüllt vor sich hin), sondern der Deich: eine gewaltige Betonmauer, deren hinterer Teil sich als zweite Spielebene nach oben fahren lässt. Auf der steht klagend ein kahler, windschiefer Baum, der ölig glänzt, und in dem sich manchmal zufällig vorbeiwehendes Plastik verheddert. Diese Natur versucht sich gar nicht erst daran, Weite vorzugaukeln. Sie bleibt vorsätzlich hermetisch geschlossen, wie ein Diorama oder vielleicht ein Tim-Burton-Film.

Schimmelreiter005 560 Joerg Landsberg uTrost für die Mutter: Susanne Schrader als Wienke und Nadine Geyersbach als Elke, Frau des Deichgrafen © Jörg Landsberg

Gedoppelt und gedeutet wird das Geschenhen oben auf dem Deich von einer kleineren Version am vorderen Bühnenrand. Es mag nicht immer ganz klar sein, wer hier warum was kopiert, aber es gibt doch mindestens interessante Parallelen zwischen beiden Ebenen. Wenn etwa oben Susanne Schrader als noch ungeborene aber sehnsüchtig erwartete Tocher Wienke schaukelt, während sich unten Stephanie Schadeweg als Konkurrentenfrau Vollina in den Wehen auf den Minibaum stützt. Neben ihr hängt ein zweiter Vollmond in der Luft – ein kleinerer.

Und als wollte sich die Handlung vor der aufdringlichen, naturgewaltigen Deutung verstecken, zieht sie sich zum Ende immer weiter in die Miniatur zurück: Die große Tragödie zum Schluss, als Hauke Haien Frau und Kind in die tosenden Wasser des brechenden Deichs folgt, wird in einem Sandkasten unter einem noch kleineren Mond nur noch mit Figuren gespielt. Da hat sich Maartje Teussink schon mit ihrem Bass unterm Arm von der Bühne geschlichen und aus den anderen Schauspieler*innen sind Erzähler*innen geworden. Sie spielen nicht mehr, stehen im Kreis und sprechen Storms Novellentext trocken bis das Licht ausgeht. Wie gesagt: die eigentliche Katastrophe war ja längst vorbei, als dieser Sturm aufzog.

 

Der Schimmelreiter
nach Theodor Storm
in einer Bearbeitung von John von Düffel
Regie: Alize Zandwijk, Bühne: Thomas Rupert, Kostüme: Sophie Klenk-Wulff, Maskenbau: Nadine Geyersbach, Licht: Mark Van Denesse, Musik: Maartje Teussink, Dramaturgie: Marianne Seidler.
Mit: Martin Baum, Guido Gallmann, Nadine Geyersbach, Bastian Hagen, Benno Ifland, Gabriele Möller-Lukasz, Stephanie Schadeweg, Susanne Schrader, Alexander Swoboda, Maartje Teussink.
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.theaterbremen.de

 

Kritikenrundschau

Christine Gorny von Radio Bremen (8.10.2018) beeindruckt die "apokalyptische Atmosphäre". Die Bearbeitung von John von Düffel bleibe der Novelle treu und konzentriere sie stark. Die Inszenierung finde sehr starke Bilder. Sie versetze den Zuschauer in genau die mystische, rückständige, unterschwellig konflikthafte Atmosphäre, die Storms Novelle so berühmt gemacht habe. "Insgesamt auf alle Fälle ein großer Theaterabend, den man nicht verpassen sollte."

Wolfgang Denker von der Nordwest-Zeitung (8.10.2018) erlebte einen spannenden Schauspielabend. "Zandwijk kann in ihrer Inszenierung alle wichtigen Handlungselemente der Novelle sinnvoll und eindringlich verdeutlichen." Das Schauspielensemble könne mit einer geschlossenen Leistung überzeugen.

Zum dritten Mal in Folge gerate Alize Zandwijk eine Großproduktion im Theater am Goetheplatz zum Triumph, schreibt Hendrik Werner im Weserkurier (8.10.2018). "Einmal mehr schafft sie konzentriertes Sprechtheater, das jedes Wort, jeden Blick, jede Geste wägt." Auch Thomas Ruperts Bühnenbild rechtfertigt aus Kritikersicht nur Superlative. "Vollends überwältigend ist die Aufführung, wenn gegen Ende Elemente toben, Sturm in Plastik und Darsteller fährt. Die Reittiere der Apokalypse sind entfesselt. Und keine Hoffnung, nirgends."

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