Volksbewegte aller Länder, verlautbart Euch!

von Valeria Heintges

Zürich, 6. November 2018. Vor 25 Jahren erschien Botho Strauß' Essay "Anschwellender Bocksgesang" im Wochenmagazin "Der Spiegel". Der Text führte zu einem Aufschrei, machte Strauß zur Galionsfigur der neuen Rechten. Raunend, in langen, nahezu hermetischen Sätzen diagnostiziert er eine "frevelhafte Selbstbezogenheit" und prognostizierte Konflikte, in denen sich rächen würde, dass "der Westeuropäer sozusagen auch sittlich über seine Verhältnisse gelebt hat". Es werde Krieg geben.

Und er schreibt schon damals: "Wir werden herausgefordert, uns Heerscharen von Vertriebenen und heimatlos Gewordenen gegenüber mitleidvoll und hilfsbereit zu verhalten, wir sind per Gesetz zur Güte verpflichtet." Zur Rettung brauche es eine neue rechte Einstellung, einen "Wiederanschluss an die lange Zeit". 25 Jahre sind seither vergangen, Strauß hat sich in die Uckermark im äußersten, ruhigsten deutschen Norden zurückgezogen und meldet sich nur noch selten zu Wort. Aber die Rechten und Rechtsextremen sind auf dem Vormarsch, allerorten. Was hat Strauß ihnen und uns heute zu sagen?

Von Nigel Farage bis Sahra Wagenknecht

Diese Frage versucht Peter Kastenmüller, seines Zeichens Regisseur und Intendant des Theaters Neumarkt in Zürich. in "Das Anschwellen der Bocksgesänge" zu beantworten. Also hat er sich mit vier seiner Schauspieler zusammengetan, zudem den englischen Performancekünstler Phil Hayes und dem polnischen Regisseur Wojtek Klemm hinzugezogen, der derzeit am Haus arbeitet.

AnschwellendeBocksgesaenge1 560 Cristiano Remo uBeseelt von kommenden Krisen: Marie Bonnet spricht Marine Le Pen © Cristiano Remo

Man spricht den Original-Bocksgesang, dann halten die sechs Akteure die Reden von sechs Politikern: Nigel Farage spricht kurz nach dem Brexit vor dem Europaparlament, Sahra Wagenknecht erklärt ihre Bewegung "Aufstehen", Emmanuel Macron in Amiens seine Bewegung "En marche". Marine Le Pen redet vor Gesinnungsgenossen in Koblenz, und Victor Orbán erläutert sein Konzept des "illiberalen Staats". Und wenn man sich schon lange fragt, ob der Abend die Kurve zur Schweiz noch kriegt, spricht Martin Butzke Stephen Bannon in Zürich bei dessen erstem öffentlichem Auftritt in Europa. Auf einer Veranstaltung der SVP-nahen "Weltwoche" mit Chefredakteur und Nationalrat Roger Köppel erklärt er, wie er es schaffte, den Wahlkampf von Donald Trump zu drehen. Und er preist die Schweiz als Startpunkt der rechtsextremen Bewegungen und lobt SVP-Gründer Christoph Blocher als "He is Trump before Trump".

Gegen das Establishment

Zwischendrin befragt Kastenmüller Experten – Philosophen, Literaturwissenschaftler, Journalist*innen. In der Premiere interviewte er mit schlecht gestellten Fragen den Philosophen und Literaturwissenschaftler Daniel-Pascal Zorn, der 2017 die "Logik für Demokraten" veröffentlichte. Und der als Mit-Herausgeber im Werk "Mit Rechten reden" genau zu diesem Reden auffordert und konkrete Tipps gibt, wie sich die Argumentationen der Rechten knacken lassen.

AnschwellendeBocksgesaenge2 560 Cristiano Remo Entschlossen zur Sonne, zur Freiheit: Sarah Sandeh spricht Sahra Wagenknecht © Cristiano Remo

Und was soll das alles? Sicher, man kann die rhetorischen Mittel der Vortragenden vergleichen, feststellen, dass sie sich ähnlicher Motive und Topoi bedienen, alle "das Volk" oder "den Bürger" beschwören und alle dessen Bedürfnisse zu kennen meinen. Man würde merken, dass sich die Bewegungen "Aufstehen" und "En marche" nennen und auch sonst viele Gemeinsamkeiten haben. Dass sie sich allesamt gegen das Establishment wenden, das sie verändern oder zerstören wollen, dass alle Krisen und Konflikte heraufbeschwören, mal eher fiktiv, mal eher realitätsnah, und dass sich an der EU reiben. Aber spätestens da zeigen sich doch fundamentale Unterschiede zwischen der EU-feindlichen Ukip in Großbritannien und Macrons "En marche".

Zeit für plattes Polittheater

Man kann also lange interpretieren und deuteln. Aber man kann sich auch fragen, wo das Theatralische bleibt, das man im Theater doch erwarten würde. Und ob die Zeiten für plattes Polittheater wiedergekommen sind. Denn theatralisch ist hier wenig bis nichts. Die Schauspieler wurden zuweilen ihren Politikern ähnlich gemacht, vor allem Sarah Sandeh als Sahra Wagenknecht, auch Marie Bonnet als Marine Le Pen. Sie legen in ihren Reden theatralische Pausen ein, schauen bohrend in die Videokamera, die ihre Auftritte auf eine Leinwand überträgt.

Zwischendurch sprechen sie im Film weiter, Simon Brusis als Macron in einer Werkstatt, Bonnet als Marine Le Pen auf der "Central"-Tramhaltestelle mitten in Zürich. Ja, ja, schon. Aber sie sprechen nicht miteinander, sondern monologisieren oder debattieren wie Kastenmüller mit seinem Gast. Sie lesen ihre Texte ab und eignen sie sich auch sonst kaum an. Man kann das "Performance, Populismus, Propaganda" nennen, wie der Untertitel des Abends heißt. Aber für die Premiere lässt sich getrost sagen: Die bloße Lektüre eines von Daniel-Pascal Zorns Werken hätte sich mehr gelohnt.

 

Das Anschwellen der Bocksgesänge
Mit Texten von Botho Strauss, Marine Le Pen, Stephen Bannon, Sahra Wagenknecht, Emmanuel Macron, Nigel Farage und Viktor Orbán
Einrichtung: Peter Kastenmüller und Team Neumarkt.
Mit: Marie Bonnet , Simon Brusis, Martin Butzke, Sarah Sandeh, Phil Hayes, Wojtek Klemm.
Premiere am 6. November 2018
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.theaterneumarkt.ch

 

Kritikenrundschau

Man verzichte hier auf das meiste, was man gemeinhin von einem Theaterabend erwarte. Und verlasse den kleinen Saal ohne Berührung mit szenischer Kunst, dafür mit tonnenweise Bedenken. "Denn die Gesänge sind trefflich ausgesucht und die Populisten-Imitate goldecht", schreibt Maximilian Pahl in der Neuen Zürcher Zeitung (7.11.2018).

Der Abend in Zürich versammle Texte und Positionen, die Echos auf Botho Strauß' Essay sein könnten, so Michael Laages auf Deutschlandfunk Kultur (6.11.2018). Es sei nicht im engeren Sinne ein Theaterabend, sondern eher ein Diskursangebot. Der Abend sei eine Herausforderung zum Denken, die man annehmen sollte.

Für diese "unprätentiöse Theaterlektion" und das darin dargebotene "Böckeblöken" vergibt Alexandra Kedves vom Tages-Anzeiger (online 7.11.2018) das Prädikat "Gut gemeckert!". Der Soundkulisse und der Videoprojektionen hätte es in den Augen der Kritikerin gar nicht bedurft: "Die Reden allein, ihre Unterschiede, ihre frappanten Ähnlichkeiten fesseln; so geht Populismus." Mit diesem Abend habe sich das Theater Neumarkt "als eine Art furchtloses Debatten-Variété etabliert"; es gehe "aufs Ganze. Also ganz aufs Meta-Politische."

 

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