Leider ungeil

von Gerhard Preußer

Dortmund, 1. November 2018. Ein roter Theatervorhang mit barocker Verzierung. Davor eine Madame Pernelle, die offensichtlich ein Monsieur ist (Uwe Schmieder). Sie posaunt eine fulminante Rede zur Verteidigung des Glaubens ins Publikum. Glauben auch für Atheisten. Denn Glaube steigert das subjektive Wohlbefinden. "Glaube ist reales geistiges Kapital." Familie Orgon hört genervt zu. Das ist aber auch schon die intelligenteste Satire auf die Gegenwart, die Gordon Kämmerers "Tartuffe" im Dortmunder Schauspiel zu bieten hat.

Molières Komödie über den Frömmler Tartuffe, der seinen Gastgeber und Gönner Orgon um Haus und Hof bringt, aber dann als sexhungriger Scharlatan entlarvt wird, war zu ihrer Entstehungszeit im 17. Jahrhundert eine gefährliche Attacke. Denn die katholische Kirche hatte unbeschränkte Macht in einem Frankreich, in dem die regierenden Minister Kardinäle waren. Sich heute über Religion und Sex zu ereifern, ist eine leichte Übung.

Sex oder Glaube?

Kämmerer benutzt neben der aktualisierenden Übersetzung von Luc Bondy und Stefan Jungk, die 2013 für eine Wiener Inszenierung entstand, einige Passagen aus PeterLichts radikaler Molière-Überschreibung Tartuffe oder Das Schwein der Weisen, die vor kurzem in Basel über die Bühne getrieben wurde. Diese Licht'schen Dialoge, die ganz dicht über den Molièreschen schweben, aber kaum mit ihnen verbunden sind, gehören zu den besten Szenen des Dortmunder Abends: Damis, der blindwütige Sohn Orgons (Christian Freund), schleudert Mme. Pernelle, die Tartuffe "geil" findet, entgegen: "Es gibt kein geiles Leben im Ungeilen!"

Oder der Überredungsdialog, in dem Vater Orgon (Uwe Rohbeck) seiner Tochter Mariane (Merle Wasmuth) die Heirat, genauer "Zurverfügungstellung" ihres Körpers im Kontext ihrer "Lebensführung als ganzheitliches System", mit Tartuffe (Björn Gabriel) verkündet. Dann folgt statt des Dialogs zwischen der Zofe Dorine (Marlena Keil) und Mariane über die Heiratspläne eine stumme Szene. Marianne würgt, gurgelt, ächzt, Dorine schreit. Alles ohne Worte, pure unartikulierte Emotion.

Tartuffe 2 560 BirgitHupfeld uStoßgebete vs. Schoßgebete © Birgit Hupfeld

Nach diesem langen Vorgeplänkel geht der Vorhang hoch und die Inszenierung kommt zu ihrem eigentlichen Thema: Sex ist wichtiger als Glaube. Zwei übermenschlich große Amor-Putten kreisen auf der Drehbühne, dazwischen steht der Wohnwagen Tartuffes. Seine beiden ballettgestählten Diener, die Laurents, üben sich in diversen pantomimischen Kopulationsvarianten. Tartuffe steigt auf das Wohnwagendach. Dort steht er dann im weißen Guru-Gewand mit priesterlicher Schärpe in segnender Gebärde wie der Christus von Rio.

Nachdem Orgon sein gesamtes Vermögen an Tartuffe übertragen hat, amüsiert sich dieser in einer wortlosen Szene nur prustend, lallend, die vorherige Szene nachspielend, über Orgons Dummheit und Vertrauensseligkeit. Dieser Frömmigkeitsdarsteller vergewissert sich immer wieder mit koketten Seitenblicken, ob das Publikum auch dasselbe Vergnügen an der Täuschung hat wie er. Das stört die Molièresche Dramaturgie. Tartuffe darf auch gegenüber dem Publikum nicht die Maske fallen lassen. Sonst verliert der plötzliche Schluss mit seiner doppelten Wendung – erst scheinbare Verhaftung Orgons, dann tatsächliche Verhaftung Tartuffes – seine komische Fallhöhe.

Fünf Minuten Freude

Um Tartuffe zu überführen, wagt sich Orgons Frau Elmire (Bettina Lieder) in den Wohnwagen. Was drinnen geschieht, sieht man als Projektion auf der Außenwand der rollenden Verrichtungsbox. Elmire dreht mächtig auf, fällt über den zwar willigen, aber überraschten Scheinheiligen her. Die Kopulationsvorbereitungen sind bizarr. Tüffi spielt Panflöte mit Elmis Fußzehen. Nur hier erreicht die Inszenierung wirklich das Niveau der Groteske. So kann dann der nun auf dem Dach stehende Orgon die Anbahnung beobachten.

Der so willkürlich gewaltsame Komödienschluss – Molières Verbeugung vor Ludwig XIV. – kommt in Dortmund ziemlich trocken daher. Die rettende Botschaft, die den bigotten Familientyrann Orgon exkulpiert, wird in starrer Rhythmik vom Dortmunder Sprechchor, einer Versammlung von etwa 40 älteren Damen, verkündet. Aber dann bricht der Jubel los und ist nicht mehr zu halten. Damit das Ganze wenigstens 90 Minuten dauert, gibt es noch einen fünfminütigen, durchchoreographierten Freudentanz nicht nur der Familie Orgon, sondern aller Schauspieler und Schauspielerinnen.

Kämmerer variiert geschickt die Mittel: Rede an der Rampe, allegorisches Bild in der Bühnentiefe, Tanz und Video – alles da. Aber zur Satire hat seine Inszenierung nicht die Kraft, nur zum peinlichen Gelächter.

 

Tartuffe
von Molière
Deutsch von Luc Bondy und Peter Stephan Jungk, mit vier Passagen aus PeterLichts "Tartuffe oder Das Schwein der Weisen"
Regie und Bühne: Gordon Kämmerer, Mitarbeit Bühnenbild: Christiane Thomas, Louisa Robin, Kostüme: Vanessa Rust, Musik: Max Thommes, Videoart: Tobias Hoeft, Leitung Sprechchor: Uwe Schmieder, Choreografie: Laura Witzleben, Licht: Stefan Gimbel, Dramaturgie: Anne-Kathrin Schulz.
Mit: Uwe Schmieder, Uwe Rohbeck, Merle Wasmuth, Christian Freund, Bettina Lieder, Ekkehard Freye, Marlena Keil, Björn Gabriel, Kevin Wilke, Frieder Langenberger, Mario Lopatta, Bérénice Brause, Dortmunder Sprechchor.
Premiere am 2. November 2018
Dauer 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.theaterdo.de

 

Kritikenrundschau

"Einen rasanten, scharfsinnigen Abend" hat Ralf Stiftel gesehen und schreibt im Westfälischen Anzeiger (3.12.2018): "Knapp anderthalb muntere Stunden braucht Kämmerer für Aufstieg und Fall des moralischen Hochstaplers, und dabei wendet er noch gut zehn Minuten auf die Tanzeinlagen und weitere Zeit auf kleine philosophische Exkurse." Durch die Einarbeitung der Tartuffe-Paraphrase von PeterLicht "suhlen die Akteure sich in einem Jargon der Uneigentlichkeit und der Ungenauigkeit. 'Geil' und 'ungeil' werden zu allgegenwärtigen Etiketten." "Ohne das furiose Ensemble würden diese Unschärfen nicht funktionieren", ist Stiftel überzeugt: "Die Darsteller kleiden Anspielungen in bizarre Umschreibungen, so dass sie nichts aussprechen müssen, sondern alles durch Betonung sagen."

Kämmerer sorge für starke Momente, so Arnold Hohmann in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (3.12.2018). "Manchmal ein wenig zu laut, am Ende auch ein wenig zu viel des choreografierten Tanzens – ansonsten aber: ein höchst kurzweiliger Abend!"

"Wenn schon Krawall-Comedy, dann aber gepfeffert" – Kai-Uwe Brinkmann hat, so ist den Ruhr Nachrichten (3.12.2018) zu entnehmen, "eine schrille, laute, temporeiche Farce" gesehen, die "konsequent und mit Lust in die Vollen geht und dabei Hysterie und Energie einer durchgeknallten Sitcom versprüht". Obwohl Kämmerer mit Kasperletheater und Schmierenkomödie jongliere, fange er das Stück immer kurz vor der Vollklamotte ab.

 

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