Trattoria Utopia

von Steffen Becker

Tübingen, 20. Oktober 2018. "Der bleierne Lauf der Geschichte ist ein Arschloch". Okay, dass die Welt den Bach runtergeht, das hat man sinngemäß schon mal gehört. Auch beim Untertitel "Aufbruch nach Utopia" fühlt man noch nicht den Dampf von heißem neuem Theater-Scheiß. Der Auftakt zur neuen Intendanz am Zimmertheater Tübingen geht aber einher mit einer Herangehensweise, die die Umfirmierung des Theaters in ein "Institut für theatrale Zukunftsforschung" beschreibt. Und die merkt man dem Stück von Autor und Co-Intendant Peer Ripberger an. Es entstand in großen Teilen in der Stadt und unter dem Eindruck ihrer Menschen. Die erkennen sich wieder, was im Premierenpublikum sowohl für Heiterkeit als auch für offene Unmutsbekundung sorgt.

Tübingen ist eine Boom-Town. Wachsende High-Tech-Wirtschaft, wachsende Exzellenz-Uni. Das lockt hochgebildete Neubürger mit Öko-Gewissen an – für die man flächenfressende Neubaugebiete braucht. Das Stadtbild ist Bio und Touristen-Trash, Genossenschaftsläden und Luxus-Wohnen. Diese Widersprüche spießt die Inszenierung genüsslich auf. Im Vorraum des Zimmertheaters steht ein Suhrkamp-Verkaufstisch mit Klassikern der Kapitalismuskritik. Und auch der Text hat alle Versatzstücke, mit denen deren Leser aus dem Tübinger Uni-Umfeld beim Rotwein im Nobel-Italiener um sich werfen. Klimakrise, Raubtierkapitalismus, Gender-Ungerechtigkeit, Konsumwahn. Alles schlimm, da gehen alle mit.

Was könnte man besser machen?

Die Utopie einer anderen Stadt fällt auf weniger fruchtbaren Boden: Nur noch gemeinschaftliche Räume (außer Schlafkabinen für Kinder), Hunde dürfen wählen, ob sie im Rudel oder bei Menschen leben, Unterkünfte für Ratten, Nacktschnecken und Silberfische (moduliert von Kompostist*innen), "wir brauchen einen neuen Humus." Das ist ernst gemeint oder zumindest unironisch vorgetragen. Der wiederkehrende Einwand "Ist es nicht ein bisschen naiv, hier auf der Bühne solche Ideen zu formulieren?" wird aus dem Publikum mit einem pampigen "Ja" quittiert.

BleierneLaufDerGeschichte 2 560 acameo uIm utopischen Gewächshaus: der Auftakt des neuen Teams am Zimmertheater Tübingen © acameo

Die eigentliche Brechung der Utopie verlegt Autor und Regisseur Ripberger dann hinter eine durchsichtige Leinwand. Auf mit schimmernden Folien beklebten Waben (Stichwort Bienenhotel – großes Thema im Text) hat er Topfpflanzen platziert. In dieser Umgebung basteln die fünf Schauspieler*innen an einem Picknick. Während sie vor der Leinwand als reine Sprechwerkzeuge für die Theorie agierten, haben sie dahinter in der stummen utopischen Praxis einen Defekt. Sie bewegen sich ungelenk, unnatürlich – als wäre die Suche nach einem gegenüber der Natur friedfertigen Dasein für Menschen fremdartig.

Aus den umständlich vom Plastik befreiten Bio-Zutaten schaffen sie ein schön designtes Mahl, das man auch auf die Tische der vielen veganen Hipster-Restaurants der Tübinger Altstadt stellen könnte. Bei der Verköstigung (inklusive Tee in ausgehöhlten Äpfeln) stellt es sich als totaler Flop heraus. Auf der Leinwand werden derweil primitive Lebensformen bei der Zellteilung und der perfekten Symbiose mit ihrer Umgebung gezeigt. Botschaft: Im Vergleich dazu produziert der Mensch auch bei bestem Willen nur Müll.

Ehemalige Apotheke

Das Tübinger Publikum lacht und empört sich über diese Zumutung. Halten wird es sich wahrscheinlich an eine pragmatische Textstelle – "wenn ich heute Abend nach Hause komme, kann ich doch niemanden mehr anrufen und fragen, ob er oder sie die Welt verändern möchte. Ich meine, die schlafen dann doch alle."

Aber es ist auch gewarnt. Die Spielstätte war mal die Mischel-Stube einer Apotheke. Und heute will das Zimmertheater mit Uraufführungen und Performances ein Labor für Zukunftsvisionen werden. Ein Team, bei dem sich zum Start zwei Beteiligte das Wabenmotiv des ersten Bühnenbildes auf Brust und Kopf tätowieren lassen, meint es zweifellos ernst.

Der bleierne Lauf der Geschichte ist ein Arschloch. Aufbruch nach Utopia
von Peer Ripberger
Regie und Text: Peer Ripberger, Video: Katarina Eckold, Ausstattung: Raissa Kankelfitz, Dramaturgie: Maike Tödter.
Mit: Anaela Dörre, Mario Högemann, Nina Karimy, Thea Rinderli, Christopher Wittkopp.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.zimmertheater-tuebingen.de


Kritikenrundschau

Das Stück ist Textcollage, Montage, eine Sammlung utopischer Perspektiven, aufgefunden im Werk zeitgenössischer Intellektueller, schreibt Thomas Morawitzky im Reutlinger General-Anzeiger (22.10.2018) Formulierte Gedanken, "in denen Grenzen aufgehoben, Verhältnisse neu gedacht werden. All dies ist in Peer Ripbergers Text eingeflossen". Die Schauspieler bewegen sich in einem "fantastischen ausgestatteten Bühnenbild. Traumhaft ruckend nähern sie sich einander, entfernen sich, berühren sich." Auf Verwandlungen, Momente, in denen die Schauspieler mimetische Stärken zeigen, warten die Zuschauer vergebens. "Die Absage an traditionelle Theaterformen, an psychologisierende Darstellung, weist in die Zukunft des Zimmertheaters, verrät aber nicht zu viel." Fazit: Der Abend "konfrontiert das Publikum mit etwas Neuem: ein Stück, das fordert, irritiert, bunt und trocken zugleich, nicht ohne Zauber und doch provozierend plakativ."

"Eine auf Stimmen aufgeteilte Textsammlung, ein politisches Manifest anstelle eines Theaterstücks. Gedanken zur Zukunft, die gegen die Prediger des alternativlosen 'Weiter so!' schon nötig wären, werden hier selbstgewiss widerspruchsfrei präsentiert – und auch weitgehend frei von Schauspiel", so fasst das Schwäbische Tagblatt (22.10.2018) den Premierenverriss von Peter Ertle zusammen. Schauspieler würden an diesem Abend "zu Vorträgern"; statt einer Laborarbeit lieferten die Theatermacher "Glaubensartikel", heißt es in der Rezension von Ertle.

 

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