Mut und Gnade – Luk Percevals kompromissloser Abend über die Liebe und das Sterben am Schauspiel Frankfurt

Ein Mensch stirbt

Ein Mensch stirbt

von Shirin Sojitrawalla

Frankfurt, 1. Dezember 2018. Auf Theaterbühnen wird erstaunlich oft gestorben, und erstaunlich selten geht es ums Sterben selbst, geschweige denn um das Sterben an Krebs. Ja, gewiss, Christoph Schlingensief. Und sonst? Luk Perceval gelingt in Frankfurt jetzt ein Abend, der kraftvoll und kompromisslos vom Sterben und am Krebs Krepieren erzählt.

Zugrunde liegt ihm das Buch "Mut und Gnade" von Ken Wilber, dessen spät entdeckte große Liebe Treya Killam kurz nach ihrem Kennenlernen Brustkrebs diagnostiziert bekommt. In dem Buch vollziehen sie abwechselnd in Tagebucheintragungen, Briefen und Notizen ihren erfolglosen Kampf gegen den Krebs.

MutGnade 1 560 RobertSchittko uExistenzielle Kämpfe mit den Elementen: auf der Bühne von Philip Bußmann © Robert Schittko

Wilber ist ein Guru der Bewusstseinsforschung und Vertreter der Neuen Psychologie. Wilber und Treya Killam haben eine ausgeprägte spirituelle Ader, meditieren und befragen ihre Ichs und Egos umfänglich. Es ist ein Buch übers Menschsein und übers Nicht-sterben-Wollen, über Liebe und Tod. In manch einem Yogastudio kreist es wie ein Joint. Ein bisschen riecht es nach Patschuli, literarisch gibt es nicht viel her.

Wiedergänger aus dem Totenreich

Luk Perceval und Marion Tiedke haben eine Bühnenfassung erarbeitet, die die Flachheiten des Buchs einfach beiseite lässt und sich auf die Stärken des Textes besinnt. Es sprechen ihn vier Schauspielerinnen und vier Schauspieler. Das allein wäre freilich noch nicht der Rede wert. Der Bühnenkünstler Philip Bußmann, der für die Wooster Group und die Forsythe Company, aber auch für Ulrich Rasche arbeitet, hat ein raumgreifendes schwarz umrandetes, knöcheltief mit Wasser gefülltes Bassin ins Bockenheimer Depot gestellt. An der Vorderseite baumeln Mikrophone etwa einen Meter über dem Wasser.

Zu Beginn stellen sich die Schauspieler*innen in einer Reihe auf den hinteren Rand des Bassins und schauen geradeaus ins Publikum. Sie tragen Allerweltskleidung, und das Wasser liegt so still und schwarz vor ihnen wie eine Grabplatte. Darin spiegeln sich die Umrisse der Acht wie Wiedergänger aus dem Totenreich. Wenig oder viel später beginnen sie zu lachen, aus vollem Halse und als Zuschauer*in weiß man nicht, ob man das doof oder sonst wie finden soll. Dann schmeißen sich alle ins Wasser, Stagediving für Fortgeschrittene. Es spritzt, platscht und sprudelt aus allen Ecken, wie immer mal wieder an diesem Abend. Die Spieler*innen begeben sich ins Nass, kämpfen und verlieren sich darin, tanzen und verrenken sich, erleben orgiastische, verzweifelte, innige, genervte und tödliche Momente darin. Das Wasser als Entstehungsort allen Lebens, aber auch als ein für den Regisseur Luk Perceval persönlich wichtiges Element.

MutGnade 2 560 RobertSchittko u© Robert Schittko

Dabei ist Wasser natürlich immer ein Hingucker. Springbrunnen leben davon, und Kinder juchzen, wenn sie in Pfützen treten, bis ihnen das Wasser in die Nasenlöcher spritzt. Man denke auch an Pina Bauschs Tanztheaterstück "Vollmond". So sind es nicht zuletzt die spektakulären Schauwerte, von denen auch die Inszenierung von "Mut und Gnade" lebt. Man schaut einfach gerne hin, selbst wenn es mal anstrengend oder fade wird.

Mit den  Dämonen ringen

Hinzu kommt die Offenheit und Konsequenz von Perceval, seinem Team und Ensemble, sich der spirituellen Ebene des Buches zu stellen. Er selbst praktiziert Yoga und Meditation und hat auch die Proben mit Achtsamkeitsyoga angereichert, wie aus dem Programmheft zu erfahren ist. Und wie im Yoga ist das Atmen auch für seine Inszenierung wichtig. Mal schnaufen sich die Schauspieler*innen in eine Erregung hinein, dann tönen sie als sänge ein Mönchschor Om, dann stöhnen sie im Takt, dann jammern sie morphiumgedopt, dann atmen sie ein und nie mehr aus.

Alle Frauen verkörpern Treya und alle Männer verkörpern Ken. In unterschiedlichen Stimmungen, Zuständen, Temperaturen, Haltungen. Die Frauen stehen die meiste Zeit im Zentrum, erst in der letzten Stunde erhält der Mann mehr Kontur. Das Bild der sterbenskranken Frau setzt sich aus der kapriziösen Robustheit von Patrycia Ziolkowska, der quirligen Mädchenhaftigkeit von Luana Velis, den mickjaggerhaften Ausnahmezuständen von Katharina Bach und der berührenden Transparenz von Claude De Demo zusammen. Die Männer geben an ihrer Seite kerngesund Liebende, fürsorglich erst, genervt später, am Rande ihrer eigenen Existenz und mit den eigenen Dämonen ringend wie ihre Frau.

Und dann: gespenstische Stille

Musik gibt es die meiste Zeit schönerweise nicht, außer Wassermusik, dann einmal Mozart, einmal weißes Rauschen, einmal ein schneidendes Geräusch und sehr oft, ungewöhnlich lange, gespenstische Stille. Die Welt hält den Atem an. Ein Mensch stirbt. Es ist zum Heulen. Eine exemplarische Geschichte, unerbittlich und bitter. Aber immer wieder auch betont hochgestimmt. Ein Wechselbad. Alles, was man dagegen einwenden könnte, ließe sich auch gegen das Leben einwenden.

 

Mut und Gnade
Eine wahre Geschichte über Liebe und Tod von Ken Wilber
Deutsch von Jochen Lehner
Bühnenfassung von Marion Tiedtke und Luk Perceval 
Regie: Luk Perceval, Bühne: Philip Bußmann, Kostümbild: Ilse Vandenbussche, Choreographie: Ted Stoffer, Dramaturgie: Marion Tiedtke.
Mit: Katharina Bach, Claude De Demo, Sebastian Kuschmann, Rainer Süßmilch, Luana Velis, Andreas Vögler, Uwe Zerwer, Patrycia Ziolkowska.
Premiere: 1. Dezember 2018
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, keine Pause

www.schauspielfrankfurt.de

Kritikenrundschau

"Wer das Spaßbad haben will, darf den Tauchgang nicht fürchten: So zeigt es die Wasserfläche, mit und auf der Luk Perceval 'Mut und Gnade' inszeniert hat. Es ist ein mutiger Abend", schreibt Eva-Maria Magel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (3.12.2018). Perceval gebe sich alle Mühe, die brutale Realität der Krankheit Krebs zu transzendieren und so, ein künstlerisches Paradox, das Unfassbare daran fassbar zu machen. Aus den acht Körpern seiner Darsteller und dem immensen Raum schaffe er abstrakte und zugleich physisch intensive Bilder, "deren überbetonter Stille und Wucht man sich auch dann nicht entziehen kann, wenn man eigentlich gar keine Lust mehr hat, hinzusehen". Denn bisweilen sei das Scheitern sehr nah, vor allem wenn Percevals Inszenierung beinahe überschnappe im Auskosten all der Atemgeräusche und röchelnden Leidensbeschreibungen.

"Knöcheltief steht das Wasser, aber die Beteiligten werfen sich auch voll rein. Dem Gerutsche, Geplatsche und Gespritze folgen Phasen völliger Ruhe, bei denen sich auch das Wasser wieder bis zum Spiegelglatten beruhigt", so Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (3.12.2018). Der wenige Text führ sehr knapp durch die Stationen der Krankheiten, "parallel dazu das Hadern und die Frage nach dem Warum, schließlich das Loslassen". Der Abend ziele auf eine körperliche Verausgabung, "die hingebungsvoll geliefert wird". Gearbeitet werde mit den Mitteln der Schauspielerei. "Desto länger der Abend dauert, umso deutlicher wird das. Zu sehen sind aus dem Geist und der Praxis der Improvisation entwickelte Variationen von Gefühlsausdrücken und den letztlich begrenzten Bewegungsspielräumen von Menschen im flachen Wasser."

"Mut und Gnade" sei vordergründig eine Leidensgeschichte, die sich in einer Liebesgeschichte spiegelt, findet Natascha Pflaumbaum in Fazit auf DLF Kultur (1.12.2018). Vielmehr "ist der Abend ein Plädoyer für Spiritualität. Ihm geht es um einen wesentlichen Moment im Sterbeprozess: um das 'Loslassen'." Fazit: "Perceval schafft es mit dieser Arbeit, die spirituelle Dimension des Sterbens offenzulegen. Ohne Kitsch, ohne Pathos, ohne Esoterik. Es ist mitunter ein bisschen Theater als Therapie, was er macht, aber am Ende doch eher ein Angebot, sich auf etwas einzulassen, vor dem man allzu gern die Augen verschließt."

Percevals "Mut und Gnade" sei "ein zutiefst existenzielles Stück geworden, es erzählt vom Dahinschlummern und Abkratzen und dem Unvermögen, beiden Varianten des Sterbens in irgendeiner sinnvollen Weise gerecht zu werden", schreibt Anton Rainer in der Süddeutschen Zeitung (11.12.2018). Perceval finde "eindringliche, wirkungsvolle Bilder", stärker "als die oft plattitüdenhafte Textfragmente der Vorlage". Selbstironie und Tiefsinn entstünden durch Percevals dramatische Übersetzung. "Eine zermürbende Arbeit mit ästhetischem Mehrwert ist das, die – meistens jedenfalls – über dem Kitsch steht."

 

mehr nachtkritiken