Von äußeren und inneren Wetterlagen

von Ralph Gambihler

Jena, 10. Juli 2008. Der Schritt ins Freie, in die sommerliche Open-air-Vergnügung, ist am Theaterhaus Jena immer auch ein Schritt in die eigene Geschichte. Gespielt wird ja nicht irgendwo, sondern direkt vor der Tür in einer "Kulturarena", die genau da steht, wo früher das Publikum behaglich in Sesseln saß.

Die Wunde, die dem Gebäude geschlagen wurde, wird hier zur Kulisse. Man reibt sich noch heute die Augen, wie der Stadtrat 1987 den Zuschauerraum einfach abreißen lassen konnte in der irrigen Annahme, damit einen Komplettneubau zu erzwingen. Seit der Neugründung des Ensembles 1991 dient das halbierte Haus, auch "Ruine" genannt, als Spielstätte. Nur im Sommer, wenn die "Kulturarena" mit ihren Buden und Bänken vor der Mauer des Entsetzens steht und der Schlund ins Bühnenhaus sich öffnet, ist näherungsweise die alte Sitzordnung hergestellt, umgeben von guten oder schlechten Wettern.

Diverse Lektionen in Sachen Vergangenheit

Diese Vorgeschichte mag ein wenig erklären, warum Sommertheater in Jena mit einigem Aufwand betrieben wird, irgendwie anders jedenfalls als an anderen Häusern. Schon die Wahl der Stücke scheint dies zu belegen. Im letzten Jahr hat man die "Orestie" des Aischylos gegeben, in diesem fegt "Der Sturm" durch die Freilichtkulisse, Shakespeares letztes Drama.

Im Schlund des Bühnenhauses walten die 28 "Geister" der Jenaer Philharmonie. Sie haben viel zu tun an diesem Abend, der sich irgendwo zwischen Minimal Music und ACDC zum halben Musical auswächst. Weiter vorne liegt die Zone des unkommoden Zaubers. Der Inselkönig Prospero und sein dienstbarer Luftgeist Ariel erteilen einer sonnenbebrillten Reisegesellschaft, denen der erlittene Schiffbruch den Immobilien- und Golfplatzblick nicht abgewöhnen konnte, diverse Lektionen in Sachen Vergangenheit. Einst wurde Prospero die Krone von Mailand geraubt. Nun sind Antonio, sein usurpatorischer Bruder, der in Jena eine Schwester ist (Natalie Hünig), der mitverschwörerische König Alonso von Neapel (Grazia Pergoletti) samt Entourage in seiner Gewalt und machen Bekanntschaft mit den unsichtbaren Plagegeistern und Zwickwesen dieser total verhexten Insel.

Parabel über Macht und Unterdrückung

"Der Sturm", Shakespeares komisch durchwirktes Läuterungs- und Vergebungsdrama, ist ein vielfach auslegbarer Stoff. Er kann als allegorischer Abschied des Dichters von seiner Kunst aufgefasst werden, als Gesellschaftskritik auf utopischer Grundlage oder als Ideendrama mit philosophischem und metaphysischem Hintergrund. In Jena hat man sich für eine saftige und etwas vordergründige Parabel über Macht und Unterdrückung entschieden.

Bernhard Dechant, der mit Zauberhut und gelbem Zaubermantel herumwuselnde Prospero, ist alles andere als ein entrückter Büchermensch, der sich nach zwölf einsamen Inseljahren ein Rachestündchen gönnt. Als Wüterich und Sklaventreiber hat er Übung beim Anschnauzen von Ariel und Caliban, dem "Monster". Davon gibt es manche Spiegelung. Allenthalben regt sich der Wille zur Macht. Wenn schon gestrandet, dann wenigstens in gehobener Position. Der Sturm, der zwischen diesen Shakespeare-Menschen wütet, ist auch eine innere Wetterlage. Das Chaotenduo Trinculo und Stephano etwa, von Holger Dexne und Gunnar Tietzmann schenkelklopferisch in Richtung Kalle und Manne gedreht, ist in komischer Dominierlaune ebenso vereint wie zerstritten.

Einbeinig am Sozialkitsch vorbeihüpfend

Die Gegenfiguren werden entsprechend in Stellung gebracht. Der Gonzalo von Waltraud Steinke-Löscher verströmt den Charme eines mütterlichen Paradiesvogels. Caliban, der ein Verwandter von Hulk sein muss, hat das latente Herrentum der anderen, das durch vielfach weibliche Besetzung gebrochen wird, komplett verinnerlicht. Er ist ganz der Herrensucher, ein Sklave aus Not und Leidenschaft. Ferdinand (Julian Hackenberg) und Miranda (Zoe Hutmacher) schließlich, die Königskinder, fallen schon bei ihrem bloßen Anblick in Ohnmacht. Sie verkörpern die Utopie der Liebe nicht anders als Romeo und Julia, nur ist ihnen das Happy End vergönnt.

Allzu viel Pathos wollte man diesem politischen Ansatz aber nicht unterschieben. Und filigrane Klassizität auch nicht. Im Gegenteil: Markus Heinzelmann (Regie), der die weniger schwülstige Übersetzung von Wieland spielen lässt, zieht ein großes, poppiges, mit Ironie gewürztes Shakespeare-Spektakel ab. Das Heiligernste scheut er wie der Vampir den Knoblauch. Die Inszenierung ist mehr der frech dramatisierte Wunsch nach Friede und Liebe unter den Menschen, einbeinig am Sozialkitsch vorbei, jung und heutig, mit den üblichen Schrägheiten und einer Theatermaschinerie, die zeigen darf, was sie gekostet hat. Dass Prospero und sein quirliger Ariel (Saskia Taeger) auch Entertainer sind, die immer wieder aus der Handlung heraustreten und das Publikum mit Arsch-hoch-Gestik zum Mitsingen und Mitklatschen animieren, mag man diesem Abend mit seinem finalen Beifallssturm nachsehen.


Der Sturm oder Die bezauberte Insel
nach William Shakespeare
deutsch von Christoph Martin Wieland
Regie: Markus Heinzelmann, Bühne: Gregor Wickert, Kostüme: Anne Buffetrille, Sandra Rosenstiel, Musik/Musikalische Leitung: Vicki Schmatolla, Komposition: Nikolaus Woernle, Arrangement: Paul Brody, Video: Heiko Kalmbach, Live-Kamera: Sebastian Gimper Choreografie: Antonio Cerezo, Choreografie Akrobatik: Robert Gärtner.
Mit: Bernhard Dechant, Zoe Hutmacher, Julian Hackenberg, Saskia Taeger, Ralph Jung, Gunnar Titzmann, Holger Dexne, Grazia Pergoletti, Natalie Hünig, Waltraud Steinke-Löscher, Ulrich Reinhardt, Renate Regel, Samwel Bersegian, Andreas Waidosch.

www.theaterhaus-jena.de
 

Weitere Stürme haben in der letzten Saison Marc von Henning in Schwerin, Stefan Pucher an den Münchner Kammerspielen und Christina Friedrich in Luzern entfacht.

 

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