Das sogenannte Menschenmögliche

von Claude Bühler

Basel, 16. November 2018. Der Schmerz als archaisches Grundmotiv, dass wir, was uns am Kostbarsten ist, nicht schützen können, habe sie beim Wiederlesen mehr getroffen als der Kriminalroman an sich, sagt Nora Schlocker im Programmheft. Uns diesen Schmerz frisch fühlbar zu machen, lässt die Regisseurin ab Einlass eine Gruppe Kinder auf der Bühne herumtollen. Wir, die wir alle wissen, dass es in Dürrenmatts Roman von 1958 um einen Kindsmord geht, lassen uns die Ohren mit Kieksern, Schreien, Gesängen füllen, sehen die schutzlosen, weißen Ärmchen und fröhlich hüpfenden Körperchen, erleben die ungestüme, ungebremste Lebensenergie.

Kommando der Erwachsenen

Und wenn nach einer Abblende die Erwachsenen die Leiche des Gritli Moser umstehen und die Kinder hinter einer Scheibe von weitem den Ermittlern zusehen, so fühlt man zwar sofort, wie nun die Macht der Erwachsenenwelt das Kommando übernommen hat, aber zugleich deren Ohnmacht, dass sie nämlich immer zu spät kommt: dann, wenn es schon passiert ist. Und auch ab da regieren nur persönliche Grenzen. Wachtmeister Henzi, der später in einem Verhör einen verdächtigten Hausierer derart zur Schnecke machen wird, dass dieser sich erhängt, bringt als Ermittler nicht den Mumm auf, das tote Gritli zu betrachten.

das versprechen2 560 Sandra Then uKinder spielen hinter der Verhörscheibe, bis sich die Macht der Erwachsenenwelt durchsetzt
in "Das Versprechen" © Sandra Then

Die in betont lässiger Haltung auftretende Kommandantin schwafelt vor der Medienmeute von Beweisen und Rechtsstaatlichkeit, lässt aber das vorschriftswidrige Verhör zu und schließt den Fall ohne weitere Nachforschungen ab: Der Hausierer war es. Als Kommissar Matthäi auf eigene Faust weiter ermitteln will, legt sie ihre wirklichen Prinzipien offen: das sogenannte "Menschenmögliche", das man getan habe, die hohe "Wahrscheinlichkeit" der Indizienlast. Unter diesen begräbt sie später andere Indizien, die auf den wahren Mörder weisen, als dieser nicht gleich in eine gestellte Falle tappt.

Doppelter Übergriff

Dass auch Matthäi scheitert, selbst wenn er die richtige Spur verfolgte, zelebrierte Dürrenmatt zynisch als notwendige Inversion plötzlich freigesetzter Kräfte: Der analytisch brillante, humorlose Biedermann, der sich übermütig als quasi-idealistischen Hobby-Profiler über die Beamtenkollegen hinwegsetzt, und sich, weil der Fang misslingt, als Trinker bis zur Verblödung zugrunde richtet. Aber statt von Gefangenen wie Dürrenmatt – sei es die Beamtenträgheit oder Matthäis Getriebenheit - berichtet Schlocker von Handelnden, die vielleicht auch anders könnten.

das versprechen3 560 Sandra Then uErmittler und ihr Täter: Urs Jucker, Cathrin Störmer, Michael Wächter, Steffen Höld
© Sandra Then

Sie braucht keinen Kindermörder wie etwa den genialen Gert Fröbe in der Verfilmung 1957 "Es geschah am hellichten Tag". Auf einer Spur sich dauernd fortzeugenden Schmerzes stellt Schlocker die anderen ins meist gleißend weiße Licht, die die Kinder in gewisser Weise auch ohne Rasiermesser verstümmeln. Sie zeigt uns etwa den gedoppelten Übergriff, wie die Mutter die Hand von Matthäi auf den eingesargten Körper des toten Gritli zieht und der Leiche zuraunt, er habe das Versprechen gehalten und den Mörder gefasst. Sie frappiert uns mit dem Bild, wie Matthäi die kleine Annemarie mit nackten Beinen auf den Schoß nimmt, mit ihr herumalbert, sie küsst – obwohl er sie nur als Köder für den Mörder missbraucht.

Fast märchenhaft distanziert

Als würde eine Vorahnung hochstoßend seinen Redefluss stocken lassen, erklärt Matthäi einer Schulklasse den Mord an Gritli: "Alle Männer sind krank – die so etwas tun". Mit kühlem und noblem Gestus fesselt uns Schlocker 100 Minuten lang mit ihrer Lesart der clever gebauten Spannungsgeschichte, die man schon längst zu kennen glaubt.

Wir bewegen uns jedoch dauernd in einer sinnierenden, dünnen Sphäre. Das Geheimnis der Figuren interessiert nicht mehr, wenn alles, was sie in der Summe tun, eine These formuliert. Selbst bei Matthäi gibt es keinen Entwicklungsbogen. Der starke Einsatz von Sinnbildern, die hörspielartig eingesetzte Tonspur mit Kindergesängen oder Waldgeräuschen, eine quer über die Bühne gezogene Scheibenwand drängen die Geschichte ins distanziert Märchenhafte. Die meist direkt aus Dürrenmatts Text übernommenen länglichen Exkurse eignen sich nicht alle gut für die Bühne und wirken im Spiel manchmal etwas wackelig.

Späte Enthüllung

Umso plastischer wirkt jedoch der Epilog, wenn die alte Frau Schrott im Pflegeheim in ihren sich wiederholenden Dauermonologen die Mordgeschichte vor einer Krankenpflegerin auflöst. Die grimmige Pointe: Dass Matthäi recht hatte, erfährt also nicht mal ein Ermittlungsbeamter wie bei Dürrenmatt. Die Enthüllung geht völlig ins Leere. Wenn Carina Braunschmidt in einem Wutexzess in breitem Zürich-Deutsch losballert, kriegt der Abend, was ihm sonst fehlt: kernige Direktheit, die über die Rampe kommt.

 

 

Das Versprechen
Requiem auf den Kriminalroman in einer Bearbeitung von Nora Schlocker und Carmen Bach
Regie: Nora Schlocker, Bühne und Kostüme: Marie Roth, Komposition: Marcel Blattli, Licht: Cornelius, Hunziker, Dramaturgie: Carmen Bach.
Mit: Ricarda Becher, Carina Braunschmidt, Steffi Friis, Steffen Höld, Urs Jucker, Ellen Reichen, Irma Seiler, Cathrin Störmer, Michael Wächter, Simon Zagermann, Mädchen- und Knabenkantorei Basel, Statisterie Theater Basel.
Premiere am 16. November 2018
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.theater-basel.ch

 

Mehr Inszenierungen von Dürrenmatts "Das Versprechen" der jüngeren Zeit: Tilmann Köhler inszenierte es im April 2017 im Spiegelbühnenbild in Düsseldorf, Daniela Löffner 2012 im Schauspielhaus Zürich.

 

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