Wie merkt man, dass das Leben scheitert?

von Dorothea Marcus

Avignon, 19. Juli 2008. In Avignon wird kaum etwas so gespannt erwartet wie die Premiere des nächsten "artiste associé", jenes Künstlers, der das größte Theaterfestival der Welt im kommenden Jahr mit kuratieren wird. Im Jahr 2009 wird es, das steht seit einigen Tagen fest, der Regisseur, Schauspieler und Autor Wajdi Mouawad sein, der mit seinem Solo "Seuls" nach Avignon gekommen ist und seit einiger Zeit in Frankreich gefeiert wird.

 1968 im Libanon geboren, durch den Libanonkrieg exiliert in Paris, lebt er heute in Kanada und leitet seit September 2007 das französische Theater "Centre National des Arts" in Ottawa. Gleichzeitig ist er Artist in Residence am Theater im französischen Chambéry. Aber er schreibt auch mehrfach preisgekrönte Stücke.

Derjenige, der da in Unterhose auf die ärmliche Bühne (ein Bett, ein Stuhl, ein Fenster mit Jalousie, eine Stellwand) kommt und mit leiser Stimme und leiernd seinem Soziologieprofessor, seiner Schwester und Robert Lepage dankt, scheint allerdings alles andere als ein charismatisches Theatertier zu sein. "Ich würde lügen, wenn ich mich als Theaterliebhaber bezeichnen würde, ich bin eher ein Soziologiestudent", sagt Mouawad und beginnt, aus seiner Doktorarbeit über "Die Identitätsfrage in Robert Lepages Soloperformances" zu rezitieren – nicht gerade spannend.

Schicksal und Identitätssuche
Umso faszinierender, wie sich aus dem unscheinbaren Mann ein Schauspieler entwickelt, der nur aus sich, wenigen Gegenständen und Videoprojektionen nach und nach eine atemberaubende Geschichte entstehen lässt, die zunächst radikal aus dem eigenen Lebenslauf von Mouawad schöpft – und sich zu einer philosophischen Metapher über Identitätssuche, Lebenswege, Schicksal ausweitet. "Seuls", hat Moawad im Interview gesagt, bezeichnet nicht einen, sondern viele Einsame.

Dem Mann, der da Musik hört, der Exfreundin nachtrauert, Kartons auspackt, in Unterhose apathisch auf seinem schmales Bett liegt, bleiben nur Telefonate mit Vater und Schwester, um mit der Außenwelt in Kontakt zu treten, wenige Worte verraten viel über die Konfliktlage der exilierten Familie. Wie merkt man, dass das Leben scheitert? fragt er ins Telefon und man erschließt aus Andeutungen: frisch von der Freundin getrennt, die neue Wohnung deprimiert, draußen fällt Schnee, die Doktorarbeit stagniert, mit 35 ist er eigentlich zu alt, Karriereängste, Geldsorgen, und eigentlich wollte er Maler werden – aber im Pariser Exil war in der engen Wohnung kein Platz, Französisch musste in jeder Sekunde gelernt werden. Denn mit Arabisch kam ein junger Libanese nicht weit im Frankreich der 70er-Jahre.

Und während Mouawad auf dem Bett Frust schiebt, steht sein – soll man es Überich oder Alter Ego nennen – Schatten auf, fährt aus ihm heraus, klettert aus dem Fenster, kommt zurück, beobachtet ihn in seiner Einsamkeit. Dann ruft sein Professor – es sind übrigens die realen Stimmen der Figuren aus Mouawads Leben – an: es gäbe eine Stelle für ihn, wenn er seine Doktorarbeit ein halbes Jahr früher abgibt. Es fehlt nur ein letztes Interview mit Robert Lepage, und der ist in St. Petersburg.

Riß in der Lebenswand
Apathisch lässt sich Mouawad aufs Bett zurückfallen. Sein Schatten rüttelt ihn, aber er steht erst auf, nachdem ein anderes blutiges Ich mit einem Messer über ihn hergefallen ist – Flug buchen, Termin machen, Treffen mit dem Vater absagen in einem verbitterten Streitgespräch, aus dem die leidvolle Exilerfahrung, der Libanonkrieg, die Schuldgefühle deutlich werden.

Mouawad führt es alleine, aber es ist, als würden die Personen seines Lebens im Raum mitschwingen. Als er ein neues Bild für seinen Pass macht – sein Zimmer hat sich mit wenigen Handgriffen schon lange in ein kanadisches Schneetreiben und einen Passbildautomaten verwandelt – geschieht es: ein Lärm wie ein donnernder Riss in der Lebenswand, Schwester Leila ruft an und sagt, dass der Vater nach einem Unfall im Koma liegt. Sie streiten sich. "Wach auf", sagt sie vom Band, "sei realistisch, du kannst nicht fliegen.", "Aber ich schlaf doch nicht!" schreit er

Die Maschinen piepen, Mouawad sitzt am Bett seines unsichtbaren Vaters und holt Versäumtes auf, seine Sehnsucht nach der Malerei, die Unfähigkeit, die Kriegserfahrung des Vaters zu teilen – um doch nach Petersburg zu fliegen, das Hotelzimmer wird mit Stellwänden ausgefahren. Doch irgend etwas stimmt nicht, mehrere Telefone klingeln gleichzeitig, auch Robert Lepage ist nicht in Petersburg, sondern in San Francisco. Die 1500 Seiten der Doktorarbeit sind unbedruckt, die Krankenhausmaschinen hören nicht auf zu piepen, der Koffer ist vertauscht, jemand hat Farben hineingetan. Schwester Leila ruft von weitem: "Wach auf".

Mentaler Farbrausch
Denn es war nicht der Vater, sondern er selbst, der den Unfall hatte und nun im Koma liegt. Er ist in seinem Kopf eingeschlossen, kann weder aufwachen noch sich verständigen. Die Krankenhausgestalten werden zu Schatten auf der anderen Seite der Wand, und er steigert sich in einen wüsten, mentalen Farbrausch, spritzt, keucht, schmiert und aus den Farben des Koffers entstehen wie besessen jene Bilder, von denen er immer geträumt hat: Kopfbilder, die auf der Bühne nach Farbe riechen und sie in ein buntes, glitschiges Schlachtfeld verwandeln. Erzählerische Leitmotive, rätselhafte Zeichen und Querbezüge ranken sich durch diese fantastisch konstruierte Geschichte, etwa das verehrte Rembrandt-Bild "Le fils prodigue" im Saal 44 der Eremitage, während das Petersburger Hotelzimmer ebenfalls die Nummer 44 hat.

Von ferne erinnert das an Simon Mc Burneys "Théâtre de Complicité". Die Kunst von Mouawad ist, Fragmente, Zeit- und Raumsprünge zu setzen, dass sie sich im Kopf des Zuschauers zusammensetzen und Welten öffnen, dass Fantasie und Meta-Realität sich auf der Bühne ständig vermischen und das Philosophische und das Konkrete, das radikal Persönliche und das Allgemeingültige gleichwertig nebeneinander stehen: Ein Realitätsexperiment, eine fantastische, komische, tiefgründige Kopfreise. Und so kommt man heraus aus dem kanadischen Schneetreiben in die Hitze von Avignon und fühlt sich beschwingt, inspiriert und glücklich wie schon lange nicht mehr nach dem Theater.

 Seuls
von Wajdi Mouawad
Regie, Spiel: Wajdi Mouawad, Bühnenbild: Emmanuel Clolus, Dramaturgie: Charlotte Farcet, künstlerische Mitarbeit: Francois Ismert.

www.festival-avignon.com