Switches und Glitches

von Martin Thomas Pesl

Graz, 15. November 2018. Ist Clemens J. Setz zu beneiden oder zu bemitleiden? Dem Grazer Schriftsteller und bekennenden Synästhetiker (*1982) muss permanent der Kopf schwirren. Das sieht man an seinen Werken wie "Die Frequenzen" und "Die Stunde zwischen Frau und Gitarre", die voll sind mit Denkverbindungen, die Normalsterblichen nicht einfallen. Es geht aber auch aus seinem Twitter-Feed hervor, der bisweilen selbst literarische Qualitäten hat.

Oft ist man wohlig überfordert von Setz’ hingeworfenen Assoziationen. "Ein schönes Bild", sagt man dann anerkennend bis angestrengt, so wie Tina immer wieder zu ihrem Lebensgefährten Matthias. Oder: "What the fuck?" In Setz’ neuem Theaterstück "Erinnya", einer Auftragsarbeit fürs Schauspielhaus Graz, trägt Matthias einen Knopf im Ohr, der ihn mit dem titelgebenden Programm verbindet. Die Erinnya berechnet für ihn, was er als Nächstes sagt. Nach einer schweren Depression soll das System ihn wieder lebensfähig machen. Die digital eingeflüsterten Antworten sind aber nicht artig konventionell, vielmehr offenbaren sie blühende Fantasie. "Wenn du einem Vogel-Strauß den Hals durchzippst. Vielleicht rennt er durch einen feinen Draht. Weißt du ja nicht." Was den Besuch bei den Schwiegereltern schwierig gestaltet.

Natürlich fällt einem sofort Setz’ letztes Buch ein: "Bot. Gespräch ohne Autor" ist eine Sammlung von Interviews, die eine Journalistin nicht mit Setz, sondern mit seinem Corpus an Notizen, Tagebüchern und Tweets geführt hat. Die Antworten wählte ein Bot aus. Die Obsession des Autors für Technikfolgenabschätzung, soziale Medien und künstliche Intelligenz ist also offenkundig, und in seiner Lesefassung ist "Erinnya" pure Science-Fiction.

erinnya nico link alex deutinger tamara semzov alida bohnen 065 560 c lupi spuma uDie Bühne von Frank Holldack. Von links nach rechts: Nico Link, Alex Deutinger, Tamara Semzov,
Alida Bohnen © Lupi Spuma

Das fällt in Claudia Bossards Uraufführung im Kleinen Haus des Theaters allerdings gar nicht so auf. Bossard hat den Plot stark gekürzt und einige Erklärstellen weggelassen. Was genau die Funktion der in der Bühnenmitte auf einem Kühlschrank thronenden, sich siamesisch einen Pulli teilenden Zwillingsgestalten Alida Bohnen und Tamara Semzov ist, bleibt unklar. Sie kommentieren das Geschehen, manchmal das vordergründige, manchmal aber auch Fernsehserien. Auch was am Ende passiert, erschließt sich nicht recht: Ist Matthias deprogrammiert und deprimiert? Soll sein Herumklettern auf Leitern suggerieren, dass er für immer ins Gebirge verschwindet? So belässt Bossard den Text in einer Restunheimlichkeit, wie etwa Setz’ Roman "Indigo" sie ausstrahlt. Einerseits.

Marlon Brando als Österreicher

Andererseits steckt sie Tinas Familie in schrullige Biederkeit suggerierende Ganzkörperblümchentapeten (Kostüme: Elisabeth Weiß) und schraubt das durchaus nachvollziehbare Unverständnis von Papa Nico Link angesichts des seltsame Sätze sagenden Sonderlings zur Familienboulevardkomödie hoch, in der die Prämisse auch lauten könnte: Mein Mann ist blind und der Papa darf's nicht merken. Die Mama, verkörpert von Martina Zinner, findet die Situation ganz charmant, erkennt die naheliegende Verwandtschaft des Erinnya-Users zum Schauspieler, dem souffliert wird, und zeigt bei der Gelegenheit, wie Marlon Brando klänge, spräche er näselndes Adeligenösterreichisch.

Susanne Konstanze Weber als Tina redet sich um Kopf und Kragen, ihr gegenüber entfaltet sich zuschauerseitig ein Hauch des Mitleids, das die altgriechischen Dramenregeln fordern. Antike Größe, die die vom Titel zitierten Rachegöttinnen erwarten lassen, spiegeln sonst höchstens Jan Christoph Goddes sakral anmutende Kompositionen, deren Pathos von der allgemeinen Situationskomik doch eher gedämpft wird.

erinnya ensemble 051 560 c lupi spum uWas hat der junge Mann bloß? © Lupi Spuma

Das verbindende Element für Komik und Unbehagen und der Grund, warum diese Uraufführung trotz aller Ambivalenz bei der Stange hält, ist Alex Deutinger als Matthias. Der Performancekünstler, Tänzer und studierte Dolmetscher seziert als Teil des Duos Navaridas & Deutinger öfter Sprechakte auf der Bühne. Hier ist er als Schauspieler eingesetzt, und wie er zwischen Fast-Roboter, Alleinunterhalter und funktionierendem Schwiegersohn switcht und seine allzu menschlichen sprachlichen "Glitches" offenbart, das ist schon Ziegenmilch, pardon: ziemlich sehenswert.

Die Vorstellung, sich das Leben von einem demokratischen Algorithmus diktieren zu lassen! Einem Hirn wie dem von Clemens J. Setz würde das womöglich etwas Ruhe gönnen. Oder erst recht nicht? Schade, wie wenig weit der Abend in der Ergründung seines interessanten Hauptthemas geht. Wie der Autor dazu steht, war übrigens nicht festzustellen. Er dürfte zurzeit in Japan weilen. Laut Twitter.

Erinnya
von Clemens J. Setz
Uraufführung
Regie: Claudia Bossard, Bühne: Frank Holldack, Kostüme: Elisabeth Weiß, Komposition: Jan Christoph Godde, Dramaturgie: Martin Baasch.
Mit: Alida Bohnen, Alex Deutinger, Nico Link, Tamara Semzov, Susanne Konstanze Weber, Martina Zinner.
Premiere am 15. November 2018
Dauer: 1 Stunden 15 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus-graz.com

 

 

Kritikenrundschau

Ute Baumhackl schreibt in der Kleinen Zeitung aus Graz (17.11.2018) von einem "sehr unterhaltsamen Abend". In der Hauptrolle besteche "Performer Alex Deutinger" mit "beeindruckender Körperlichkeit". Martina Zinner betreibe mit "lila Turmfrisur" und "überspannter Paulawesselyhaftigkeit" häusliche Deeskalationspolitik. Das Ganze ein "subtiles Innuendo" in einer "anspielungsreichen, mit Zitaten gespickten" Tragikomödie, der Claudia Bossard etliche bizarre Pointen abringe.

Martin Behr schreibt in den Salzburger Nachrichten (19.11.2018): Mit dem Stück "Erinnya" habe Clemens J. Setz eine "boulevardesk anmutende, aber feinsinnige, facettenreiche und sprachlich reizvoll-kauzige Gesellschaftsparabel" geschrieben. Für Claudia Bossard sei das Stück eine "Telenovela mit antiker Dimension", folglich gebe es eine Art Chor, bestehend aus "einem rätselhaften Zwillingspärchen, das kommentiert, konversiert und etwa über Mr. Bean oder die Ähnlichkeit des Menschen mit einem Getränkeautomaten sinniert". Alex Deutinger spiele die Hauptfigur mit "großartiger Empathie und cyborgartiger Vitalität". Bossard gelinge es, "den auf den ersten Blick nicht übertrieben bühnentauglichen Text fassbar zu machen". Sie forme ein "so komisches wie beunruhigendes Setting, das als Science-Fiction-Miniatur über zukünftige Kommunikationsformen lesbar" sei.

 

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