Lass die Maske an, Maskenmann

von Valeria Heintges

Basel, 26. Oktober 2018. Wie sehr Nuran David Calis die Uraufführung seines "Othello X" im Basler Schauspielhaus ein Herzensanliegen war, war auch an seiner Nervosität zu spüren, mit der er vor der Premiere vor das Publikum trat (in späteren Vorstellungen im Video). Er selbst sei, sagt er, als Kind jüdisch-armenischer Eltern in Bielefeld aufgewachsen und Angehöriger einer Minderheit in der Minderheit gewesen; habe doch versucht, sich der türkischen Minderheit anzupassen und dabei sowohl seine Religion als auch seine Sprache verleugnet. Er habe überlebt, weil er "noch härter und noch brutaler" zuschlagen konnte als die anderen. Doch sein Leben sei ihm wie eine Maske vorgekommen, die er gezwungen war zu tragen. Das Gefühl des Nicht-dazu-Gehörens sollten die Zuschauer in dieser Inszenierung am eigenen Leib spüren. Doch seine Lösung, Othello als einzigen Weißen unter Schwarzen zu zeigen, habe nicht funktioniert, dafür sei das Basler Ensemble zu wenig diversifiziert.

Auftritt der Schauspieler von den Seitenbänken, auf denen sie Platz nehmen, wenn sie auf der Bühne nicht gebraucht werden. In ihrer Mitte: Simon Zagermann als Othello, weiß wie alle anderen auch. Und sie beschreiben ihn mit Filzstiften, er wird "NIGGER", "DRECK", "RATTE", "KANACKE", "BIMBO", "OPFER" und "SCHWUL". Die Liste ist noch länger. "In mir sind zwei", sagt er, "einer, der ich bin, und einer, der ich gerne sein würde".

othello 2 560 Sandra Then uThiemo Strutzenberger, Simon Zagermann, Thomas Reisinger, Julian Gresenz, Pia Händler, Urs Peter
Halter © Sandra Then

Und dann wird Zagermann zu Othello X, dem Star im Tonstudio Venice, im New York der 70er-Jahre. Gerade hat ihn der "Senator aka The Duke" zum Vizepräsidenten gemacht. Othellos Platten verkaufen sich fantastisch; wegen seiner Stimme, seinen Texten. Und vor allem wegen der Maske, die er in der Öffentlichkeit trägt: eine silberglitzernde Kugel, die ihn fremd macht, fast tier-ähnlich. Passend zum lang behaarten, zotteligen grauen Mantel. Aber jetzt möchte Othello die Maske ablegen, sich zeigen als der, der er wirklich ist. Doch für den Senator, den Thomas Reisinger kapitalistisch-glatt anlegt, ist Othello im Showbusiness wertvoller mit Maske.

Bling-Bling Bla-Bla

Es scheint lange nicht so, als hätte Nuran David Calis "Othello" überhaupt gelesen. So knallig-flowerpowermäßig-bunt kommt diese 70er-Jahre Welt rüber, mit dem braun-orange-weißen Kugelmuster der Tapete im Büro im ersten Stock, den Schlaghosen mit Riesen-Blumenmuster, die Rodrigo spazieren trägt, den wallenden Haarperücken, den plastik-quietschig-lackierten Anzügen der Herren. Da haben Irina Schicketanz mit dem zweistöckigen Tonstudio auf der Drehbühne und Geraldine Arnold mit den Kostümen ganze Arbeit geleistet. Da sprechen auch diese Menschen so ganz und gar nicht Shakespeare; so viel Show-Biz-Bla-Bla, so viel Alltagssprech, so viel Denglisch, wie da von der Bühne schwappt und so viel Video, wie da gefilmt und projiziert wird. Zudem ist zum Beispiel Emilia (Pia Händler) zwar auch Jagos Frau, aber vor allem Journalistin, die den Musikern in harten Interviews auf den Pelz rückt. Der Krieg gegen Zypern ist nur noch in den riesigen Lettern "Cyprus" zugegen, die den Namen des Tonstudios zieren, in das sich Othello in seinen zahlreichen grüblerischen Stunden zurückzieht. Und überhaupt: Was soll bei einer Dauer von 105 Minuten noch übrigbleiben, wenn der Regisseur allein mehr als fünf Minuten spricht?

Übrig bleibt der harte Kern. Übrig bleibt ein Othello, der seinem Ruhm nicht traut, an sich selbst zweifelt, diesen Zweifel, oft verbrämt als Wut und Zorn, in seine Umgebung trägt und damit angreifbar wird. Ein Othello, der nicht zwischen Freund und Feind unterscheiden kann und der weiß, dass er als Außenseiter sein Inneres vor der Öffentlichkeit verbergen muss. Übrig bleibt eine Desdemona, die in der Darstellung von Liliane Amuat mit falschem Gold am Kleid, falschen Haaren auf dem Kopf und falschen Wimpern an den Augen doch die Echtheit in Person ist. Eine Frau, die noch die größten Selbstzweifel und das lauteste Geschrei ihres Gatten durchschaut, weil sie ihn liebt und ihm gut will. Eine, die er auf Händen tragen müsste.

"Du wirst mich nicht stoppen, ich brauch dich nicht"

Und übrig bleibt, natürlich, Jago, der Othello vorgaukelt, Desdemona würde ihn mit dem Emporkömmling Cassio (Florian Jahr) betrügen. In Thiemo Strutzenbergers Spiel ist Jago ein gnadenloser Karrierist, ein schmieriger Ehrgeizling, ein fieser Intrigant. Aber auch – und das ist ein passender Schachzug von Nuran David Calis – ein überzeugter Rassist, der von der Gefahr der Vermischung der Rassen faselt. Und der Othello so widerlich manipulieren kann, dass den Zuschauern zuweilen das Nach-Luft-Schnappen in hysterisches Lachen umschlägt. Am Ende wird Othello Desdemona erschlagen, aber der wahre Fiesling wird nicht entlarvt, und Othello wird sich nicht töten. Desdemona wurde sinnlos geopfert, und Othello wiederholt, wie ein Mantra, "du wirst mich nicht stoppen; ich brauch dich nicht; du wirst mich nicht stoppen, ich brauch dich nicht."

Dass dieser Othello einmal mehr gelernt hat, dass er jederzeit wieder auf die Schnauze fallen kann, das zeigt dieser Abend vielleicht nicht mit Shakespeares philosophischer Tiefe und auch nicht mit der ganzen von Nuran David Calis im Prolog ausgebreiteten Breite, aber mit Brutalität und Härte und hochaktuell.

Othello X
von Nuran David Calis nach William Shakespeare
Regie: Nuran David Calis, Bühne: Irina Schicketanz, Kostüme: Geraldine Arnold, Licht: Cornelius Hunziker, Musik: Vivan Bhatti, Video: Geraldine Laprell, Live-Kamera: Julian Gresenz, Dramaturgie: Constanze Kargl.
Mit: Simon Zagermann, Thiemo Strutzenberger, Liliane Amuat, Pia Händler, Florian Jahr, Steffi Friis, Urs Peter Halter, Thomas Reisinger.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.theater-basel.ch

 

Kritikenrundschau

"Alte Stücke neu zu überschreiben und sie so näher ans Heute zu transportieren, hat dem Basler Theater den Titel 'Theater des Jahres' eingebracht. Der Begriff der 'Basler Dramaturgie' ist eine Marke geworden", führt Tobias Gerosa in der Neuen Zürcher Zeitung (29.10.2018) aus. Das habe wunderbar funktioniert bei Simon Stones "Drei Schwestern" und bei Ewald Palmetshofers Neudichtungen, "Calis scheitert jedoch, er verflacht das Stück. Shakespeares dramaturgisches Gerüst funktioniert noch, das Neue kaum." Das Schwierigste dieses verunglückten Abends seien aber die Dialoge, "über weite Strecken schleppen sie sich hölzern dahin, finden weder Rhythmus noch eigenen Klang."

Seine Vorrede, die Regisseur Calis vor Beginn auf der Bühne hält, hätte er lieber lassen sollen, "denn sie war bewegender als die Inszenierung", schreibt Benjamin von Wyl in der bz Basel (29.10.2018). "Othello schreit, Desdemona beschwichtigt, alle anderen intrigieren. Die Drehbühne dreht sich und die Live-Kameras übertragen." Calis habe Othello X als Geschichte eines weißen Musikers geschrieben, der bei einem "schwarzen Label" unter Vertrag ist. "Das Theaterensemble aber ist weiss; Blackfacing habe man abgelehnt. Trotzdem: 'Ohne äusseres Stigma wird Rassismus nicht sichtbar'", zitiert von Weyl die Vorrede von Calis und schreibt: "Zwei Mal halten Figuren rassistische Monologe – sie sind kurz im Vergleich zum wiederkehrenden Gesülze über Label-Hierarchie und Mixtapes." Fazit: "Der Abend will über Rassismus nachdenken, zeigt aber vor allem unreflektierten Sexismus." Die weiblichen Figuren existieren bloß als Projektionsfläche für die Eifersucht der Männer, die Frauen seien nichts als Objekte im Intrigenspiel dieser Kokser.

"Drive, kindliche Wut, röhrende Virilität ist drin, Özil-Larmoyanz, Gangster-Posing und ganz viel Herzblut“, erkannte Martin Halter von der FAZ (30.10.2018). Calis lasse die Substanz des Stücks weitgehend intakt. Er rauhe nur Shakespeares Sprache auf und verflache sie zum Straßen-Slang, straffe die umständliche Intrigen und erzähle überhaupt sehr filmisch. "Es knirscht und rumpelt oft, wenn Shakespeare und Calis zusammenstoßen, aber manchmal entsteht daraus auch tatsächlich Reibungsenergie."

"Calis’ Überschreibung glückt!", meint hingegen Egbert Tholl von der Süddeutschen Zeitung (31.10.2018). Das aus dem eigenen Erleben hergeleitete Spiel mit der Maske sei das eigentlich Grandiose. "Simon Zagermann spielt den Othello als gemütsweiches Tier, das Studio ist sein Käfig, in dem er herumtigert auf der Suche nach seiner Identität." Auch Thiemo Strutzenberger spiele Jago, diesen "Machtstrategen in eigener Sache", mit ungeheurer Präzision.

 

 

 

 

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