Komm, Schwesterchen Crystal

von Tobias Prüwer

Dresden, 10. November 2018. "Hab oft einen dumpfen düstern Sinn / Ein gar so schweres Blut! / Wenn ich bei meiner Christel bin, / Ist alles wieder gut." So dichtete einst schwermütig Goethe. Mit dunkler Poesie knüpft auch Sebastian Klink seine rauschhaften Bilder zu einer Crystal-Meth-Inszenierung zusammen: "9 Tage wach" schildert am Staatsschauspiel Dresden drastisch die Stationen einer Drogenkarriere.

Keine Macht ohne Drogen

Wie der Geheimrat Goethe hat der junge Eric ebenfalls eine Christel im Sinn, nämlich Crystal Meth. Damit geht es ihm super gut, denkt er zumindest. Mit 14 nimmt der Dresdner das erste Mal die Droge. Er will sich erwachsener fühlen, in die Clubs und an Frauen kommen, das Leben als Party feiern. Dass er geradewegs in den Abgrund steuert, entzieht sich natürlich seiner Wahrnehmung. Denn die Droge, die er zu seiner kleinen Schwester Christin halluziniert, ist ja immer bei ihm. Ohne sie ist er nichts, sie gibt ihm Macht und Kraft – und er zahlt das doppelt und dreifach zurück auf dem Weg nach unten.

NeunTagewach3 560 SebastianHoppe uGebrochen im Prisma aus Rausch und Wirklichkeit: Moritz Kienemann auf dem Stuhl und im Videobild. © Sebastian Hoppe

"9 Tage wach" beruht auf der Autobiografie von Eric Stehfest. Bevor er als "Gute Zeiten, schlechte Zeiten"-Darsteller und Protagonist anderer Privatfernsehformate bekannt wurde, litt er zehn Jahre unter der Crystal-Sucht. Davon handelt sein Buch – und der Abend in Dresden. Die meiste Zeit in Rückblenden berichtet Eric während einer Gerichtsanhörung von seiner Jugend, den Exzessen, Gewaltorgien, Frauengeschichten. Dabei werden viele Themen gestreift, wenn Eric und seine zwei Begleiter ein Leben aus Kicks vorführen.

"Stärni!"-Exen und eimern

Kurz streifen sie die Entstehungsgeschichte von Crystal Meth, das keine Designerdroge der Spaßgesellschaft ist. Als Wachhaltemittel namens Pervitin puschte und euphorisierte es im Zweiten Weltkrieg die Wehrmachtssoldaten. Vor Jahren kehrte die spottbillige Droge zurück. In Sachsen gilt Meth als Volksdroge. Eric ist mittendrin.

Seine Rauscherfahrungen beginnen aber schon früher – mit Alkohol, was in den Anfangsszenen auf der Bühne ausgespielt wird. Mit einem Kumpel trinkt er Bierflaschen in einem Zug aus und brüllt in aufdringlich breitem Sächsisch "Stärni!" (für Sternburg Bier). Aus einer abgeschnittenen Plastikflasche bauen sie ein Gerät, um damit Gras in einem Wassereimer zu rauchen (im Jargon "eimern" genannt) und so weiter. Es tropft und dampft auf der Bühne aus allen Ecken und Poren. Das ist nicht nur schlechter Realismus, sondern wirkt auch kumpelig-anbiedernd. Doch dieses das Lokalkolorit unterstreichen wollende Sächseln verfliegt mit zunehmendem Spiel und das anfängliche bloße Textaufsagen weicht fast psychedelischen Bildern.

An den Pforten der Wahrnehmung

Dazu arbeitet die geschickte Inszenierung mit einem beweglichen Bühnenbild. Eine goldene, wie ein Paravent wirkende Wand steht zunächst ganz vorn am Bühnenrand. Sie kann nach hinten gezogen werden, wobei sich ihre Einzellamellen zu bedrohlichen Spitzen einklappen. Immer wieder verengt sich der Raum, erzeugt klaustrophobische Momente. Die Wand, eine Leinwand über der Bühne und verteilte Bildschirme dienen als Flächen für Handkameraprojektionen. Sind die Protagonisten aus dem Sichtfeld verschwunden, erscheinen ihre Gesichter hier in Frontalgroßaufnahme. Es doppeln, vervielfachen sich die Blicke, Szenen, Konstellationen durch die Projektionen und darin vorgenommenen Spiegelungen. Eine tolle Übersetzung für das Prisma aus Rausch und Wirklichkeit an den "Pforten der Wahrnehmung" (Aldous Huxley).

Diese kaleidoskopartigen Verschiebungen in der Wahrnehmung befördert Livemusik. Gitarre, Synthesizer, Schlagzeug bauen Klanglandschaften von der gegrunzten Grind-Core-Einlage bis zu treibenden Techno-Elektrobeats. Aus dem Sog der kreiselnden, schönen und zugleich schrecklichen Bilder schreit die Verführung nur so heraus. Irgendwie will sich der Zuschauer mit hingeben.

NeunTagewach1 560 SebastianHoppe uDas Trio Infernale: Jannik Hinsch, Eva Hüster und Moritz Kienemann © Sebastian Hoppe

Das ist ein starker Effekt, der aber ohne das großartige Spiel des Trios nicht tragen würde. Als Christin und in allen anderen weiblichen Rollen tritt Eva Hüster auf. Mal ist sie nur verwischte Figur, dann aus Sicht des männlichen Protagonisten eine unerreichte Schönheit und Sehnsuchtsziel. Als Christin hat sie Eric als schillernde, einflüsternde Täuscherin ganz im Griff. Vom Gefährten im Rausche über den Türsteher bis zu Erics Alter Ego zeigt sich Jannik Hinsch ebenso wandelbar. Hier ist er überdrehter Druffi, dort kann er als Spiegelung von Eric auch dämonische Züge annehmen.

Diesen Eric gibt ein fantastischer Moritz Kienemann. Ihm kann man die drogeninduzierten Zustände seiner Rolle körperlich ansehen. Er ändert Mimik und Sprechen entsprechend bis zur verzerrten Fratzenhaftigkeit, wenn Eric mal wieder ganz unten ist. Weinerlich, exzessiv, gewaltig brutal, reumütig: Seine Bandbreite fällt erstaunlich aus. Mühelos performt er einen Battlerap und legt eine zarter gereimte Poetry-Slam-Session hin. Und dennoch gelingt die Balance in der Darstellung, so dass niemand die anderen an die Wand spielt. Zu dritt entfachen die Spieler die volle Kraft dieses rauschhaften Abends, der Warnung ist. Nicht mit plakativen Etiketten, sondern als eindringlicher Subtext.

 

9 Tage wach
nach dem gleichnamigen Buch von Eric Stehfest und Michael J. Stephan
Bühnenadaption von John von Düffel
Regie: Sebastian Klink, Bühne und Kostüme: Gregor Sturm, Künstlerische Mitarbeit Bühne und Kostüme: Oliver Knick, Live-Musik: Kriton Klingler-Ioannides, Licht: Richard Messerschmidt, Dramaturgie: Svenja Käshammer.
Mit: Moritz Kienemann, Jannik Hinsch, Eva Hüster.
Premiere am 10. November 2018
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.staatsschauspiel-dresden.de

 

Kritikenrundschau

Aus Sicht von Junes Semmoudi in den Dresdener Neuesten Nachrichten (12.11.2018) überträgt Sebastian Klink die Rastlosigkeit der Buchvorlage gekonnt auf die Bühne. Das zweistündige werk offenbart dem Kritiker einen Blick "in tiefe, menschliche Abgründe" und lebt für ihn von der "großartigen schauspielerischen Leistung" der drei Hauptdarsteller. Insbesondere Moritz Kienemann wird hoch gelobt.

"Eine atemberaubende Tour de Force, zurecht stürmisch gefeiert" schreibt ein*e mir "hn" kürzelne*r Kritiker*in in der Dresdener Morgenpost (12.11.2018). Auch hier wird Moritz Kienmann besonders hervorgehoben.

 

Kommentare  
9 Tage wach, Dresden: ein Bass
es ist ein Bass, verdammt.... EIN B-A-S-S !
9 Tage wach, Dresden: Nachfragen
Herr Prüwer.
Sie beschreiben begeistert die rauschhafte Wirkung des Abends: Man möchte sich berauschen -
und dann behaupten Sie, die "Kraft des rauschhaften Abends" sei Warnung als eindringlicher Subtext. Ich versteh nicht (und es ist auch nicht beschrieben): Subtext wovon? Wodurch entsteht ein Subtext? Wie entsteht ein Subtext zu einem rauschhaften Abend?
Vielleicht können Sie Auskunft geben, bevor ich nach Dresden fahre, um die Aufführung zu sehen.
Gruß
Peter Ibrik
9 Tage wach, Dresden: Sehen Sie selbst!
Herr Ibrink,

danke für Ihren Kommentar. Schade, wenn das für Sie aus meinem Text nicht klar wurde. Die zum Teil überwältigende Bilder-Musik-Kombination schuf eine Situation, in der der eigene Fuß mit wippte etc. und man aber zeitgleich dem Zerfall des Eric bewohnte. Diese Schere hatte ich gehofft, hätten die Worte wie Fratzenhaftigkeit etc. klar gemacht. Aber fahren Sie unbedingt nach Dresden und sehen Sie die Inszenierung selbst. Nichts ist besser als das eigene Urteil!

Grüße, tp
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