Süß-sauer-bitter-süß

von Dieter Stoll

Fürth, 17. Oktober 2018. Draußen vor dem Theater auf dem Plakat wird die Aufführung mit Riesenrad, pumperndem Herzchen und perspektivisch überlebensgroß geratenem Lederjacken-Model namens Liliom beworben. Drinnen vor dem Eisernen Vorhang flirtet noch bei offener Saalbeleuchtung eine schiache Dame mit Bierdose an der Hand ins etwas irritierte Publikum, was auf den erleichterten zweiten Blick (rote Socken, haarige Beine) als Travestie zu erkennen ist. Die Karussellbesitzerin Frau Muskat, Arbeitgeberin und Dienstleistungsnehmerin für weitläufig nutzbare Talente stattlicher Mannsbilder, stürzt danach bei erster Gelegenheit ins keifende Wortgefecht mit dem Dienstmädchen Julie, das nach einer Rundfahrt mit integriertem "Abtatschen" konkurrierendes Interesse zeigt. Wer kriegt wen und warum auch nicht?

Prügel bekommen sie beide, alles zu seiner Zeit. Viel später, wenn das Objekt der generationsübergreifenden Begierde bereits tot und auf dem Weg in die vorhimmlische "Paradise Show" ist, wird man anhand der stummen Leidensfähigkeits-Bilanz vergleichen, wo die Liebe größer war. Da hat die Regie allerdings schon ausgezählt, denn wer sollte ein nach Hitparaden-Maß vorgeführtes Duett von Liliom und Julie plus Doppel-Mikro und Disco-Schimmer übertreffen können, in dem es schließlich ultimativ heißt "Das was ich will, bist du". Münchner Freiheit als Wiener Schmäh, und das in Fürth.

Liliom 029 c ThomasLangerDie kalte Platte von Andreas Braun mit Julie und Liliom im Duett nach Hitparaden-Maß: Ulrike Fischer und Johannes Hoffmann nebst dem Ensemble  © Thomas Langer

Der Mann als poetische Naturgewalt, der mit der unwiderstehlichen Mischung aus Macho- und Dackelblick um Verständnis bittet, dass für seinen absolut individuellen Ausdruck von Zärtlichkeit nun mal die schlagende Verbindung häuslicher Gewalt nötig ist, Befreiungsschlag sozusagen – das war auch vor #MeToo eine Zumutung. In Ferenc Molnárs Vorstadtlegende "Liliom" ist der Titelheld umstellt, gleichzeitig gestützt von schrägen Sympathiewert-Beschreibungen wie "Hallodri" und "Draufgänger", kann also jederzeit mit Abenteurer-Bonus rechnen, wenn er weitere Trampelpfade durchs Gefühlsleben eröffnet. Als "Ausrufer" am Prater, finanziell abhängig von der eifersüchtigen Seniorin und in diffusem Liebesverhältnis zum jungen Dienstmädchen, macht er auf schiefer Bahn gradewegs Unglück, dass die Poesie nur so scheppert. Was die brüchige Lovestory mit Todesfolge samt Ausflug in überirdische Fegefeuer-Instanzen bis heute auf die Wunschzettel-Ränder von Regisseuren und Schauspielern getackert hat, ist die allzeit belebende Wirkung von Bitterstoff auf Süßigkeit.

Sozialkritik, Gebrüll und Selbstmitleid

Regisseur Barish Karademir strebt diese Rezeptur an, verschmäht aber das zusätzliche Löffelchen Sirup auch nicht. Er ließ von Bühnenbildner Andreas Braun eine kalte Platte der Versuchsanordnung entwerfen, die auf der Vorderseite steile Fläche für pompöse Auftritte bietet ("das Volk" führt choreographische Zwischenspiele mit Wechselschritt auf und stülpt das Lächeln von Schafsmasken über) und auf der Rückseite realistischer Unterschlupf für Sozialkritik im Vorbeigehen ist. In diesem Prater blüht kein Baum, das Ringelspiel ist ein schräg gestelltes Teufelsrad, der hausgemischte Soundtrack aus Orgelbrausen und Popgewitter erkennt und bekämpft jede Denkpause als Bedrohung.

Liliom 037 c ThomasLanger"Ich bin ein zerlumpter Niemand!" Johannes Hoffmann als Liliom mit Julie (Ulrike Fischer) und dem schnarrenden Über-Mephisto (Murat Seven)  © Thomas Langer

Mittendrin der brüllende Raufbold mit dem heimlichen Seelchen, der vor lauter Versteckspiel mit dem eigenen Innenleben längst nicht mehr aus der Jähzorn-Spirale rausfindet. Johannes Hoffmann ist mit seinem bulligen Charme vom Typ her die richtige Liliom-Besetzung, doch die ständig bis zum Anschlag aufgedrehte Sprache, in der die Gewalt immer gleich Lautstärke bedeutet, hat kaum Brüche, ihr Nachlass-Trotz noch im allerletzten Geister-Auftritt bleibt Behauptung. Partnerin Ulrike Fischer weitet als selbstbewusstes Dienstmädchen Julie die persönliche Emanzipation aufs Dekolleté aus (die Kostüme von Kaja Fröhlich-Buntsel signalisieren zwar Gegenwart, finden aber zuwenig Zugang zu den Rollen-Charakteren) und bleibt kühl auf der schon vom Dichter liegen gelassenen Frage sitzen, warum ausgerechnet diese Frau ausgerechnet diesen Loser nicht abserviert. Ach so, die Liebe, ach ja!

Drang zur Wichtigkeit und sinnfreies Tandaradei

Den eigenen, anderen Tonfall für den unkorrekten Molnár sucht die Regie, wenn schon Kasimir und Karoline nicht mit einem Horváth-Gruß hilfreich um die Ecke biegen, übers liebevoll durchgeknetete Detail. Die Polizei tritt als Zwei-Personen-Chor in kurzen Hosen auf, mutiert mit dem gewissen Hüftschwung zu Golden Boys im Jenseits, wo man sich für Konfessionen erfreulicherweise überhaupt nicht interessiert, und räumt den Platz für das kleine Trauma der Video-Flutung. Suchscheinwerfer tasten durch die Arena, der Schnee rieselt durch Lichtwolken. Die Vorbereitung zum Raubüberfall, zu dem sich Liliom von seinem Gauner-Kumpel überreden lässt (Murat Seven macht die Randfigur zum schnarrenden Über-Mephisto) wird wie ein improvisierter Sketch umgesetzt. Lustig, aber sinnfrei. Scharfer Kontrast dazu der immer wieder durchbrechende Drang zur Wichtigkeit an der Bühnenrampe: "Ich bin ein zerlumpter Niemand", sagt der untergehende Held – nachdem nun auch seine frisch gezüchtigte Tochter dank Papas Phantom-Hand erfahren durfte, dass "ein Schlag wie ein zärtlicher Kuss" wirken kann. Aus vielen Einfällen wächst nicht das Tableau, das #MeToo aufregen oder Molnár aufrütteln könnte, und selbst das unbehandelte Männerbein von Rainer Appel bringt für die Diskussion ums Frauen-Bild keinen Fuß in die Tür. Das Premierenpublikum war mit Hand und Fuß ganz zufrieden und applaudierte freundlich.

Liliom
Eine Vorstadtlegende von Ferenc Molnár
Deutsch von Alfred Polgar
Regie: Barish Karademir, Bühne: Andreas Braun, Kostüme: Kaja Fröhlich-Buntsel, Video: Miho Kasama, Dramaturgie: Matthias Heilmann.
Mit: Rainer Appel, Frerk Brockmeyer, Johana Dähler, Tristan Fabian, Ulrike Fischer, Gabi Geist, Johannes Hoffman, Muran Seven, Paul Schaeffer, Lea Urban.
Dauer: 2 Stunden 10 Minuten, keine Pause

www.stadttheater.de

 

Mehr dazu: Liliom gehört in den letzten Jahren offenbar zu den Lieblingsstoffen der Theater, wir besprachen das Stück in der Inszenierung von Christina Paulhofer, im April 2013 in Bochum; in Barbara Freys Version am Burgtheater, ebenfalls im April 2013; in Stephan Kimmigs Lesart an den Münchner Kammerspielen, im März 2014; in Thomas Jonigks Verarbeitung am Staatstheater Wiesbaden, im Juni 2018.

 

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