Enthaltsame Lovestory

von Benno Schirrmeister

Oldenburg, 17. November 2018. Wirklich sehr schön ist jener Moment im elften Bild, als Artjom seinem Freund Mischa von seinem großen Traum erzählt hat: zu Voice of Russia gehen, berühmt werden, Follower haben. Und Mischa, der als Promi-Friseur in Moskau den Produzenten kennt, ziert sich erst und sagt dann schließlich doch ja, er wird Artjom dem berühmten Produzenten vorstellen, versprochen. Und Fabian Kulp, der die Hauptrolle von Dimitri Sokolows "Russian Boy" bei der Uraufführung in Oldenburg spielt, rastet total aus vor Freude darüber, und er will Fabian Felix Dott, der feinnervig und wohltuend klischeefern den Coiffeur Mischa spielt, um den Hals fallen und ihn wirklich abknutschen. Und genau in dem Augenblick überfällt wie ein Schrecken, die beiden die jähe Erkenntnis: Das geht nicht! Wenn uns jetzt jemand sieht! Das können wir nicht öffentlich machen! Nicht hier, nicht hier in Russland, nicht mal in Moskau. Und diese Einsicht lässt den Kuss im Ansatz erfrieren: "Vielleicht ist es woanders anders, aber bei uns nicht" hatte Artjom schon in einer der ersten Szenen des Abends gesagt. "Bei uns wird dir für so was der Kopf weggeschossen".

Augenblick

Dieses Entsetzen, die Erkenntnis, dass sich die beiden von ihrer Liebe haben übermannen lassen, alles um sich herum vergessen, und dadurch fast Gefahr gelaufen wären, ihre Existenzen zu ruinieren, dass sie für diesen Kuss ganz beiläufig ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben – das alles liegt in ihren Blicken und teilt sich im Bruchteil einer Sekunde mit, wenn sich die beiden jungen Darsteller anschauen. 

Russianboy1 560 Stephan Walzl uIm Kreml brennt noch Neon, schwule Liebe in Moskau: Fabian Felix Dott, Fabian Kulp  © Stephan Walzl Dieser Moment abgründiger Zärtlichkeit bildet einen Höhepunkt in Elina Finkels sonst eher spartanischen Inszenierung dieser schwulen Lovestory: Das ist ohnehin bemerkenswert. Denn Dramen, die explizit homosexuelle Liebe verhandeln, gibt es auch im Westen nicht sehr viele. Der bislang in Deutschland völlig unbekannte 35jährige Autor Sokolow hat dabei sein Stück nach eigenem Bekunden aus nur "einem einzigen Grund" verfasst: "Ich konnte nicht schweigen. Ich hatte mich zu diesem Thema zu äußern." In dem Werk sehe er "eine winzige Möglichkeit, irgendwas zu unternehmen". Konzipiert hat er dafür eine Szenenfolge, die, oft in Form von Zeugenaussagen, das Leben Artjoms Revue passieren lässt. Die Chronik reicht von seiner außerehelichen Empfängnis mit Gottes Segen irgendwo auf dem Lande, über sein Leben, Lieben und zu Klump-Gehauen-Werden in Moskau, wo er Schauspiel studiert, und in einer Gay-Sauna jobbt, erst als Aufguss-Boy, dann als Schwanzlutscher, bis hin zur strahlenden Verklärung in einem Ende, in dem sich alle aneinander erfreuen und glücklich und zufrieden leben für immerdar. Naja, das ist natürlich eher märchenhaft. Aber sonst wäre halt alles so ausweglos und trüb.

Russianboy3 560 Stephan Walzl u Vor Elena Bulochnikovas "Nicht-Kulisse": Johannes Schumacher, Fabian Felix Dott, Agnes Kammerer, Fabian Kulp, Helen Wendt  © Stephan Walzl

Denn überall wo die Liebe versucht aufzublühen, wird sie durch die äußeren Zwänge, durch die Heimlichkeit zunichte gemacht. Arjom kann sich seiner Mutter Ljudmilla nicht anvertrauen, die Helen Wendt als aufopferungsvolle, aber auch irgendwie resolute Person gibt. Mischa muss seine schwangere Frau Lena betrügen, um glücklich zu sein: Agnes Kammerer versucht, leider völlig temperamentlos, deren Empörung darzustellen, als sie davon erfährt. Später stirbt dann Mischa und dass Artjom sich um ihren Sohn so rührend kümmert und mit dem Baby so nett spielt, macht Lena einfach nur Angst und sie schickt ihn weg: "Ich meine, was ist, wenn das doch ansteckend ist? Man weiß es ja nicht."

Die Erfüllung lebt als Möglichkeit

Fast wirkt das alles wie eine szenische Lesung. Den Verzicht auf Erfüllung und auf Sinnlichkeit, den das Stück thematisiert, hat Finkel zum Konzept gemacht und verzichtet darauf, die Bilder sinnlich werden zu lassen. Hie und da versetzt Helen Wendt die Geschichte mit einer recht diskreten Choreografie in Schwingung. Elena Bulochnikova hat an die nackten Ziegelwände der Spielstätte eine Nicht-Kulisse aus Leuchtschläuchen installiert, die mal in den Nationalfarben Weiß, Blau und Rot Russlandstereotype zitieren, mal als Schriftzug Schauplätze wie Bar oder Sauna indizieren. Sex kommt vor, aber eher am Rande, wo Mischa, noch bevor er in Artjoms Leben tritt, mit dem gut gebauten Johannes Schumacher fummelt, dem Erzähler, der die ausführlichen und kommentierenden Szeneanweisungen spricht. Finkel verhilft durch ihre Enthalsamkeit und die disziplinerte Arbeit mit den Spieler*innen dem Text zu seinem Recht. Und das ist gut, denn in ihm leben die Fantasien, die erotischen Träume, das Glück, die Erfüllung als Möglichkeit. Die Wirklichkeit muss erst noch folgen.

 

Russian Boy
von Dmitri Sokolow
aus dem Russischen von Elina Finkel
Uraufführung
Regie: Elina Finkel, Bühne und Kostüme: Elena Bulochnikova, Choreografie: Helen Wendt, Dramaturgie: Marc-Oliver Kramp.
Mit: Fabian Kulp, Fabian Felix Dott, Agnes Kammerer, Helen Wendt, Johannes Schumacher.
Premiere am 17. November 2018
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.oldenburgischesstaatstheater.de

 

Kritikenrundschau

"Regisseurin Elina Finkel hat das Stück aus kleinen Fragmenten zusammengesetzt und führt die Zuschauer durch Artjoms (Fabian Kulp) Leben", so die Kritik in der Kreiszeitung (19.11.2018). Wie in einem Kaleidoskop ergebe sich je nach Betrachtung ein neues Bild. "Der Fokus liegt auf der Personage, die Ausstattung begnügt sich mit ein paar Requisiten und grellen Leuchtröhren an der Wand." Fazit: "Ein intensiv gespielter, emotionaler Abend, der nachhallt. Großer Applaus und ein zu Tränen gerührter Autor. Mit 'Russian Boy' ist er seinem Wunsch, über das eigene, stets zu verheimlichende Glück in aller Offenheit zu berichten, einen Schritt näher gekommen – wenn auch nicht in Russland."

"'Jeder hier möchte bloß glücklich sein.' Es gelingt nur keinem", schreibt Achim Engstler in der Nordwest-Zeitung  (19.11.2018). Das von Elena Bulochnikova gestaltete Bühnenbild strahle minimalistischen Charme aus: "ein paar Lichtschläuche an den Wänden, die in knapper Symbolik den Ort der jeweiligen Szene bezeichnen. Ein Blütenteppich als Spielfläche, Rosenblüten, deren Rot für Leben, Toleranz und Liebe steht." 

 

 

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