Eine griechische Trilogie - Am Berliner Ensemble strickt Simon Stone frei nach Aristophanes und Euripides einen nur vorgeblich feministischen Antiken-Splatter
Ironie und Wahnsinn
von Esther Slevogt
Berlin, 11. Oktober 2018. Am Ende sitzen sie da wie die Jammerlappen, die Herren der Schöpfung, und beklagen ihr Schicksal: Der arbeitslose Investmentbanker Thomas im Rollstuhl (Andreas Döhler), der Kriminalbeamte Michael in der Feinrippunterhose (Tilo Nest), Friedrich (Samuel Schneider), Jakob (Peter Luppa) oder der ehemalige Sex-Shop-Besitzer Erik (Aljoscha Stadelmann) – von Prekarisierungsmerkmalen ebenso gezeichnet wie der Arzt Dr. Christoph Heinemann (Martin Wuttke), dessen teurer Mantel jetzt nur noch an ihm schlabbert wie an einer Vogelscheuche.
Der Nächste, bitte
Ihre Frauen haben sie verlassen, denen sie zuvor das Leben zur Hölle machten. Jeder auf seine Weise. Thomas zum Beispiel malträtierte seine Inge (Constanze Becker) so lange auf das Sadistischste, bis sie ihn mit dem Messer massakriert. "Ach, Inge!" seufzt der daneben stehende Familienfreund Jakob lakonisch und hat natürlich die kalkulierten Lacher auf seiner Seite, während Thomas blutüberströmt zusammensackt. Nun sitzt er im Rollstuhl bei den anderen. Ihre Frauen sind fort, an einen unbekannten Ort verschwunden. Und die Männer, eben noch blühende Machos und ichbezogene Ekelpakete, wissen nichts mehr mit ihrem Leben anzufangen. So machen sie sich also auf die Suche nach ihren Frauen. Und finden sie auch.
Eben noch Machos, jetzt Jammerlappen: Andreas Döhler, Peter Luppa, Martin Wuttke, Tilo Nest, Samuel Schneider © Thomas Aurin
Und zwar in einer abgeschiedenen Landkommune, die man am Anfang schon kennenlernte: eine Gesellschaft der verletzten Frauen, die sich hier zu einer feministischen Sekte zusammenschlossen: mit totalitärer Struktur und von samtigem Achtsamkeits-Terror durchzogen. Als die Männer ankommen, die Frauen um Versöhnung zu bitten, werden sie grausam abgeschlachtet, einer nach dem anderen: eine Splatterorgie. Nebel wabert, Musik dräut, Ironie und Wahnsinn wuchern unbestimmt nebeneinander im abgedimmten Licht. Auf dem vergossenen Blut rutscht beim Schlussapplaus auch der Regisseur des Abends Simon Stone noch aus, dass man fast schon fürchtet: Er ist der nächste, der hier den Megären zum Opfer fällt.
Dionysos, der Reproduktionsmediziner
Aber Stone steht wieder auf, verbeugt sich fröhlich hinter der großen Glasscheibe, mit der Bühnenbildner Bob Cousins den Guckkasten im Berliner Ensemble zum Terrarium machte. Gottseidank sind wir nur im Theater, das sich hier im Berliner Ensemble von seiner fettesten Seite zeigt: ein Schauspieler*innenfest auf Champions-League-Niveau. Dass der gedankliche Firnis dünn bleibt, auf den der Abend baut, verzeiht man in den ersten zwei Stunden locker: So spannend und knapp auf Pointe genäht wird hier in minimalistisch wie scharf beobachteten Szenen ein zeitgenössischer Elendskosmos ausgemalt. Männer, die ihre Frauen knechten, belügen, misshandeln. Männer, die die Welt ruinierten, in der sie selbst nun nur noch armselige Auslaufmodelle sind. Frauen, die das lange mitmachen. Aber eines Tages eben nicht mehr.
"Eine griechische Trilogie" ist der Abend überschrieben, der auf der Basis von drei antiken Tragödien über Frauen nachdenken will: "Lysistrata" von Aristophanes, die Geschichte der Frauen, die sich den Männern sexuell verweigern, um sie so zur Beendigung des Krieges zu zwingen, den sie gerade führen. Außerdem "Die Troerinnen" und "Die Bakchen" von Euripides. Stücke, die vom Ende der Zivilisation und dem selbstgewählten Untergang der Menschen handeln, die im Morast ihrer Schlechtigkeit, in Krieg, Mordlust und Niedertracht versinken: vorgeführt am furchtbaren Schicksal der Frauen des besiegten Troja und einer Gruppe von Dionysos-Anhängerinnen, deren Hedonismus in Vernichtungswut umgeschlagen ist.
Splatternd geht's dem Mann an den Kragen: Andreas Döhler, Constanze Becker, Judith Engel
© Thomas Aurin
Die Akropolis, auf der sich in "Lysistrata" die Frauen vor den Männern verschanzen, ist bei Stone jene entlegene Landkommune, die von reaktionärem Bauernvolk umzingelt ist. Später verschmilzt dieser Ort mit einer zeitgenössischen Variante des Bergs Kithairon, auf den Dionysos, dem Drama des Euripides zufolge, die von ihm in den Wahn getriebenen Frauen führt. Der Wiedergänger dieses Dionysos ist bei Stone der größenwahnsinnige Reproduktionsmediziner Dr. Christoph Heinemann (von Martin Wuttke mit nosferatuhaftem Furor dargeboten), der Tausenden von Frauen mit Kinderwunsch seinen Samen einpflanzte und einer der daraus entstandenen Töchter (Carina Zichner) eines Tages unverhofft leibhaftig gegenüber steht. Wirklich gebraucht aber hätte es diese antiken Analogien nicht, die hier nur bildungsbürgerlich auftrumpfen, ohne zu weiterer Erkenntnis zu führen.
Der Abend beginnt damit, dass aus dem Nebel, der den verglasten Raum von Anfang an füllt, mit reichlich Gepäck Caroline Peters und Stefanie Reinsperger auftauchen – als heillos ineinander verstricktes Mutter-Tochter-Paar, das nach dem Zusammenbruch seiner bürgerlichen Existenz nun Zuflucht in der Frauenkommune sucht. Denn Gatte und Vater Dr. Heinemann wurde von den Regressforderungen der von ihm gezeugten Kinder und ihrer Mütter in den Ruin getrieben.
Männer, Männer, Männer
In messerscharf designten Dialogen (die eher aus dem Ibsen-Strindberg-Kosmos stammen) blättern sie in wenigen Minuten das ganze Spektrum ihrer gegenseitigen Verletzungen auf. Nach diesem Muster geht es immer weiter. Mit einiger Story-Telling-Akrobatik verknüpft Stone die Figuren miteinander, die plötzlich auf aberwitzigste Weise alle miteinander zusammenhängen. Eine Weile folgt man gebannt, was am erstklassigen Schauspiel und den scharf beobachteten, dem Rascheln der Folien des Zeitgeistes abgelauschten Szenen liegt – die immer abbrechen, kurz bevor sie ins Klischee oder die Karrikatur kippen.
Aber dann bleibt der Abend gedanklich stecken. Er geht von der (im Programmheft formulierten) Prämisse aus, dass seit der Antike mit dem Theater etwas schiefgelaufen ist. Denn während Aristophanes und sein Kollege Euripides hier mit ihren Erzählungen von Frauenwiderstand "komplexe, autonome und befreite Frauenfiguren" geschaffen hätten, würden wir aktuell in Regression verfallen. Das ist natürlich ein Irrtum. Denn "Lysistrata", "Die Troerinnen" und "Die Bakchen" handeln allesamt von Männern – von Männern, deren Sexualtrieb stärker ist als die Vernunft (Lysistrata), von Männern, deren Zerstörungstrieb am Ende auch sie selber auslöscht (Troerinnen), und von Männern, deren rücksichtsloser Hedonismus eine Gesellschaft infiziert und in den Abgrund reißt (Bakchen). Nirgends sind da befreite autonome Frauen, sondern bloß Opfer und Projektionsflächen. Und so bleibt es auch bei Simon Stone.
Eine griechische Trilogie
Uraufführung
von Simon Stone
Übersetzung: Martin Thomas Pesl
Regie: Simon Stone, Bühne: Bob Cousins, Kostüme: Natasha Jenkins, Musik: Mark Bradshaw, Licht: Ulrich Eh, Dramaturgie: Sabrina Zwach.
Mit: Andreas Döhler, Peter Luppa, Constanze Becker, Martin Wuttke, Caroline Peters, Stefanie Reinsperger, Tilo Nest, Judith Engel, Aljoscha Stadelmann, Kathrin Wehlisch, Carina Zichner.
Dauer: 3 Stunden, 20 Minuten, eine Pause.
www.berliner-ensemble.de
Von einem "Schauspielerfest" schreibt Bernd Noack auf Spiegel-Online (12.10.2018). "Künstler der Extra-Klasse, denen die schick gedrechselten Dialoge von den Lippen zu fließen scheinen, die sich aber auch ausstellen wie Pretiosen an einem Abend, der auf jeden Fall mehr von einem Best-of als von #MeToo hat." "Alle spielen perfekt ihre Rollen - allerdings ohne wirklich anzurühren, aufzuwecken. Die Lust zu schauen löst den Wunsch nach Tiefgang bald ab."
Von einer "weinerlichen Männerfantasie" mit "lauter Klischeefiguren" und im Ton "billiger Privatfernsehschmonzetten", spricht Peter Claus in der Sendung "Fazit" vom Deutschlandradio (12.10.2018).
"Mit großer dramaturgischer Begabung und noch größerem Mutwillen verknüpft der regieführende Autor die Lebensgeschichten seiner sechs Frauen und seiner sechs Männer," so Eberhard Spreng in der Sendung "Kultur heute" vom Deutschlandfunk (10. 2018). "Das ist vor allem schauspielerisch so punktgenau getroffen, dass man den immer wieder auch auf Komik abzielenden Situationen gerne zuschaut." Doch Stone erzähle den Krieg der Geschlechter nur noch als Sammlung privater Schandtaten. Seit Fazit: "Brillantes Schauspielertheater, in dem zu wenig auf dem Spiel steht."
Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung (12.10.2018) ist bei dem "rampenorientierten Blut- und Wassergeschmadder" dankbar für das Schutzglas vor dem Bühnenkasten, "allerdings perlen an ihm auch die Schauspielkünste des großartig besetzten und von den lieblosen Figurenklischees schwer unterforderten Ensembles ab." Stone habe zuletzt "überaus erfolgreich bürgerliche Dramen von Tschechow, Ibsen und Strindberg umgeschrieben, in die Gegenwart transponiert." Verglichen mit der klamottigen Farce im Berliner Ensemble waren diese Abende Wunderwerke des subtilen psychologischen Realismus und des raffinierten Arrangements."
Simon Stone könne sich bei seinem Berlin-Debüt nicht entscheiden, "ob er einen böse lustigen Geschlechter-Rache-Comic, eine Gendertragödie mit vereinzelten Anspielungen auf antike Vorlagen oder vielleicht doch lieber psychologisch fein nuancierte Charakterstudien zeigen will," schreibt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (13. 10.2018). Damit, dass er Frauen bis zum finalen Rache-Amoklauf durchgängig als männerfixierte Opfer sieht, befindet sich Stone aus Laudenbachs Sicht auch "nicht ganz auf dem Stand der aktuellen Genderdebatten".
Auf Rüdiger Schaper vom Berliner Tagespiegel (13.10.2018) wirkt der Abend "wie ein brutalisierter Botho Strauß auf Speed". Auch Strauß habe in seinen Boulevardtragödien antike Quellen angezapft. So hat der Abend für den Kritiker denn auch viel, was Theater stark macht. Tolle Schauspieler*innen vor allem. Die Bühne von Bob Cousins aber auch. Aber "blöderweise" hat er Abend dann aus Sicht dieses Kritikers "auch so vieles, was Theater schwer erträglich macht: aufgesetzte Brutalität, schnell dahin behauptete Figuren, unheilvoll dröhnende Musik, Längen, Untiefen, Mikroport-Gehechel, eine autoritäre Künstlichkeit, die aggressiv stimmt und abstößt."
Hannah Lühmann schreibt in der Welt sehr launig, dass der Abend wirklich "sehr schrecklich" gewesen sei. Wieder sei es, wie immer und überall derzeit, um "Sex und Macht" gegangen (wenn es nicht gerade um Flüchtlinge oder das Geschlechterverhältnis oder um Identität gehe). Wie, fragt sie, "von Langeweile und Enttäuschung berichten"? Der Abend mit seinen Rückblenden sei erzähltechnisch "kunstvoll gebaut". Aber die Dialoge seien "leider oft einfach nur slapstickhaft". "Leider" sei das, was passiert ist, "völlig egal". In dieser Tragödie pralle nichts und niemand aufeinander, "alle Beteiligten sind einfach nur sehr unsympathisch, und am Ende werden alle umgebracht". Man habe gar keine Lust mehr, die "Bedeutungsebenen aus dem Ganzen herauszuklamüsern".
Simon Stone leihe sich "ein paar locker aufgeschnappte Plots, Konstellationen, Figuren und – sehr wichtig, um das Publikum anzulocken – traditionelle Titel bei Ibsen oder Tschechow oder den griechischen Dramatikern aus" , schreibt Irene Bazinger in der FAZ (15.10.2018). Dann texte er "zusammen, was ihm und den Schauspielern während der Proben zum jeweiligen Werk gerade einfällt. (...) Die Skala der Themen ist nach oben, das Niveau nach unten hin offen." "Dick ausgepinselte Kitschszenarien von biertrinkenden verlorenen Frauen auf nächtlichen Bahnhöfen (der letzte Zug ist bereits abgefahren) jagen vollmundige Klischees (reiches Ehepaar nimmt obdachloses Mädchen zum flotten Dreier mit nach Hause), alle Personen sind grob-plakative Karikaturen direkt aus der untersten Schmonzettenschublade", so Bazinger zur "Griechischen Trilogie". "Eigentlich verfolgt Simon Stone damit das Ziel, sich als Dialogschreiber für das nächste 'Dschungelcamp' ins Spiel zu bringen."
"Jede dieser weiblichen Geschichten hätte es wohl verdient, gepostet zu werden", schreibt Thomas E. Schmidt in der Zeit (18.10.2018). Aber "allzu oft hat man die Traumatisiertenprosa schon in anderen Zusammenhängen gehört, nichts mehr wird entlarvt, wenn die Männer daherlabern und ein wenig bürgerliches Lachtheater beisteuern." Daraus werde "insgesamt kein Mythos, nicht einmal ein Antimythos, und dieser Umstand macht das Stück lang und zäh", so Schmidt. "Alle Beteiligten sind auf der richtigen Seite. Doch leider geht der Zuschauer aus dem Theater, wie er gekommen war. Er hätte auch zu Hause bleiben können." Das "dystopische Routinetheater" sei "weder heiß noch klug. Die Zustimmung, die ein Stück wie dieses erzwingt, das ist der Leerlauf."
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Komplette Rezension: stagescreen.wordpress.com/2018/10/12/theater-mit-eingezogenem-schwanz/
Leider ist dieses Ensemble bei der „Griechischen Trilogie“, die Simon Stone in gewohnter Manier aus der Komödie „Lysistrata“ von Aristophanes sowie den Tragödien „Die Bakchen“ und „Die Troerinnen“ des Euripides sampelt, maßlos unterfordert.
Der boulevardkomödien-hafte Einstieg ist noch recht vielversprechend. Die Frauen haben die Bühne zunächst ganz für sich. Nach der Pause rechnet Stone mit dem Patriarchat ab: die Frauen bleiben über lange Zeit im Hintergrund. Die Männer – außer den bereits Genannten wirken Peter Luppa, Tilo Nest, Samuel Schneider und Aljoscha Stadelmann mit – stehen verloren an der Rampe. Ohne die Frauen sind sie hilflos. Der holzschnittartige Ansatz des Abends mündet in ein Gemetzel voller Kunstblut. Minutenlang wird einer nach dem anderen von den weiblichen Rächerinnen dahingemetzelt.
In einer unfreiwilligen Slapstick-Einlage rutschte Regisseur Simon Stone beim Schluss-Applaus auf den Kunstblut-Pfützen aus. Ein letzter Eindruck, der symptomatisch für eine missglückte Uraufführung steht.
Komplette Kritik: daskulturblog.com/2018/10/11/eine-griechische-trilogie-simon-stone-berliner-ensemble-theater-kritik/