Gesichter auf Trockeneis

von Andreas Klaeui

Zürich, 20. Oktober 2018. Es gibt ja manchmal die Theatermomente abseits jeder Planung, die in ihrer Niedlichkeit eine ganze Inszenierung zu konkurrenzieren vermögen. So ein Moment war am Samstag in Zürich zu erleben. Just in der absoluten Stille jener Sekunde zwischen Spiel und Applaus, nachdem sich der Vorhang schon gesenkt hat, aber bevor der (enden wollende) Applaus einsetzte, war die greise und offensichtlich perplexe Stimme eines Zuschauers zu vernehmen: "Chunnsch du druus?" (Kommst du draus?).

Kowalskis Fuß am Karussell

Dabei war das gar nicht das Problem der Inszenierung. Eher im Gegenteil. Bastian Kraft zeigt "Endstation Sehnsucht" in Zürich in einem cleanen, überdeutlichen Setting. Die Bühne, die Peter Baur dazu gebaut hat, ist ein Präsentierteller: ein leicht erhöhtes Quadrat, das sich im Mood der Szenen und mit der Dynamik der Figuren dreht, mal schneller, mal langsamer. Ein Kraftprotz wie Kowalski kann es auch mit einem darauf gesetzten Fuß zum Stehen bringen, oder es lässt die Figuren wie im Schwindel am Publikum vorbeifliegen.

EndstationSehnsucht2 560 ToniSuter uAlles dreht sich in "Endstation Sehnsucht" mit Lena Schwarz als Blanche, Henrike Johanna Jörissen als Stella und Michael Neuenschwander als Kowalski © Toni Suter / T+T  

Abseits davon im Bühnenportal steht Miriam Maertens als Nachbarin Eunice und singt zwischen den fünf Tragödien-Akten Songs von Tom Waits, mit erstklassig verhärmter Intonation. Das ist stimmungsvoll.

Wie auch, dass sich über die Drehbühne manchmal eine flüchtige Wand aus Trockeneis senkt, in Nahaufnahme projizierte Schauspielergesichter verschwimmen darin, verzerrt, fragmentiert – es ist ästhetisch berückend, wie insgesamt der Abend, wenn man ihn allein unter einem handwerklichen Aspekt betrachtet.

Menschliche Witterung

Bastian Kraft findet klare Haltungen für Tennesse Wiliams' Figuren und stellt sie auf dem Präsentierteller aus, breitbeinig steht da Kowalski und krempelt sich noch die kaum vorhandenen Ãrmel am T-Shirt hoch; flattrig huscht Blanche vorüber oder hält sich an ihrem weißen Koffer fest. Und die Zürcher Schauspieler*innen legen sich mit Verve ins Zeug: Michael Neuenschwander als Kowalski, der Proll, fährt auf, was ihm an Machoformaten zur Verfügung steht, rollt sich auch mal misstrauisch unter der Drehbühne durch, und als er Blanche zum ersten Mal sieht, bleibt er bockbeinig stehen und nimmt regelrecht Witterung auf.

Henrike Johanna Jörissen ist eine abgeklärt gutmütige Stella, die nichts so schnell erschüttern kann, die Kapricen ihrer Schwester nimmt sie einigermaßen gelassen. Diese – die große Lena Schwarz – fährt herrisch aus sich heraus oder schmiegt sich wie ein Kätzchen an, nur um sogleich wieder die Krallen auszufahren. Ab ihrem ersten Auftritt überzieht sie Kowalskis Milieu mit dem vergilbten Firnis eines späten Südstaaten-Mädchendaseins. Kichernd überschüttet sie Mitch – den Klaus Brömmelmeier weniger athletisch als einfältig zeigt – mit dem, was sie für Pariser Frivolität und "Joie de vivre" hält, der arme Tropf versteht ja eh kein Französisch.

In andere Welten phantasiert

Kowalski wiederum drangsaliert sie mit Versatzstücken klassischer Bürger-Bildung, schon bei der allerersten Begegnung mit ihm löst sich fast unmerklich ein Teil ihres Décolletés. Zunehmend melodramatisch belegt diese Blanche ihr Umfeld mit einer nervösen Salon-Hysterie, bis sie sich am Ende mit opernhaftem Heroismus in die selbstfantasierte Tragödie schickt – ermordet durch eine vergiftete Traube in den Armen eines schönen jungen Schiffsarztes – beziehungsweise vom herbeigerufenen Psychiater wie von einem Traumprinzen abführen lässt, mit schmachtendem Teenagerblick.

EndstationSehnsucht1 560 ToniSuter uGroßer Auftritt für Lena Schwarz zwischen Pariser Frivolität, Südstaaten-Elend und dem großen Wunsch: "Ich will keine Wahrheit, ich will Phantasie". © Toni Suter / T+T

Es ist der Abend der Lena Schwarz. Es ist ein großer Spaß, ihrer Blanche zu folgen, der faszinierenden Klimax, die sie der Figur zu geben vermag. Aber war da nicht auch noch anderes bei Tennessee Williams? Ging es da nicht auch um politische und ökonomische Systeme in der Krise beziehungsweise um deren Ablösung, um soziale Minisysteme, die sich in den Figuren manifestieren?

Guter Text, fremder Stoff

Bastian Kraft zeigt ihre Individualität. Die sozialen Codes muten dabei an wie Folklore. Verschwitzt ist hier gar nichts, alles clean – und anderseits deshalb auch kein Traum verbindlich. Was Kraft zeigt, ist das Wellmadeplay aus einer fernen Welt. Seine Inszenierung erweist in virtuoser Darstellung – und aller Deutlichkeit –, wie unglaublich gut dieser Text geschrieben ist, aber auch wie fremd dieser Stoff uns schon geworden ist.


Endstation Sehnsucht
von Tennessee Williams
Deutsch von Helmar Harald Fischer
Regie: Bastian Kraft, Bühne: Peter Baur, Kostüme: Sabin Fleck, Video: Jonas Link, Musik: Arthur Fussy, Licht: Michel Güntert, Dramaturgie: Karolin Trachte.
Mit: Lena Schwarz, Henrike Johanna Jörissen, Michael Neuenschwander, Klaus Brömmelmeier, Miriam Maertens, Nicolas Rosat, Roger Hofstetter, Severin Mauchle, Barblin Leggio, Lukas Baumann.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.schauspielhaus.ch

 

Kritikenrundschau

Lena Schwarz als Blanche brauche nur ihren Kopf zu drehen, und schon ist klar: Da steht eine verlassene, zutiefst verunsicherte Seele, schreibt Tobias Gerosa in der Neuen Zürcher Zeitung (22.10.2018). "Schwarz reichen dafür kleinste Bewegungen." Regisseur Bastian Kraft mache sie aber auch viel stärker zum Opfer, als bei Tennessee Williams vorgesehen. Mit der Präsentierteller-Bühne gelinge ihm eine sinnfällige Setzung, gradlinig erzählt. Und doch: den entscheidenden Hebel finde Kraft nicht, um die Geschichte anders als brav zu erzählen. "Das ändert auch die entschiedene Lena Schwarz nicht entscheidend."

Kraft knallt Blanches Verlorenheit manchmal auf die Bretter wie sie selbst ihren weißen Koffer, schreibt Alexandra Kedves im Tagesanzeiger (22.10.2018). Der Regisseur drücke dem Finale aber dennoch nicht die "jene harte Hoffnungslosigkeit auf", die der US-Dramatiker 1947 ins Stück einschrieb. "Entschiedene Lesarten passen nicht zur Arbeit des Wahlzürchers Kraft." Mit Lena Schwarz' Darstellugn der Blanche gewinne man pas­sagenweise, "was man eben Tiefenblick nennen könnte; Theaterzauber; fiktionale Wahrheit, die wehtut." Ingesamt aber auch eine "glattpolierte, brave Williams-Visite", Blanche werde brutal "geknetet, zu Klump geballt, verworfen – und wir schauen fasziniert zu. Aber fühlen nur selten mit".

Als "als drittklassiger Abklatsch einer mittelmäßigen Boulevard-Inszenierung" erscheint diese Zürcher Arbeit Simon Strauss von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (24.10.2018). "Ohne Interesse an den psychologischen Tiefen oder dramatischen Sympathiewenden des Stoffes." Lena Schwarz besitze in der Rolle der Blanche "zwar einen gewissen Diven-Charme, aber auch sie kommt in dieser kleingeistigen Inszenierung keinesfalls über ein mittleres Maß an Behauptungsspiel hinaus".

 

 

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