Manifest der Heimatlosen

von Andreas Wilink

Hamburg, 19. Oktober 2018. Der König schreitet. Nicht gravitätisch, sondern mit Bedacht geht er an der Wand entlang, als messe er etwas aus. Die Grenzen seines Reichs? Wohl eher das Limit seines Lebens. Seine Mitspieler steigen zu ihm hoch von der ersten Reihe Parkett im Schauspielhaus Hamburg auf den nach vorn hin schräg abfallenden Bühnenkasten von Johannes Schütz. Ein Klavier. Ein Stuhl. Ein großer Teppich, der die Landkarte von Lears Herrschaftsraum abbildet. Sonst nur Schatten an den Wänden. Und der Sofortismus des Handelns, mit dem der Alte sich seiner Macht begibt.

Karin Beiers "Lear" in Köln 2009

Konnte die Welt noch dunkler werden? So geborsten, wie sie war – 2009 in Köln. Als "König Lear" eine Frauensache abgab und doch in nichts einem Männer-Ding nachstand. Barbara Nüsse ging für Karin Beier in den Wahn, der sie ihre Wunde aushalten ließ. Mit ihr ging mehr als ein Reich zuschanden, auch ein Eltern-Gefühl. Das Problem, am Leben zu bleiben, ist mehr als Privatsache, ist auch Teil des Politischen.

KoenigLear 1 560 MatthiasHorn uIn zerfallendem Hofstaat: Lear (Edgar Selge, in weißer Unterwäsche) und sein Gefolge auf der Bühne von Johannes Schütz © Matthias Horn

Nun dreht es sich. Die Regisseurin schließt mit diesem Shakespeare eher wieder an die Beschäftigung mit ihm während ihrer jüngeren Jahre an. Männer haben das Sagen, aber keine klare Identitäts-Kontur. Goneril und Regan sind bei Carlo Ljubek und Samuel Weiss zwei kokette, nicht unkomische Geschöpfe, die um den Vater wetteifern, als würde für den Superstar votiert. Mit St. Georg sind die posierenden Gender-Girls per Du, wie auch umgekehrt der schlimme Edmund der Sandra Gerling, der – zunächst als adretter Brit-Pop-Preppy in College-Dress und Bubenschopf – Biopolitik macht. Und dies nicht nur als Bastard-Sohn Gloucesters und Prekariats-Duse, sondern ebenso als Vertreter des Kommenden, der den Generationenvertrag zerreißt und das Diverse der Lebensformen propagiert.

Überhaupt trägt der Stamm Gloucester kurze Hosen: Edgar, wie mit dem Einfaltspinsel rot überstrichen, den Jan-Peter Kampwirth als "armer Tom" zum anarchischen Irrwisch aufputscht; und Ernst Stötzner als Graf, der lernen muss, dass vernunftbegabte Natur in den Wildwuchs wuchert.

Farbe für den Untergang

Die Welt – "What a wonderful world", wie der Narr mit kleiner Stimme singt – muss nicht Schwarzweiß zu Grunde gehen. Sie kann es in Farbe tun und uns dabei eine Nase drehen. Sie ist tollwütig, ungebärdig, politisch diskursiv, schürft sich auf. Manchmal bis aufs rohe Fleisch. Bisweilen wird es einem zu bunt und zu viel. Beier kehrt alle Gravitas unter den Teppich, holt das Stück aus der Zeitlosigkeit des Endspiels in die Gegenwart der Schrecken: mit einem Epilog als revoltierendem Manifest der Heimatlosen, Entwurzelten, Vertriebenen, vorgetragen vom überlebenden Edgar (Kampwirth).

KoenigLear4 560 Matthias Horn uDie Kinder des Schreckens: mittig Samuel Weiss als Lears Tochter Regan und Sandra Gerling als gefährlicher Intrigant Edmund. An der Ziehharmonika: Lina Beckmann als Narr © Matthias Horn

Dieser "Lear" folgt vielen Fährten: der des Geschlechter-Kampfes und seiner variablen Grenzen. Es scheint, als würde erst im Wechsel der Masken das Doppelgesichtige deutlich, als würden Kostüme, Farben, Aufputz, verstellende Identitäts-Attribute das Figuren-Innere ausloten. Shakespeares Drama der Abdankung begibt sich hier zudem in die Dunkelkammern des Alters, die eine Pflegeversicherung nie aufhellen wird. Verfolgt auch undeutlich die Spur der Parolen der Neuen Rechten und einer konservativen Revolution. Die Inszenierung hat eine Menge im Angebot. Etwas weniger im Schaufenster täte nicht schlecht. Der dreistündige Abend ist dann groß, wenn das Ornamentale der Gedanken und der niemals nicht perfekten Gestaltung bröckelt, wenn Kunstfertigkeiten des Showlaufs stolpern, wenn das Glück der reinen Geste zur Ansicht kommt.

Das Glück der reinen Geste

Zum Beispiel: Wellen und das Geräusch der See zu schlagen aus einem Haufen Stoff, wie Kampwirth es tut für den geblendeten Gloucester. Zum Beispiel: Cordelia, brav und hochgeschlossen wie zur Konfirmation, kämmt ihrem Vater die Strähnen. Lina Beckmann wird mit einem leidig verständnissinnigen Schulterzucken die Verstoßung hinnehmen. Am Ende, todeswund, frisiert sie Lear nochmals das Haar. Und zwischendrin tut es der Narr – ebenfalls Beckmann –, bürstet es ihm zu abstehenden Büscheln, als wäre er Professor Unrath. Des Beckmann-Narren große Seele ist schief gewickelt. Jede Borderline schleift sie mit sanftem Mut, ist neurasthenisches Kind, Clown, verstörtes Wesen, hausfraulich putzig bisweilen – und überall obdachlos außer im Spiel. Mit ihr kann einem leicht schwer werden.

Lear im Feinripp: Edgar Selge (mit Carlo Ljubek) © Matthias HornIm Feinripp des hohen Alters: Edgar Selge als König Lear (mit Carlo Ljubek) © Matthias Horn

Nun, und Lear? – Edgar Selge. Wollen wir diesen Mann mögen? Sollen wir ihn mögen? Den harschen, bohrend absprechenden König nicht. Aber den Greis, den die (hier männerlosen) geschmückten Hähninnen und Scheuerweiber-Töchter mit dem Wasserschlauch traktieren, den, dem des Narren Ziehharmonika den Sturm herbeipfeift, den Patienten Lear, der sich eindeutiger Diagnose entzieht, den, dessen Anti-Autorität machtvoll in ihm wird, den, der, bloß im kurzen weißen Hemdchen, im Wahnsinns-Lichte der Erkenntnis strahlt, als er sein Kind Cordelia wiedersieht.

Selge geht am Ende an den Seinen vorüber, den Guten wie Bösen, Opfern und Tätern, und sie kippen einfach um, ohne Geschrei, Blut und Mord. "Die Stille nagelte sie ans Kreuz", um ein ungeheures Bild von Robert Musil zu benutzen.

 

König Lear
von William Shakespeare
Deutsch von Rainer Iwersen
Regie: Karin Beier, Bühne und Kostüme: Johannes Schütz, Musik: Jörg Gollasch, Licht: Annette ter Meulen, Ton: Hans-Peter 'Shorty' Gerriets / Lukas Koopmann, Dramaturgie: Christian Tschirner.
Mit: Lina Beckmann, Sandra Gerling, Jan-Peter Kampwirth, Matti Krause, Carlo Ljubek, Maximilian Scheidt, Edgar Selge, Ernst Stötzner, Samuel Weiss; Musiker: Yuko Suzuki, Akiko Kasai.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.schauspielhaus.de

 


Kritikenrundschau

Karin Beier setze "von Anfang an auf große Bilder und – wie schon so oft – groteske Elemente", berichtet Katja Weise im NDR (20.10.2018). Beier wolle etwas zu deutlich zeigen wie sich "König Lear" in den Konflikten "Jung gegen Alt, rasanter Fortschritt gegen Beständigkeit, Gefühl gegen Macht" gleich einer "Blaupause" auch "auf unsere Zeit legen" lasse, sagt die Kritikerin. "Außerdem verliert sie sich teilweise in Episoden, das gewollt Grelle erschüttert die Intensität. Die Inszenierung hat Längen, was möglicherweise auch an der schwierigen Akustik liegt, etliche Passagen verschlingt der Bühnenkasten regelrecht."

"Vielleicht ist dieser Umgang mit Lear nicht 'aus einem Guss'; dazu stecken zu viele, oft verstörende Einfälle im Szenario. Das ergibt aber einen schönen Kontrast zur weißen Kiste, die das Bühnenbild von Johannes Schütz einmal mehr darstellt", sagt Michael Laages auf Deutschlandfunk (20.10.2018). Edgar Selge als Lear sei "(wie zu erwarten) ein Theater-Ereignis; aber in der Inszenierung hat er so viele Schauer-Bilder zu bewältigen, dass er nie in Gefahr gerät, die eigene Wichtigkeit zu überschätzen; Narr Beckmann ist immer in der Nähe", so Laages. Allerlei Widerspruch mische sich am Ende in den Beifall – "kann ein Weltstadt-Publikum etwa immer noch nicht ertragen, das Menschen nackt sind, wenn sie leiden?"

Als "große Leistung der dreistündigen Inszenierung" bezeichnet Werner Theurich es auf Spiegel online (20.10.2018), "dass hier die Balance aller Schicksale ständig neue Spannung erzeugt, Edgar Selge natürlich als Zentrum wirkt, aber alle anderen keine Satelliten eines Fixsterns sind, sondern ihre Kraft aus sich selbst entfalten". Die "sehr abwechslungsreiche Bühnenmusik" von Jörg Gollasch wirke noch intensiver durch das Pianospiel von Yuko Suzuki, "deren Präsenz diesem Atmosphärefaktor eigenes Gewicht verlieh". Theurichs Fazit: "Keine Sekunde Langeweile, ein 'König Lear', der fordert, aber jederzeit ergreift. Beifall fürs Ensemble, ein einsames 'Buh' für die Regie. Aber vielleicht gehörte das ja zur Inszenierung."

"Das war nicht die Shakespeare-Tragödie. Das war nicht das existenzialistische Menschendrama. Das war nicht das wuchtige Stück über den vorzeitigen Generationswechsel. Das war nicht die bittere Familientragödie, in der ausgerechnet die Liebe in die Katastrophe führt, weil sie sich nicht angemessen dosieren lässt. Das war nicht einmal die Beschreibung einer unlesbaren Welt in Zeiten des grassierenden Populismus, sondern eine verworrene Regiehandschrift", schreibt Stefan Grund in der Welt (22.10.2018). "Karin Beier weiß mit Lear nichts anzufangen. Ihre Inszenierung lässt den Zuschauer innerlich unberührt zurück."

"Ka­rin Bei­ers kraft­vol­le, durch­dach­te, thea­tra­lisch über­schwäng­li­che In­sze­nie­rung brei­tet das Er­zähl­ba­re aus, oh­ne sich um das Un­er­zähl­ba­re zu drü­cken. Sie ent­ideo­lo­gi­siert das Stück und macht es voll Em­pa­thie und Frei­mut als be­stür­zen­des, be­red­tes Spiel­ma­te­ri­al er­leb­bar", schreibt Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (22.10.2018). "Die Ele­gi­en des Ver­schwin­dens sind zu­gleich auch un­se­re letz­te Mes­se, die Ka­rin Bei­er mit ih­rem fa­mo­sen En­sem­ble ein­dring­lich und kon­zen­triert, span­nend und er­schüt­ternd zu ze­le­brie­ren weiß."

Für Christine Dössel von der Süddeutschen Zeitung (24.10.2018) ist Karin Beiers Shakespeare-Abend "mehr eine geistvolle Improvisation zu dem Stück als eine szenisch und psychologisch griffige Nacherzählung". Der Abend zeige "Bilder wie aus einem Spuk in Lears Kopf, Szenen, die wie erinnert wirken und in der Erinnerung verzerrt". Nicht alle "flackernden Bildassoziationen" von Beier seien "ergiebig; manches ist eigenartig, diffus. Aber atmosphärisch klug und konsequent kombiniert, ergibt dieses 'Lear'-Material doch einen fruchtbaren (mithin auch furchtbaren) Resonanzboden für Beiers tieftraurige Erzählung vom Schmerz an der Welt."

"Wie kommt es nur, dass die­se In­sze­nie­rung so kal­ku­liert, so 'aus­ge­rech­net' und nach al­len Sei­ten ab­ge­si­chert wirkt? Weil es ei­ne Zet­tel-ar­ti­ge In­sze­nie­rung ist, die sich (...) in je­der Se­kun­de zu den gro­ßen The­men der Welt 'ver­hält'", schreibt Peter Kümmel in der Zeit (25.10.2018). Zu mer­ken sei vor al­lem ein auf Dau­er läs­ti­ger Drang, die Sze­nen 'sa­ti­risch' zu über­schmü­cken, "als wä­ren Poin­ten Fran­sen". 'Kö­nig Lear' er­reiche bei Wei­tem nicht die In­ten­si­tät und den ver­zwei­fel­ten Über­mut von 'Un­ter­wer­fung', der letzten Zusammenarbeit Karin Baiers mt Edgar Selge.

Die bis dato "highest-profile Shakespeare production" in dieser Saison in Deutschland ist der New York Times (2.11.2018) eine Besprechung wert. Als Karin Beiers "most radical idea" erscheint dem Kritiker A. J. Goldmann die Besetzung der negativen Charaktere des Stücks mit Spieler*innen des jeweils anderen Geschlechts. "The actors Carlo Ljubek (Goneril), Samuel Weiss (Regan) and Sandra Gerling (Edmund) are all wonderfully invested in their villainy, but the cross-dressing daughters lend the production a campy edge." Zum Lear von Edgar Selge heißt es: "Physically, it’s a no-holds-barred performance, featuring ample nudity, a hosing-down and several eggs cracked against the septuagenarian’s skull. Psychologically, however, the portrayal is less convincing, as Mr. Selge doesn’t quite find a way out of the king’s madness after his reunion with Cordelia."

 

Kommentare  
König Lear, Hamburg: Fremdwörterlexikon
So viele schöne Fremdwörter.
Aber der Text gibt mit gar nichts, außer der Erkenntnis, dass der Autor anscheinend gerne im eigenen Intellekt badet.
Ich bin noch nie beim lesen einer Nachtkritik zu den Werbebannern abgeschweift. Heute habe ich sie als interessanter als die Kritik empfunden.
König Lear, Hamburg: nicht aufgetrumpft
Im schlecht sitzenden Anzug von der Stange schleppt sich ein alter Mann an der Bühnenwand entlang: die Haare zerzaust, die Mundwinkel hängend, die Körpersprache matt und abgekämpft. Edgar Selges „Lear“ hat so gar nichts Königliches mehr an sich. Er ist ein alter Mann, der spürt, dass er den Anschluss verloren hat und nicht mehr auf der Höhe der Zeit ist. Jähzornig ist dieser Lear nicht. Wenn er mal aufbrausend wird, ist das nur noch ein letztes, zaghaftes Aufbäumen. Aber sichtlich besorgt ist dieser Lear. Vermutlich wäre er sehr empfänglich für die populistischen Parolen der AfD, die das angeknackste Ego älterer Männer streicheln.

Vor allem ist Lear empfänglich für die Schmeicheleien seiner beiden älteren Töchter. Carlo Ljubek (Goneril) und Samuel Weiss (Regan) liefern sich einen witzigen Gesangs-Wettstreit, wer die schöneren Songs schmettern kann und höher in der Gunst des abgehalfterten Vaters steht, dessen Erbe bekanntlich verteilt werden soll. Die beiden Töchter treten als Drag-Prinzessinnen auf, vor allem Carlo Ljubek spielt in schön schlangenhafter Lauerstellung.

Von dem Starensemble um Edgar Selge in der Titelrolle, Ernst Stötzner als Gloucester (der zweite alte, abservierte, getäuschte Mann in diesem Stück) und Lina Beckmann, die sowohl die jüngste Tochter Cordelia als auch den Hofnarren von Lear spielt, ist das ein oder andere Kabinettstücken zu sehen: In unnachahmlicher Lina Beckmann-Art stakst sie als Narr mit Akkordeon durch weite Strecken des Abends, fährt zu Beginn und am Ende als Cordelia zärtlich mit ihrer Bürste durch das schüttere und im Lauf des Abends noch zerzaustere Haar ihres Vaters. Edgar Selge hält ergriffene Verzweiflungs-Monologe, Ernst Stötzner wird in einem poetischen Moment von seinem Sohn Edgar (Jan-Peter Kampwirth) über die Bühne bis zu den Klippen von Dover geführt, nachdem ihm die Feinde seine Augen ausgestochen haben.

Karin Beier fehlt zur Eröffnung ihres frisch renovierten Hauses jedoch eine überzeugende Regie-Idee, wie sie die Shakespeare-Tragödie auf die Bühne bringen kann.

Als bis auf Edgar und Kent alle Protagonist*innen zu Boden getaumelt sind und Lear seine letzten Worte vom „Nie wieder“ hingehaucht hat, lässt Beier ihren Edgar (Kampwirth) noch einen Monolog sprechen, der voller Buzzwords aktueller Leitartikel um Heimat, Flucht und Asyl kreist. An der Rampe wäscht Kent (Matti Krause) die Leiche von Lear, während Edgar ihn umkreist und die Zuhörer*innen seines Monologs zum Tanzen auffordert.

Dieser Schluss wirkt wie ein Nachklapp ohne sinnvolle Anbindung an den restlichen Abend, der eine solide Klassikerbearbeitung war, ohne dass das hochkarätige Ensemble wie erhofft auftrumpfen konnte.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2018/10/20/koenig-lear-schauspielhaus-hamburg-kritik/
König Lear, Hamburg: Vollblut-Theater
Es gab einige Buhs am Ende, was unverständlich ist. Warum? Wilink schreibt, es sei "eine Menge im Angebot", und "etwas weniger im Schaufenster" wäre nicht schlecht. Das stimmt auch irgendwie. Aber der große, ja riesige Pluspunkt der Inszenierung ist, dass er eben etwas ins Schaufenster stellt. Es ist Vollblut-Theater, Vollblut-Spiel, es wird etwas aufs Spiel gesetzt. Manchmal kippt das und wird ein wenig albern, aber dann fängt es sich wieder und wird groß. Es ist ein Ritt auf Messers Schneide. Mit einem virilen Lear, der (vorerst) nicht senil, sondern nur leichtfertig ist, um danach von den Anderen förmlich in die Senilität getrieben zu werden. Und einem Narr - Wilink erwähnt es -, der "What a wonderful world" singt, dass es einem die Augen feuchtet. Wer das ausbuht, dem ist im Theater nicht zu helfen.
König Lear, Hamburg: Gelungener Spielzeitauftakt
So weit ich das mitbekommen habe, hat es sich um einen Buhrufer gehandelt, der sich dafür besonders lautstark mehrmals zu Wort gemeldet hat. Sogar als nur die Schauspieler ihren Beifall entgegenommen haben, was nun wirklich völlig unverständlich ist. Zudem kamen als Reaktion auf das Buh auch prompt Bravorufe.
Ich denke, dass die Inszenierung einige Zuschauer verstört und vielleicht ein wenig ratlos zurückgelassen hat. Aber das ist ja nicht das Schlechteste, was ein solcher Abend bewirken kann und zeigt eher, dass sich viele an die gegenwärtig hier herrschende Situation erinnert gefühlt haben und Beier die Aktualisierung gelungen ist.

zu#1: Die Kritik von Andreas Wilink beschreibt den Abend ziemlich genau und ist meiner Ansicht nach nachvollziehbar, überzeugend und fundierter als viele Theaterkritiken, die man sonst zu lesen bekommt.
König Lear, Hamburg: Unwahrheit
Betr.: Kommentar # 4
Warum tun Sie das? Warum behaupten Sie hier Unwahrheiten, die Sie mit einleitenden Worten >>soweit ich das mitbekommen habe<< versehen? Entweder waren Sie nicht in der Vorstellung oder Sie haben es eben nicht mitbekommen: Es handelte sich nicht um einen Buhrufer. Ich habe gebuht. Neben mir hat ein anderer Herr gebuht. Und es waren im Zuschauerraum noch mehrere andere Buhs zu vernehmen. Die Buhs galten Frau Beier und ihrem Team. Und es gab im Übrigen kein einziges Buh, als die Schauspieler allein ihren Applaus entgegennahmen, wie Sie ebenfalls unwahr behaupteten.
König Lear, Hamburg: Wahrnehmung
@Kommentar 4 Interessant, wie unterschiedlich Wahrnehmungen sein können. Man mag sich darüber streiten, ob ein Publikum seinen Unmut oder seine Überforderung mit einer Inszenierung mit Buh-Rufen ausdrücken soll oder nicht - ich persönlich finde Buh-Rufe zum Beispiel nicht tragisch, sie zeigen lediglich, dass die Inszenierung nicht den Geschmack von allen getroffen hat, das muss aber nicht zwangsläufig gegen die Inszenierung sprechen - aber ihre Beschreibung ist meiner Wahrnehmung doch sehr gegenläufig. Ich habe während des Schauspielerapplauses kein einziges Buh gehört, bei der Regie allerdings mehr als nur einen einsamen Rufer. Das muss aber, wie gesagt, nicht gegen die Inszenierung sprechen und kann deswegen getrost so wiedergegeben werden.
König Lear, Hamburg: Richtigstellung
Zu #5:
Sie waren das also! Und ihr Nachbar. Ist er irgendwie mit ihnen verwandt oder verschwägert? Die Stimme hat sich nämlich sehr, sehr ähnlich angehört. Deshalb hatte ich meinen Kommentar mit den Worten eingeleitet: "So weit ich das mitbekommen habe ..." Es lag mir fern, Ihre Buhrufe (und die Ihres Sitznachbarn) nicht ausreichend zu würdigen. Wenn Sie mir das persönlich übelnehmen, möchte ich mich hier in aller Öffentlichkeit dafür entschuldigen. Der Zuschauersaal im Schauspielhaus ist nun einmal riesig, und da ich im ersten Rang gesessen habe, hatte ich keine Einsicht in den zweiten Rang und auch nur sehr begrenzt ins Parkett. Ich musste mich also auf mein gehör verlassen.

PS: Die Unterstellung, dass ich hier absichtlich die Unwahrheit verbreitet hätte, weise ich aufs Schärfste zurück. Dazu ein dezidiertes Buh von meiner Seite (und von meinem Sitznachbarn).

zu #6:

Auch ich finde Buhrufe keinesfalls tragisch. Im Gegenteil. Mir sind Inszenierungen lieber, die inhaltlich und künstlerisvh polarisieren, als gefälliges Unterhaltungstheater. Meine Anmerkung betreffend der Buhrufe bezog sich nur auf die einleitende Worte von #3: "Es gab einige Buhs am Ende". Und ich bleibe bei meiner Wahrnehmung: Es gab auch ein Buh, als das Regieteam bereits wieder abgetreten war und die Schauspieler erneut auf die Bühne gekommen waren, um ihren Beifall in Empfang zu nehmen. Und damit wollte ich nur andeuten, wie dämlich diese Buhs meiner Ansicht nach waren. Nichts für ungut.
König Lear, Hamurg: Lear als Pflegefall
Wir haben 1992 im Thalia-Theater den großen Will Quadflieg als König Lear gesehen, der selbst noch im Wahnsinn majestätisch auftrat.
Edgar Selge hingegen, der ein ebenso großer Schauspieler ist, wurde von der Regie genötigt, von Anfang an den gebrechlichen armen alten Mann zu geben, der schon beim ersten Wutanfall völlig senil wirkte und dann im Verlauf der Handlung immer mehr zum Pflegefall wurde. Und warum musste er den Narren erwürgen? Das kommt im Stück gar nicht vor, wie denn auch sonst die Werktreue öfter zu wünschen übrig ließ. Absolut überflüssig war der moralinsaure Epilog von Edgar.
Die Besetzung der „bösen“ Töchter mit drag queens war reiner Klamauk, man dachte an Charlys Tante. Aber eines war diese Aufführung mit Sicherheit nicht: langweilig. Man hätte sich nur mehr Ernsthaftigkeit für diese wirklich tragische Geschichte gewünscht.
König Lear, Hamburg: Pole Position
@Schöne neue Welt: Der Herr neben mir ist ein sehr guter Freund. Er hat allerdings eine eigene Meinung. Unsere Meinungen gehen öfter auseinander. Er war an dem Abend so verärgert wie ich. Ich gehe sehr oft mit ihm in Oper und Theater. Ich habe ihn nach dem Lear zum ersten Mal in meinem Leben buhen gehört. Es gab noch andere Buhs für die Regie aus dem Zuschauerraum. Für die Schauspieler gab es kein einziges Buh. Ich saß im Parkett 5. Reihe Mitte. Dort bekommt man Mißfallenskundgebungen akustisch bestens mit.
König Lear, Hamburg: Für und Wider
Gestern abend, 3sat Kulturzeit, letzter Beitrag - Bilder der Inszenierung und ja, auch Buhrufe waren zu hören, ein Schwenk übers Publikum im Parkett...nur für den Fall, jemand möchte das Für&Wider von (gewesenen) Missfallenskundgebungen nochmals in Wort&Bild nach-sehen.
Die Bemerkung des Kommentators, dass Frau Beyer sich aufgrund der Buhrufe nicht ein 2.Mal verbeugt hat,fand ich ziemlich deplaziert.
König Lear, Hamburg: kreativitätsfördernd
@10: Vorschlag: die Inszenierungen an den Theatern weglassen, gleich die Kreativität und Ausführung von Verbeugeordnungen als Inszenierung gelten lassen und entsprechend beklatschen.
König Lear, Hamburg: grandioses Ensemble
König Lear oder Fluch der Zeit
Karin Beier inszeniert erneut König Lear als Eröffnungspremiere am renovierten Deutschen Schauspielhaus in Hamburg. Die Bühne (Johannes Schütz) ein schräg ansteigender Kasten. Spärliche Requisiten: ein Klavier, Stühle, ein Tisch, ein Teppich und Schatten an den Wänden. Dieser Abend gehört dem grandiosen Ensemble, welches letztlich der Garant für den Erfolg ist. Die beiden Handlungsstränge Lear und Gloucester handeln von Altersangst, Machtgelüsten der Nachkommen, Undankbarkeit, Auflösung familiärer Beziehungen und einer chaotischen Welt ohne natürliche Bindungen. Lear (Edgar Selge) ein alter König am Ende seiner Macht, lässt sich bei der Übertragung seiner Macht von den Heucheleien seiner ältesten Töchter Goneril (Carlo Ljubek) und Regan (Samuel Weiss) hinters Licht führen und erkennt nicht die Wahrhaftigkeit seiner jüngsten Tochter Cordelia (Lina Beckmann), die er verbannt. Lear fürchtet von der Jugend verdrängt zu werden und in der Bedeutungslosigkeit zu versinken. Entgehen möchte er dieser Schmach indem er den Verlust der Macht in bedingungslose Liebe umformen möchte. Die beiden älteren machtgeilen und auf ihren Vorteil bedachten Töchter mit Schauspielern zu besetzen ist reizvoll und entbehrt nicht einer komödiantischen Ironie. Ebenso Gloucester (Ernst Stötzner), der den wahren Charakter seines Sohnes Edgar (Jan-Peter Kampwirth) nicht erkennt und sich von seinem unehelichen Sohn Edmund (Sandra Gerling) hinters Licht führen lässt. Genial, dass in diesem Fall der egoistische Bastard von einer Frau gespielt wird. Sandra Gerling als Edmund ist für mich die Entdeckung dieses Abends und in ihrem empathischen Spiel einer der Stars dieser Inszenierung. Das nicht Erkennen der wahren Charaktere ihrer Kinder führt beide Lear und Gloucester ins Verderben, da die Gier der Erben (Goneril, Regan, Edmund) nach Besitz und Macht sie zu Bestien macht. Ein weiterer Glanzpunkt des Abends der Narr (Lina Beckmann). Er ist der Spiegel des alternden Lear und begegnet ihm ständig mit nackter Realität. Lina Beckmann begeistert mit kluger und komödiantischer Mimik und Gestik und wandelt sich, wie ein Chamäleon die Farbe. Lear muss erkennen, dass alles vergeht, weil stets neues entsteht. Man kann nicht gegen die Zeit stehen, man kann sich aber auch nicht aus der Zeit stehlen. Altern ist das Welken des Körpers und gesellschaftlicher Systeme und Vorbote des Todes. Selbst das Theater scheint im Fortgang der Handlung zu zerfallen. Reale und visionäre Orte (Klippen), echter und gespielter Wahnsinn (Lear versus Poor Tom). Selbst der Zuschauer muss der eigenen Sinneswahrnehmung entgegenarbeiten; denn die Schauspielerin lebt und atmet und ist nicht tot. Erlösung gibt es nicht. Edgar Selge als Lear erreicht nicht die Intensität seines François in Unterwerfung und ist auch kein Lear wie Bernhard Minetti oder Barbara Nüsse. Er ist ein König im grauen Anzug, eine bedauernswerte Person nach dem Verlust der Insignien seiner Macht. In meinen Augen durch den Zeitbezug der Regie von Karin Beier zu eindimensional angelegt, um die Verzweiflung dieser Person auszuloten, die im Wahnsinn, Überleben findet. "What a wonderful world" singt der Narr zurückhaltend und leise. Doch diese Welt ist bestialisch. Beier konfrontiert mit dem Schrecken der Gegenwart im Epilog durch Edgar: sein revolutionäres Manifest der Heimatlosen und Entwurzelten. Am Ende geht Lear an den Überlebenden vorüber, den Guten und Bösen, Opfern und Tätern, sie fallen nacheinander um, still und ohne Blut. Lear ein Abend der vieles bringt aber durch allzu viel ironisches, satirisches und groteskes Beiwerk an Bedrohlichkeit und Ausweglosigkeit verliert.
König Lear, Hamburg: enttäuscht
Von den vielen positiven Kritiken beflügelt, habe ich mich gestern erwartungsfroh ins Schauspielhaus begeben. Leider bin ich recht enttäuscht worden.
Die Aufführung war nicht dazu angetan, mich in ihren Bann zu ziehen. Vielmehr habe ich mich zunehmend gelangweilt gefühlt.

Mit zunehmender Langweile musste ich mehrmals an "The Madness of King George" (mit Nigel Hawthorne in der Titelrolle) denken. Zum Ende des genannten Films kehrt der Verstand zu King George III. zurück. Gemeinsam mit dem Lord Chancellor und anderen Bediensteten lesen sie sich gemeinsam King Lear vor. Am Ende lobt der Lordkanzler seinen König dafür, dass er "very affecting" lese bzw. spiele.

Genau das habe ich gestern vermisst. So wie Stefan Grund (Welt) es in seiner Kritik zusammenfasst, bin auch ich innerlich völlig unberührt geblieben und das obwohl ich mit allen Sinnen "auf Empfang" eingestellt war. Schade.
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