Knutschen kostet extra

von Eva Biringer

Berlin, 16. November 2018. Mein Care Boy weiß, was mir guttut. In diesem Fall ist es ein Campari auf Eis und eine Runde Tischkicker draußen im Hof, weil die Bar so verraucht ist. Anschließend erzählt er mir das Ende des Films nach, bei dem ich neulich eingeschlafen bin und fragt, ob wir am Sonntag kochen wollen. Dann offenbart er tolle Neuigkeiten: Stefan zieht jetzt doch nach Köln, wir könnten seine Wohnung haben. Ist es naiv, nach nur drei Monaten Beziehung zusammenzuziehen?

Willkommen bei "Quality Time", der neuen Arbeit von The Agency. Angelehnt an sogenannte Rent-a-Friend-Agenturen vermietet das Performancekollektiv menschliche Nähe im Dreißigminutentakt. Zur Auswahl stehen Vater, Bruder, Sohn, bester Freund und der mir zugewiesene Boyfriend. Bevor es losgeht, bastle ich ihn mir nach dem Baukastenprinzip zusammen: Ob er eher der casual oder classy Typ ist, wo und wie wir uns kennengelernt haben, unsere Kosenamen. Im Basispaket ist Knutschen nicht inbegriffen, sondern kostet fünfzehn Euro extra. Für zweihundert Euro darf ich Arno meiner Familie vorstellen. Was im theatralen Kontext grotesk wirkt, ist in Ländern wie Japan bereits Wirklichkeit.

Eine rassistische Kunstfigur

"Willkommen bei der Saelsorge": Unter diesem Motto widmen sich die Berliner Sophiensaele rund eine Woche lang den therapeutischen Tendenzen des Theaters. Zehn Performances hat Kuratorin Joy Kristin Kalu zum Festival "Save your Soul" eingeladen sowie zwei Speaker. Eine davon ist Eva Illouz, die einige Tage zuvor über das vermeintliche Glücksversprechen redete und das Recht auf Zweifel. Die Produktion "Life is no laughing matter" thematisiert Depression in Form von Stand-up-Comedy, während Jaamil Olawale Kosoko in "Séancers" Kontakt mit Verstorbenen aufnimmt. Mitunter wird es politisch bis zur Grenzüberschreitung. Als Kunstfigur "Good Sherry" beleidigte die Performerin Ann Liv Young einen Zuschauer rassistisch. Kalu brach die Vorstellung ab. Die zweite genehmigte sie nur unter Ausschluss des N-Worts und einem anschließenden Publikumsgespräch.

angstpiece 560 diethild meier uJulia*n Meding in "Angstpiece", von Anta Helena Recke inszeniert © Diethild Meier

Auch die Regisseurin Anta Helena Recke beschäftigt sich mit rassistischen Stereotypen, allerdings auf subtilere Weise. Bekannt wurde sie durch ihre Re-Inszenierung von Mittelreich, bei der sie das komplett weiße Ensemble der Münchner Kammerspiele durch ein schwarzes ersetzte und dafür zum Theatertreffen eingeladen wurde. In ihrem "Angstpiece" setzt sie ganz auf Julia*n Meding. Wenn er denn da ist. Viele Minuten lang sieht man ihn per Videoeinspielung auf den Bühneneingang zulaufen und kurz davor kapitulieren. Ein Schauspieler, der sein Lampenfieber zum Thema macht – keine schlechte Idee. Hat Meding es erst einmal auf die Bühne geschafft, monologisiert er über seine Agoraphobie, Panikattacken bei H&M und entsprechende Bewältigungsstrategien. Da wäre zum Beispiel der "innere, sichere Ort", Realität geworden in Form eines sich selbst aufblasenden Trampolins. So wie der ganz in Schwarz gekleidete Ich-Erzähler (auf dessen T-Shirt "Destroy white Supremacy" steht) von Eso-Klängen untermalt diesen Ort beschreibt, glaubt man ihm kein Wort.

Er wirkt wie ein teilnahmsloser Beobachter seiner selbst, spielt affektiert mit seiner Androgynität (auf die auch das Sternchen in seinem Vornamen verweist); ein kleiner kaputter Prinz, dessen Augenlider immer halb geschlossen sind, als hätte er eine Überdosis Valium im Blut. Zur Beruhigung pumpt er Gummitiere auf. Außerdem sind da Stoffpferde, denn eine Therapie ist nun mal kein Ponyhof. Die gerade mal fünfundsiebzig Minuten des "Angstpiece" dehnen sich ins Endlose wie die Zeit im Wartezimmer. Es sollte ein Stück über Angst sein, ist aber eines über Langeweile geworden.

"Könnte Amok laufen"

Bei "Total Therapy" hingegen durchlebt man alles Mögliche: Traurigkeit, Wut, Angst, den Wunsch zu gehen. Zu Beginn laufen knapp zwanzig Menschen durch den Saal, alle ausgestattet mit demselben Rucksack. Jeder hat einen Stapel Karten in der Hand, die er derjenigen Person in den Rucksack legen soll, auf die das Geschriebene zutrifft. "Grüßt immer nett im Treppenhaus", "Behauptet, links zu sein, greift aber nicht ein, wenn die türkische Nachbarin beleidigt wird", "Könnte Amok laufen". Anschließend zählt jeder seine Karten und erhält, auf deren Häufigkeit basierend, die erste Eigenschaftskarte. Ich habe vier Mal "Wer ist wegen der hippen Cafés ums Eck hier eingezogen, beschwert sich aber ständig über die lachenden Kneipenbesucher*innen in der Nacht?" bekommen. Dafür gibt es die gelbe Boshaftigkeitskarte. Jetzt sollen die Teilnehmer in Gruppen eine fiktive Wohngemeinschaft bilden.

total therapy 560 c renata chueire presseTotal Therapy-Gruppe bei Interrobang   © Renata Chueire

Aus Nettigkeit biete ich an, das Durchgangszimmer zu nehmen, ohne zu merken, dass es einen Balkonzugang hat. In der folgenden Feedbackrunde – Mitspieler schieben einander verdeckt Zuschreibungskarten zu – wird mir unterstellt, ich hätte die anderen manipuliert und mir das beste Zimmer genommen. Dafür gibt es eine weitere Boshaftigkeitskarte. Bei manchen Spielen kann man ungeliebte Karten loswerden oder verdoppeln, immer gibt es Feedbackrunden. Für "Hat Emotionen gezeigt" bekomme ich eine Aufrichtigkeitskarte. Kein Wunder, ich war ja kurz vorm Heulen. Dem Programmzettel nach untersucht das Performancekollektiv Interrobang, bestehend aus Nina Tecklenburg, Till Müller-Klug und Lajos Talamonti, die "Therapeutisierung" aller Lebensbereiche. In Wahrheit gleicht "Total Therapy" einem knallharten Charaktertest. Sich ungewollt vor Fremden entblößen und dafür gut sichtbar mit Spielkarten bewertet werden, das wirkt wie Germany’s Next Topmodel für Küchenpsychologen. Ausnahmsweise werden die von Theaterwissenschaftlern gern zitierten Feedbackschleifen entsetzliche Realität. Nennen wir es trotzdem mal Theater. Es ist eines, das lange nachwirkt.

Die Wahrheit über Arno

Im Gegensatz dazu kühlt die Beziehung von Arno und mir spürbar ab, als ich sein Angebot zu knutschen ausschlage. Dabei hat er seine Sache sehr gut gemacht. Wollten wir nicht am Sonntag zusammen Maronensuppe kochen? Die beängstigende Frage, ob wir uns zukünftig Quality Time erkaufen, verhandeln The Agency auf eine Weise, dass man als zahlender Agenturkunde denkt: Toll, da kriegt man was für sein Geld! Wirklich, wirklich gut wird es beim Abschied. Kurz zuvor haben Arno und ich die Zeche geprellt, was nur halb stimmt, weil ich unsere beiden Drinks vorher als Bonusleistung gebucht und bezahlt habe. Für ein bisschen Bonny-und-Clyde-Feeling. Er heiße ja gar nicht Arno, sagt er, der in Wirklichkeit Daniel Hellmann heißt. Unabhängig von unserem gespielten Paar-Sein habe er etwas gespürt. Ob er mir seine Nummer geben dürfe? Ich lehne dankend ab. Welche Wendungen diese Form von Theater nimmt, sollen andere erkunden. Zum Beispiel mit dem ebenfalls zu mietenden Playmate. Im Preis von 920 Euro mitinbegriffen: Abendessen, Nackt-Frühstück im Bett und Deep Talk.



Festival Save you Soul

Total Therapy

Konzept: Interrobang. Bühne und Kostüm: Silke Bauer. Musik: Friedrich Greiling. Von und mit: Bettina Grahs, Lisa Großmann, Kaja Jakstat, Elisabeth Lindig, Till Müller-Klug, Lajos Talamonti, Nina Tecklenburg.
Dauer: 2 bis 2 1/2 Stunden

Quality Time
Konzept: The Agency (Magdalena Emmerig, Yana Thönnes, Rahel Spöhrer). Mit: Dorian Fabini, Heinrich Horwitz, Daniel Hellmann, Fabian Stumm, Armin Wieser, Pascal Schaefers.
Dauer: 30 Minuten

Angstpiece
Konzept, Text, Bühne, Sound: Anta Helena Recke, Julia*n Meding. Regie: Anta Helena Recke. Dramaturgie: Joy Kristin Kalu, Annett Hardegen. Kostüm: Mascha Mihoa Bischoff. Mit: Julia*n Meding.
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten
Das Festival läuft vom 9. bis 17. November 2018

www.sophiensaele.com

 

Mehr dazu: in der taz (19.11.2018) besprach Astrid Kaminski das Programm des Festivals.

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